Wladimir I. Lenin: Rede über Krieg und Frieden 7. März [„Siebenter Parteitag der KPR(B) Stenographischer Bericht. 6.–8. März 1918. 1923. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 343-367] Der politische Bericht könnte aus der Aufzählung der Maßnahmen des ZK bestehen, aber im gegenwärtigen Augenblick ist nicht ein solcher Bericht notwendig, sondern ein Überblick über unsere Revolution in ihrer Gesamtheit. Nur ein solcher Überblick kann die einzige marxistische Begründung für alle unsere Beschlüsse liefern. Wir müssen den ganzen bisherigen Entwicklungsgang der Revolution analysieren und erklären, warum ihre weitere Entwicklung sich geändert hat. In unserer Revolution haben wir Wendepunkte, die für die internationale Revolution von gewaltiger Bedeutung sein werden. Ich meine die Oktoberrevolution. Die ersten Erfolge der Februarrevolution waren dadurch bedingt, dass dem Proletariat nicht nur die Bauernmasse, sondern auch die Bourgeoisie Gefolgschaft leistete. Daher die Leichtigkeit des Sieges über den Zarismus, den wir im Jahre 1905 nicht zu erringen vermochten. Die eigenmächtige, spontane Schaffung der Arbeiterräte in der Februarrevolution wiederholte die Erfahrung von 1905. Wir proklamierten das Prinzip der Sowjetmacht. Die Massen lernten auf Grund ihrer eigenen Kampferfahrung die Aufgaben der Revolution verstehen. Die Ereignisse vom 3.– 4. Mai (20.–21. April) waren eine eigenartige Kombination von Demonstration und einer Art bewaffneten Aufstandes. Das genügte zum Sturz der bürgerlichen Regierung. Es beginnt eine langwierige Kompromisspolitik, die sich aus dem ganzen Wesen der am Ruder stehenden kleinbürgerlichen Regierung ergab. Die Juliereignisse waren noch nicht imstande, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen. Die Massen waren noch nicht vorbereitet. Deshalb hatte auch keine einzige verantwortliche Organisation dazu aufgefordert. Aber als Auskundschaftung des feindlichen Lagers hatten die Juliereignisse eine gewaltige Bedeutung. Die Kornilowiade und die späteren Ereignisse, als praktische Lehren, machten den Oktobersieg möglich. Der Fehler derjenigen, die auch im Oktober die Macht teilen wollten, bestand darin, dass sie den Oktobersieg nicht mit den Julitagen, der Offensive, der Kornilowiade usw. usw. in Verbindung brachten, was die Millionenmassen zu der Erkenntnis geführt hatte, dass die Sowjetmacht unvermeidlich geworden war. Dann folgte unser Triumphzug durch ganz Russland, der vom Streben aller nach Frieden begleitet war. Wir wussten, dass wir durch einen, einseitigen Verzicht auf den Krieg keinen Frieden erlangen werden. Darauf haben wir bereits auf der Aprilkonferenz hingewiesen. Die Soldaten erkannten in der Zeit vom April bis zum Oktober ganz klar, dass die Kompromisspolitik den Krieg in die Länge zieht, zu tollen, sinnlosen Versuchen der Imperialisten führt, Offensiven zu eröffnen, sich in den Krieg noch tiefer zu verwickeln, der sich hätte Jahre hinziehen können. Unter diesen. Verhältnissen musste man um jeden Preis möglichst schnell zu einer aktiven Friedenspolitik übergehen, mussten die Sowjets die Macht übernehmen und den Großgrundbesitz restlos beseitigen. Ihr wisst, dass nicht nur Kerenski, sondern auch Awksentjew den Großgrundbesitz unterstützten und dass sie dabei soweit gingen, dass sie sogar die Mitglieder der Landkomitees verhafteten. Und diese Politik, diese Losung: „Die Macht den Räten", die wir in das Bewusstsein der breitesten Volksmassen einpflanzten, gab uns im Oktober die Möglichkeit, in Petersburg so leicht zu siegen, und verwandelte die letzten Monate der russischen Revolution in einen einzigen Triumphzug. Der Bürgerkrieg ist zur Tatsache geworden. Was wir zu Beginn der Revolution und sogar zu Beginn des Krieges voraussagten und was damals ein erheblicher Teil der sozialistischen Kreise mit Misstrauen oder sogar mit Spott aufnahm, nämlich die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, ist am 7. November (25. Oktober) 1917 für eines der größten und rückständigsten Länder, die am Kriege teilgenommen haben, zur Tatsache geworden. Es zeigte sich, dass die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung in diesem Bürgerkrieg auf unserer Seite stand, deshalb fiel uns dieser Sieg so außerordentlich leicht. Die von der Front zurückkehrenden Truppen brachten, wohin sie nur kamen, die größte revolutionäre Entschlossenheit mit, der Kompromisspolitik ein Ende zu bereiten, und die kompromisslerischen Elemente, die weiße Garde, die Gutsbesitzersöhnchen verloren jede Stütze in der Bevölkerung. Der Krieg gegen sie verwandelte sich allmählich, mit dem Übergang der breiten Massen und der gegen uns eingesetzten Truppenteile auf unsere Seite, in einen Triumphzug der Revolution, Das sahen wir in Petersburg, an der Gatschinafront, wo die Kosaken, die Kerenski und Krassnow gegen die rote Hauptstadt zu führen versuchten, schwankend wurden, das sahen wir dann in Moskau, in Orenburg, in der Ukraine. Über ganz Russland ergos sich die Welle des Bürgerkrieges, und überall siegten wir mit ungewöhnlicher Leichtigkeit, eben, weil die Frucht herangereift war, weil die Massen bereits die ganze Erfahrung der Kompromisspolitik mit der Bourgeoisie .durchgemacht hatten. Die Losung „Alle Macht den Räten" war von den Massen durch eine lange historische Erfahrung praktisch erprobt worden, war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Deshalb waren die ersten Monate der russischen Revolution nach dem 7. November (25. Oktober) 1917 ein einziger Triumphzug. Infolge dieses einzigen Triumphzuges wurden die Schwierigkeiten, auf die die sozialistische Revolution sofort stieß und stoßen musste, vergessen und in den Hintergrund gedrängt. Einer der Hauptunterschiede zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Revolution besteht darin, dass sich für die aus dem Feudalismus erwachsende bürgerliche Revolution allmählich im Schoße der alten Ordnung die neuen Wirtschaftsorganisationen herausbilden, die nach und nach alle Seiten der feudalen Gesellschaft umwandeln. Die bürgerliche Revolution stand nur vor einer Aufgabe: alle Fesseln der früheren Gesellschaft abzuwerfen und zu vernichten. Jede bürgerliche Revolution, die diese Aufgabe erfüllt, erfüllt alles, was man von ihr fordert: sie stärkt das Wachstum des Kapitalismus. In einer ganz anderen Lage befindet sich die sozialistische Revolution. Je rückständiger ein Land ist, das, infolge des Zickzackweges der Geschichte, die sozialistische Revolution beginnen musste, desto schwieriger ist für dieses Land der Übergang von den alten kapitalistischen Verhältnissen zu sozialistischen. Hier kommen zu den Aufgaben der Zerstörung neue, unerhört schwierige organisatorische Aufgaben hinzu. Wenn die schöpferische Kraft des Volkes in der russischen Revolution, das die große Erfahrung des Jahres 1905 durchgemacht, im Februar 1917 noch keine Sowjets geschaffen hätte, so wären sie auf keinen Fall imstande gewesen, im Oktober die Macht zu ergreifen, denn der Erfolg hing lediglich davon ab, ob bereits fertige Organisationsformen der Bewegung vorhanden waren, die Millionen umfasste. Diese fertige Form waren die Sowjets, und deshalb erwarteten uns auf politischem Gebiet jene glänzenden Erfolge, jener ununterbrochene Triumphzug, den wir erlebten, denn die neue Form der politischen Macht war fertig, und wir brauchten nur mit einigen Dekreten die Sowjetmacht aus jenem Embryonalzustand, in dem sie sich in den ersten Monaten der Revolution befand, zur gesetzlich anerkannten Form im russischen Staat zu machen – zur Russischen Sowjetrepublik. Sie entstand auf einmal, sie entstand so leicht, weil die Massen im Februar 1917 die Räte schufen, noch bevor irgendeine Partei diese Losung ausgegeben hatte. Die schöpferische Kraft des Volkes war es, die, gewitzigt durch die bittere Erfahrung von 1905, diese Form der proletarischen Macht schuf. Die Aufgabe des Sieges über den inneren Feind war eine sehr leichte Aufgabe. Die Aufgabe der Schaffung einer politischen Macht war sehr leicht, denn die Massen gaben uns das Skelett, die Grundlage dieser Macht. Die Republik der Räte entstand auf einen Schlag. Es blieben aber noch zwei ungeheuer schwere Aufgaben, die man auf keinen Fall in einem solchen Triumphzug lösen konnte, wie ihn unsere Revolution in den ersten Monaten zurückgelegt hatte. Es bestand und konnte auch kein Zweifel bei uns darüber bestehen, dass die sozialistische Revolution im weiteren Verlauf der Dinge vor Aufgaben von ungeheurer Schwierigkeit gestellt werden wird. Erstens waren das die Aufgaben der inneren Organisation, vor denen jede sozialistische Revolution steht. Der Unterschied zwischen der sozialistischen und der bürgerlichen Revolution besteht gerade darin, dass die bürgerliche Revolution die fertigen Formen der kapitalistischen Verhältnisse vorfindet; während die proletarische Sowjetmacht diese fertigen Verhältnisse nicht vorfindet, abgesehen von den höchsten Formen der kapitalistischen Verhältnisse vorfindet, während die proletarische Sowjetmacht diese fertigen Verhältnisse nicht vorfindet, abgesehen von den höchsten Formen des Kapitalismus, die im Grunde genommen nur einige Spitzen der Industrie erfasst und die Landwirtschaft noch ganz wenig berührt haben. Die Organisierung der Rechnungslegung, die Kontrolle über die größten Betriebe, die Umwandlung des ganzen staatlichen Wirtschaftsmechanismus in eine einzige große Maschine, in einen Wirtschaftsorganismus, der so arbeitet, dass Hunderte Millionen Menschen nach einem einzigen Plan geleitet werden – das ist die gigantische organisatorische Aufgabe, die uns zugefallen ist. Unter den jetzigen Arbeitsbedingungen ist eine Lösung dieser Aufgabe in dem Sturmtempo, in dem wir die Aufgaben des Bürgerkrieges gelöst haben, unmöglich. Das Wesen der Sache selbst macht das unmöglich. Wenn wir unsere Kaledinleute so leicht besiegt und die Sowjetrepublik ohne nennenswerte Widerstände geschaffen haben, wenn dieser Gang der Ereignisse durch die ganze objektive vorangegangene Entwicklung vorherbestimmt war, so dass wir nur das letzte Wort zu sagen, das Aushängeschild zu ändern und die Inschrift: „Der Sowjet ist eine gewerkschaftliche Organisation“ umzuändern hatten in: „Der Sowjet ist die einzige Form der Staatsmacht“ – so verhielt es sich mit den organisatorischen Aufgaben ganz anders. Hier stießen wir auf ungeheure Schwierigkeiten. Hier wurde jedem, der sich ernsthaft mit den Aufgaben unserer Revolution beschäftigte, sofort klar, dass man nur auf dem schweren, langen Weg der Selbstdisziplin jener Zersetzung Herr werden kann, die der Krieg in die kapitalistische Gesellschaft hineingetragen hat, dass wir nur durch außerordentlich schwere, langwierige und hartnäckige Arbeit diese Zersetzung überwinden und die Elemente besiegen können, die sie steigern, die die Revolution als ein Mittel betrachten, die alten Fesseln loszuwerden, die möglichst viel aus ihr herauszupressen versuchen. Das Auftauchen dieser Elemente in großer Zahl war in einem kleinbürgerlichen Lande, in einem Augenblick unglaublicher Zerrüttung unvermeidlich, und der Kampf gegen sie wird hundertmal schwerer und ohne alle effektvollen Posen sein. Diesen Kampf haben wir eben erst begonnen. Wir stehen auf der ersten Stufe dieses Kampfes. Hier stehen uns schwere Prüfungen bevor. Hier können wir auf Grund der objektiven Lage der Dinge uns auf keinen Fall auf einen Triumphzug mit flatternden Fahnen beschränken, wie wir das im Kampfe gegen die Kaledinleute getan haben. Jeder, der versuchen wollte, diese Kampfmethode auf die organisatorischen Aufgaben zu übertragen, vor denen die Revolution steht, würde als Politiker, als Sozialist, als Führer der sozialistischen Revolution völligen Bankrott erleiden. Das gleiche Schicksal erwartete einige unserer vom anfänglichen Triumphzug der Revolution hingerissenen jungen Genossen, als konkret die zweite gigantische Schwierigkeit vor der russischen Revolution auftauchte – die internationale Frage. Wenn wir mit den Banden Kerenskis so leicht fertig wurden, wenn wir so leicht eine Staatsmacht bei uns schufen, wenn wir ohne die geringste Mühe das Dekret über die Sozialisierung des Bodens, über die Arbeiterkontrolle bekamen, wenn wir das alles so leicht bekamen, so war das nur möglich, weil eine günstige Gestaltung der Verhältnisse uns für einen kurzen Augenblick vor dem internationalen Imperialismus schützte. Der internationale Imperialismus mit der ganzen Macht seines Kapitals, mit seiner hochentwickelten militärischen Technik, die eine wirkliche Macht, eine wirkliche Festung des internationalen Kapitals ist, konnte auf keinen Fall, unter keinen Umständen friedlich mit der Sowjetrepublik zusammenleben sowohl wegen seiner objektiven Lage als auch wegen der ökonomischen Interessen der in ihm verkörperten Kapitalistenklasse, konnte es nicht wegen der Handelsverbindungen, der internationalen finanziellen Beziehungen. Hier ist ein Konflikt unvermeidlich. Hier haben wir die größte Schwierigkeit der russischen Revolution, ihr größtes historisches Problem: die Notwendigkeit, die internationalen Aufgaben zu lösen, die Notwendigkeit, die internationale Revolution auszulösen, den Übergang zu vollziehen von unserer Revolution als einer eng nationalen zur Weltrevolution. Diese Aufgabe erstand vor uns in ihrer ganzen unerhörten Schwere. Ich wiederhole, dass sehr viele unserer jungen Freunde, die sich für Linke halten, das Wichtigste zu vergessen anfingen, nämlich: warum wir im Laufe der Wochen und Monate des größten Triumphes nach dem Oktober die Möglichkeit hatten, einen so leichten Triumphzug anzutreten. Das war aber nur deshalb möglich, weil eine besondere internationale Konstellation uns eine Zeitlang vor dem Imperialismus deckte. Er hatte andere Sorgen als sich mit uns zu beschäftigen. Und auch uns schien es, dass wir uns nicht mit dem Imperialismus zu beschäftigen brauchen. Die einzelnen Imperialisten konnten sich aber nur deswegen nicht mit uns beschäftigen, weil die ganze gewaltige sozialpolitische und militärische Macht des jetzigen Weltimperialismus um diese Zeit durch den gegenseitigen Krieg in zwei Gruppen gespalten war. Die imperialistischen Räuber, die sich in diesen Kampf verwickelt hatten, gingen bis zum Äußersten, bis zum Kampf um Leben und Tod, gerieten in eine Lage, wo keine einzige dieser Gruppen imstande war, irgendwelche ernsten Kräfte gegen die russische Revolution zu konzentrieren. Wir hatten im Oktober gerade einen solchen Augenblick, unsere Revolution ging gerade – das klingt paradox, ist aber richtig – in dem glücklichen Augenblick vor sich, als unerhörte Leiden über die große Mehrzahl der imperialistischen Länder hereingebrochen waren in Gestalt der Vernichtung von Millionen Menschen, als der Krieg die Völker durch unerhörte Leiden erschöpft hatte, als im vierten Kriegsjahr die kriegführenden Länder in eine Sackgasse geraten, an dem Scheideweg angelangt waren, wo durch die objektiven Umstände die Frage aufgeworfen wurde: können die bis zu einem solchen Zustand gebrachten Völker weiter Krieg führen? Nur dadurch, dass sich unsere Revolution in diesem glücklichen Augenblick vollzog, wo keine der beiden gigantischen Räubergruppen imstande war, sich sofort auf die andere zu stürzen oder sich gegen uns zusammenzuschließen, nur weil unsere Revolution diesen Augenblick der internationalen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ausnutzen konnte und ausnutzte, um ihren glänzenden Triumphzug durch das europäische Russland anzutreten, nach Finnland überzugreifen, den Kaukasus, Rumänien zu erobern -– nur dadurch erklärt es sich, dass in den führenden Kreisen unserer Partei, unter den Parteifunktionären intellektuelle „Übermenschen“ auftauchten, die sich durch den Triumphzug hinreißen ließen und erklärten: mit dem internationalen Imperialismus werden wir schon fertig werden, auch dort werden wir einen Triumphzug erleben, wirkliche Schwierigkeiten sind dort nicht vorhanden. Hier haben wir den Unterschied hinsichtlich der objektiven Lage der russischen Revolution, die nur zeitweilig die Unterbrechung im Kampfe des internationalen Imperialismus ausnutzte, weil zeitweilig die Maschine ins Stoppen kam, die gegen uns in Bewegung gesetzt werden sollte, so wie ein Eisenbahnzug sich gegen eine Karre in Bewegung setzt und sie zertrümmert. Ins Stoppen kam aber die Maschine, weil zwei Gruppen von Räubern aufeinandergeraten waren. Hier und dort ist die revolutionäre Bewegung gewachsen, aber in allen imperialistischen Ländern ohne Ausnahme befand sie sich meistens noch im Anfangsstadium. Ihr Entwicklungstempo war keineswegs das gleiche wie bei uns. Jedem, der sich in die wirtschaftlichen Voraussetzungen der sozialistischen Revolution in Europa vertiefte, musste es klar sein, dass es in Europa ungleich schwieriger ist, die Revolution anzufangen, dass es bei uns ungleich leichter ist, anzufangen, aber schwieriger als dort sein wird, sie fortzuführen. Diese objektive Lage führte dazu, dass wir eine außerordentlich schwere, schroffe Wendung der Geschichte durchmachen mussten. Von dem ununterbrochenen Triumphzug im Oktober, November, Dezember an unserer inneren Front, gegen unsere Konterrevolution, gegen die Feinde der Sowjetmacht, mussten wir zum Kampf gegen den wirklichen internationalen Imperialismus und seine wirklichen feindlichen Absichten gegen uns übergehen. Von der Periode des Triumphzuges gingen wir zu einer ungewöhnlich schwierigen, drückenden Periode über, die man natürlich mit Worten, glänzenden Losungen nicht abtun kann – so angenehm das auch wäre –, denn wir hatten in unserem zerrütteten Lande furchtbar erschöpfte Massen, die bis zu einem Zustand gebracht worden waren, der die Fortsetzung des Krieges ganz unmöglich machte, die durch den qualvollen dreijährigen Krieg derart zermürbt worden waren, dass sie für den Krieg absolut untauglich wurden. Noch vor der Oktoberrevolution sahen wir Vertreter der Soldatenmassen, die nicht zu der Partei der Bolschewiki gehörten, kein Blatt vor den Mund nahmen und vor der gesamten Bourgeoisie die Wahrheit aussprachen, dass die russische Armee nicht kämpfen werde. Dieser Zustand der Armee schuf eine ungeheure Krise. Das kleinbäuerliche Land, das durch den Krieg zerrüttet und bis zu einem furchtbaren Zustand gebracht worden war, befindet sich in einer außerordentlich schweren Lage: wir haben keine Armee, müssen aber neben einem bis an Zähne bewaffneten Räuber leben, der immer noch ein Räuber ist und den unsere Agitation für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen natürlich kalt lassen musste. Ein friedliches Haustier lag neben einem Tiger und wollte ihn überzeugen, dass ein Friede ohne Annexionen und Kontributionen geschlossen werden müsse, während man das nur durch einen Überfall auf den Tiger erreichen konnte, Über diese Perspektive versuchten die Spitzen unserer Partei – Intellektuelle und ein Teil der Arbeiterorganisationen – sich hauptsächlich mit Phrasen und Ausflüchten hinwegzusetzen. So geht es nicht. Dieser Friede war eine allzu unerwartete Perspektive: wie konnten wir, die wir bisher mit fliegenden Fahnen in den offenen Kampf zogen und alle Feinde überrannten, zurückweichen und demütigende Bedingungen annehmen? Niemals! Wir sind viel zu stolze Revolutionäre, wir erklären vor allem: „Der Deutsche kann nicht angreifen!“ Das war die erste Ausflucht, mit der sich diese Leute trösteten. Die Geschichte hat uns jetzt in eine außerordentlich schwierige Lage gebracht: wir müssen durch eine unerhört schwierige organisatorische Arbeit eine Reihe qualvoller Niederlagen überwinden. Gewiss, wenn man an die Dinge den welthistorischen Maßstab anlegt, so kann auch nicht der geringste Zweifel an der Wahrheit bestehen, dass unsere Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie allein bliebe, wenn es in den anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe. Wenn wir, die bolschewistische Partei, allein das ganze Werk in unsere Hände genommen haben, so haben wir das in der Überzeugung getan, dass die Revolution in allen Ländern heranreift, dass die internationale sozialistische Revolution letzten Endes – und nicht gleich zu Anfang -– ausbrechen wird, trotz aller Schwierigkeiten, die wir durchzumachen haben werden, trotz aller Niederlagen, die uns beschieden sein werden, – denn die Revolution marschiert, reift heran; denn sie reift und wird völlig ausreifen. Unsere Rettung aus all diesen Schwierigkeiten – das wiederhole ich nochmals – ist die europäische Revolution. Wenn wir von dieser ganz abstrakten Wahrheit ausgehen, wenn wir uns von ihr leiten lassen, so müssen wir darauf achten, dass sie nicht mit der Zeit zur Phrase werde, denn jede abstrakte Wahrheit wird zur Phrase, wenn man sie ohne jegliche Analyse anwendet. Wenn man sagt, dass hinter jedem Streik die Hydra der Revolution steckt, dass der kein Sozialist ist, der das nicht begreift, – so ist das richtig. Ja, hinter jedem Streik steckt die sozialistische Revolution. Aber, wenn man sagt, dass jeder gegebene Streik ein unmittelbarer Schritt zur sozialistischen Revolution sei, dann ist das eine leere Phrase. Das haben wir unzählige Mal bis zum Überdruss gehört, und die Arbeiter haben deshalb alle diese anarchistischen Phrasen zurückgewiesen, denn genau so wie nicht daran gezweifelt werden kann, dass hinter jedem Streik die Hydra der sozialistischen Revolution steckt, ist es klar, dass die Behauptung, man könne von jedem Streik zur Revolution übergehen, ein Unsinn ist. Genau so wie nicht bestritten werden kann, dass alle Schwierigkeiten unserer Revolution erst dann überwunden sein werden, wenn die jetzt überall heranreifende sozialistische Weltrevolution vollständig ausgereift sein wird, genau so ist auch die Behauptung ganz absurd, dass wir jede gegebene konkrete, augenblickliche Schwierigkeit unserer Revolution dadurch bemänteln müssen, dass wir sagen: „Ich setze auf die internationale sozialistische Bewegung, ich darf jede beliebige Dummheit machen". „Liebknecht wird uns aus der Klemme helfen, weil er sowieso siegen wird!" Er werde uns eine so großartige Organisation schaffen, werde alles im Voraus so anordnen, dass wir nur die fertigen Formen zu übernehmen brauchen werden, so wie wir die fertige marxistische Lehre Westeuropa entnommen haben. Gerade deshalb habe sie bei uns gewissermaßen in wenigen Monaten gesiegt, während im Westen zu ihrem Sieg Jahrzehnte erforderlich waren. Also, es ist ein ganz sinnloses Abenteuer, die alte Methode, Fragen des Kampfes im Triumphzug zu lösen, auf die neue historische Periode zu übertragen, die herangebrochen ist, die uns nicht Schwächlinge wie Kerenski und Kornilow, sondern einen internationalen Räuber – das imperialistische Deutschland – entgegenstellte, wo die Revolution eben erst heranreift, aber noch keineswegs vollständig ausgereift ist. Ein eben solches Abenteuer war die Behauptung, dass der Feind nicht zum Angriff auf die Revolution entschließen werde. Während der Verhandlungen in Brest-Litowsk brauchten wir nicht beliebige Friedensbedingungen anzunehmen. Das objektive Kräfteverhältnis war so, dass die Erlangung einer Pause für uns zu wenig war. Die Verhandlungen in Brest-Litowsk sollten dann zeigen, dass der Deutsche angreifen wird, die deutsche Gesellschaft noch nicht so schwanger mit der Revolution geht, dass sie sofort ausbrechen müsste. Und man kann es den deutschen Imperialisten nicht als Schuld anrechnen, dass sie durch ihr Verhalten diesen Ausbruch noch nicht vorbereitet haben oder, wie sich unsere jungen Freunde, die sich für Linke halten, ausdrücken, noch keine Situation geschaffen haben, wo sie nicht imstande sind anzugreifen. Wenn man ihnen sagt, dass wir keine Armee haben, dass wir gezwungen waren, zudemobilisieren – obwohl wir keineswegs vergessen hatten, dass neben unserem friedlichen Haustier ein Tiger er lag –, dann wollen sie es nicht begreifen. Wenn wir gezwungen waren, die Armee zu demobilisieren, so hatten wir doch keineswegs vergessen, dass man durch den einseitigen Befehl, die Waffen hinzuwerfen, dem Krieg kein Ende machen kann. Wie kam es überhaupt, dass keine einzige Strömung, keine einzige Richtung, keine einzige Organisation unserer Partei gegen diese Demobilisierung war? Hatten wir denn ganz den Verstand verloren? Keineswegs. Offiziere, keine Bolschewiki, erklärten bereits vor dem Oktober, dass die Armee nicht kämpfen könne, dass es unmöglich sei, sie auch nur einige Wochen an der Front zusammenzuhalten. Nach dem Oktober wurde das für jeden augenscheinlich, der die Tatsachen, die unerfreuliche, bittere Wirklichkeit sehen und sich nicht verstecken oder eine Binde um die Augen legen und mit stolzen Phrasen über sie hinweggehen wollte. Eine Armee gab es nicht, sie zusammenzuhalten, wir unmöglich. Das Beste, was man tun konnte, war, sie möglichst schnell zu demobilisieren. Das ist ein kranker Teil eines Organismus, der unerhörte Leiden ertrug, durch die Entbehrungen des Krieges zermürbt war, in den er technisch unvorbereitet hineingegangen und aus dem er in einem Zustande herausgekommen war, wo jeder Angriff eine Panik bei ihm hervorruft. Man darf den Menschen, die diese unerhörten Leiden ertragen haben, daraus keinen Vorwurf machen. Wir haben in hunderten Resolutionen, in aller Offenheit, noch in der ersten Periode der russischen Revolution, erklärt: „Wir ersaufen im Blut, wir können nicht kämpfen!" Man konnte die Beendigung des Krieges künstlich hinauszögern, man konnte die Betrügermethoden Kerenskis anwenden, man konnte das Ende um einige Wochen hinausschieben, aber die objektive Wirklichkeit musste sich durchsetzen. Die Armee ist ein krankes Glied des russischen Staatsorganismus, das die Last dieses Krieges nicht länger ertragen kann. Je schneller wir sie demobilisieren, je schneller sie in den weniger kranken Teilen des Organismus aufgeht, desto schneller wird unser Land imstande sein, neue schwere Prüfungen zu ertragen. Von diesen Empfindungen waren wir durchdrungen, als wir einstimmig, ohne den geringsten Protest, den vom Standpunkt der außenpolitischen Ereignisse unsinnigen Beschluss fassten, die Armee zu demobilisieren. Das war ein richtiger Schritt. Wir sagten, dass es eine leichtfertige Illusion sei, zu glauben, dass man die Armee zusammenhalten könne, dass die Gesundung des gesamten gesellschaftlichen Organismus um so schneller einsetzen werde, je schneller wir die Armee demobilisieren. Deshalb war es ein so schwerer Fehler, eine so bittere Überschätzung der Ereignisse, die revolutionäre Phrase zu prägen: „Der Deutsche kann nicht angreifen", woraus sich eine zweite Phrase ergab: „Wir können die Einstellung des Kriegszustandes erklären. Weder Krieg noch Unterzeichnung des Friedens!"1 Aber wenn der Deutsche doch angreifen wird? „Nein, der Deutsche kann nicht angreifen." Und habt ihr etwa das Recht, die internationale Revolution aufs Spiel zu setzen, müsst ihr nicht vielmehr die konkrete Frage stellen, ob ihr euch nicht als Helfershelfer des deutschen Imperialismus entpuppen werdet, wenn dieser Moment eintritt? Aber wir, die alle seit dem Oktober 1917 Vaterlandsverteidiger geworden sind, die die Verteidigung des Vaterlandes anerkennen, wir alle wissen, dass wir mit den Imperialisten gebrochen haben, nicht mit Worten, sondern in der Tat: wir haben die Geheimverträge zerrissen, haben die Bourgeoisie bei uns besiegt und einen offenen ehrlichen Frieden vorgeschlagen, so dass alle Völker unsere wirklichen Absichten kannten! Wie konnten Männer, die ernsthaft den Standpunkt der Verteidigung der Sowjetrepublik vertreten, sich auf dieses Abenteuer einlassen, das seine Früchte gezeitigt hat? Das ist aber eine Tatsache, denn die schwere Krise, die unsere Partei infolge der Entstehung der linken Opposition durchmacht, ist eine der größten Krisen der russischen Revolution. Wir werden diese Krise überwinden. Auf keinen Fall wird unsere Partei oder unsere Revolution sich dabei das Genick brechen, obwohl das im gegebenen Augenblick ganz nahe lag, durchaus möglich war. Eine Garantie dafür, dass wir uns bei dieser Frage das Genick nicht brechen werden, bildet der Umstand, dass an Stelle der alten Methode, Fraktionsstreitigkeiten zu entscheiden, die darin bestand, dass man eine außerordentliche Menge Literatur produzierte, unendliche Diskussionen führte und eine beträchtliche Anzahl von Spaltungen vornahm, die Ereignisse den Menschen eine neue Methode des Lernens beigebracht haben. Diese Methode besteht darin, dass man alles an Hand der Tatsachen, Ereignisse, Lehren der Weltgeschichte nachprüft. Ihr sagt, der Deutsche könne nicht angreifen. Aus eurer Taktik folgte, dass man den Kriegszustand für eingestellt erklären konnte. Die Geschichte hat euch eines besseren belehrt, sie hat diese Illusion zunichte gemacht. Ja, die deutsche Revolution wächst, aber nicht so, wie wir es haben möchten, nicht mit der Schnelligkeit, die den russischen Intellektuellen angenehm wäre, nicht in dem Tempo, das unsere Revolution im Oktober einschlug, als wir in jeder beliebigen Stadt, wo wir die Sowjetmacht proklamierten, neun Zehntel der Arbeiter im Laufe einiger Tage für uns gewannen. Die deutsche Revolution hat das Unglück, dass ihre Entwicklung nicht so rasch vor sich geht. Aber wer muss nun mit dem andern rechnen: wir mit ihr oder sie mit uns? Ihr wünschtet, dass sie mit euch rechne, aber die Geschichte hat euch eines besseren belehrt. Das ist eine Lehre, denn es ist absolute Wahrheit, dass wir ohne die deutsche Revolution zugrunde gehen. Vielleicht nicht in Petrograd, nicht in Moskau, in Wladiwostok oder in anderen fernen Gegenden, wohin wir uns werden zurückziehen müssen, deren Entfernung wohl noch größer ist, als die zwischen Petrograd und Moskau, wir werden auf jeden Fall trotz allen nur denkbaren Wendungen zugrunde gehen, wenn die deutsche Revolution nicht eintritt. Nichtsdestoweniger wird das nicht im Geringsten unsere Überzeugung erschüttern, dass wir auch die schwierigste Lage ohne Maulheldentum ertragen müssen. Die Revolution kommt nicht so rasch, wie wir erwartet haben. Das hat die Geschichte bewiesen, das müssen wir als Tatsache hinnehmen. Wir müssen damit rechnen, dass die sozialistische Weltrevolution in den fortgeschrittenen Ländern nicht so leicht beginnen kann wie in Russland, dem Lande Nikolaus' und Rasputins, wo es einem gewaltigen Teil der Bevölkerung absolut gleichgültig war, welche Völker an der Peripherie wohnten und was dort vor sich ging. In einem solchen Lande war es leicht, die Revolution zu beginnen. Das war ein Kinderspiel. Aber anzunehmen, dass man in einem Lande, in dem sich der Kapitalismus entwickelt und jedem Menschen demokratische Kultur und Organisation beigebracht hat, die Revolution ohne Vorbereitung anfangen könne, wäre falsch, wäre Unsinn. Dort nähern wir uns erst der qualvollen Periode des Beginns der sozialistischen Revolutionen. Das ist eine Tatsache. Wir wissen es nicht, niemand weiß es, vielleicht – das ist durchaus möglich – wird sie in einigen Wochen oder sogar in einigen Tagen siegen, aber darauf darf man nicht bauen. Wir müssen auf außerordentliche Schwierigkeiten, auf außerordentlich schwere Niederlagen gefasst sein, die unvermeidlich sind, weil die Revolution in Europa noch nicht begonnen hat, obwohl sie morgen beginnen kann. Und wenn sie beginnt, dann werden uns natürlich keine Zweifel mehr plagen, dann werden wir keine Fragen des revolutionären Krieges mehr haben, sondern einen einzigen ununterbrochenen Triumphzug. Das wird eintreten, wird unvermeidlich eintreten, ist aber noch nicht der Fall. Das ist die einfache Tatsache, die uns die Geschichte gelehrt hat, die sie uns in sehr schmerzlicher Weise beigebracht hat. Aber ein durch Schläge Gewitzigter gilt gleich Zweien! Deshalb bin ich der Auffassung, dass, nachdem die Geschichte unsere Hoffnung – dass der Deutsche nicht imstande sein werde anzugreifen und wir alles im Sturme nehmen werden – so schmerzlich zuschanden gemacht hat, diese Lehre dank unserer Sowjetorganisationen sehr rasch ins Bewusstsein der Massen eindringen wird. Diese Massen sind in dauernder Bewegung, halten Versammlungen. ab, bereiten sich zum Rätekongress vor, nehmen Resolutionen an, denken über das nach, was geschehen ist. Das sind nicht mehr die alten vorrevolutionären Streitigkeiten, die in engen Parteikreisen ausgefochten wurden. Alle Beschlüsse werden den Massen zur Beurteilung vorgelegt, die fordern, dass man sie an der Erfahrung, der Praxis prüfe, die sich nie durch leichte Reden hinreißen lassen, sich nie von dem durch den objektiven Gang der Ereignisse vorgezeichneten Weg abbringen lassen. Natürlich kann ein Intellektueller oder ein linker Bolschewik sich über die Schwierigkeiten hinwegsetzen, vor denen wir stehen; er kann sich natürlich über die Tatsachen hinwegsetzen, dass wir keine Armee haben, dass die Revolution in Deutschland noch nicht begonnen hat. Die Millionenmassen aber – und die Politik beginnt dort, wo man mit Millionen zu tun hat; nicht dort, wo man mit Tausenden, sondern dort, wo man mit Millionen zu tun hat, beginnt erst die ernste Politik – wissen, was eine Armee bedeutet, sie haben die Soldaten gesehen, die von der Front zurückkehren. Sie wissen – wenn man nicht einzelne Personen, sondern die wirkliche Masse nimmt –, dass wir nicht kämpfen können, dass jeder an der Front alles ertragen hat, was nur denkbar war. Die Masse hat die Wahrheit begriffen, dass wir den schwersten, erniedrigendsten Friedensvertrag unterzeichnen müssen, weil wir keine Armee haben und neben uns ein Räuber steht. Das ist unvermeidlich, solange die Revolution nicht ausbricht, solange wir unsere Armee nicht heilen, solange wir sie nicht wieder in die Heimat zurückbringen. Bis dahin wird der Kranke nicht genesen. Den deutschen Räuber aber werden wir nicht im Sturme überwältigen, nicht so stürzen, wie wir es mit Kerenski, Kornilow getan haben. Das ist die Lehre, die sich die Massen zu eigen gemacht haben, ohne die Vorbehalte, die einige Butiker, welche sich über die bittere Wirklichkeit hinwegsetzen wollten, ihnen zu präsentieren versuchten. Zuerst der ununterbrochene Triumphzug im Oktober, November. Dann wird plötzlich die russische Revolution im Laufe von einigen Wochen von dem deutschen Räuber geschlagen, und russische Revolution ist bereit, die Bedingungen des räuberischen Vertrags anzunehmen. Ja, die Wendungen der Geschichte sind sehr schwer. Bei uns sind alle solche Wendungen schwer. Als wir im Jahre 1907 in Russland den unerhört schändlichen Vertrag mit Stolypin unterzeichneten, als wir gezwungen waren, durch den Stall der Stolypinschen Duma hindurchzugehen, Verpflichtungen übernahmen und monarchistische Dokumente2 unterschrieben, da machten wir in kleinerem Maßstabe – mit jetzt verglichen – dasselbe durch. Damals sagten Leute, die zum besten Vortrupp der Revolution gehörten (sie hegten ebenfalls nicht den geringsten Zweifel an der Richtigkeit ihrer Meinung): „Wir sind aufrechte Revolutionäre, wir glauben an die russische Revolution; wir werden niemals in die legalen Stolypinschen Institutionen hineingehen". Ihr werdet doch hineingehen. Das Leben der Massen, die Geschichte ist stärker als eure Versicherungen. Wenn ihr nicht hineingehen wollt, so wird euch die Geschichte dazu zwingen. Das waren sehr linke Politiker, von deren Fraktion nach der ersten Wendung der Geschichte nichts als eine Rauchwolke übrig blieb. Wenn wir es verstanden haben, Revolutionäre zu bleiben, unter entsetzlichen Verhältnissen zu arbeiten und aus jener Lage wieder herauszukommen, so werden wir das auch jetzt verstehen, weil das keine Laune von uns, weil das die objektive Notwendigkeit ist, die in dem aufs Äußerste zerrütteten Lande dadurch entstanden ist, dass die europäische Revolution entgegen unseren Wünschen sich erlaubte zu verspäten, während der deutsche Imperialismus entgegen unseren Wünschen sich erlaubte, die Offensive aufzunehmen. Hier muss man verstehen, sich zurückzuziehen! Über die unendlich bittere, traurige Wirklichkeit kann man sich nicht durch Phrasen hinwegtäuschen. Wir müssen sagen: „Wir könnten zufrieden sein, wenn es uns gelänge, den Rückzug in voller Ordnung durchzuführen. Aber wir sind nicht imstande, uns geordnet zurückzuziehen und müssten deshalb zufrieden sein, wenn wir uns nur halbwegs in Ordnung zurückziehen und ein wenig Zeit gewinnen könnten, damit der kranke Teil unseres Organismus wenigstens einigermaßen gesunde. Der Organismus als Ganzes ist gesund: er wird die Krankheit überwinden. Aber man kann nicht verlangen, dass er sie auf einmal, in einem Augenblick überwinde, man kann die fliehende Armee nicht zurückhalten. Als ich einem unserer jungen Freunde, der ein Linker sein wollte, sagte: Genosse, gehen Sie an die Front und sehen Sie, was dort in der Armee vor sich geht“, wurde das als ein beleidigender Vorschlag aufgefasst: „Man will uns in die Verbannung schicken, damit wir hier nicht für die großen Prinzipien des revolutionären Krieges agitieren!“ Als ich das vorschlug, dachte ich wahrlich nicht an eine Verbannung der Fraktionsgegner: ich schlug vor, sich persönlich davon zu überzeugen, dass die Armee in unerhörter Weise auseinander zu laufen begonnen hatte. Wir wussten das schon früher und durften auch früher nicht die Augen davor schließen, dass die Zersetzung dort zu unerhörten Dingen führte, zum Verkauf unserer Geschütze an die Deutschen für wenige Groschen. Wir wussten das ebenso, wie wir wissen, dass man die Armee nicht zusammenzuhalten vermag, und die Ausflucht, dass der Deutsche nicht angreifen werde, war die schlimmste Abenteurerpolitik. Wenn die europäische Revolution verspätet, dann stehen uns sehr schwere Niederlagen bevor, denn wir haben keine Armee, keine Organisation und können diese beiden Aufgaben nicht sofort lösen. Wenn man es nicht versteht, sich anzupassen, wenn man nicht fähig ist, auf dem Bauch durch den Schmutz zu kriechen, dann ist man kein Revolutionär, .sondern ein Schwätzer, denn ich habe diesen Vorschlag nicht gemacht, weil mir das so gefällt, sondern weil es keinen anderen Weg gibt, weil die Geschichte es nicht so angenehm gefügt hat, dass die Revolution überall zu gleicher Zeit ausreift. Die Dinge entwickelten sich so, dass der Bürgerkrieg als Versuch eines Kampfes gegen den Imperialismus begann. Er bewies, dass der Imperialismus durch und durch verfault ist und dass die proletarischen Elemente innerhalb einer jeden Armee sich zu erheben beginnen. Ja, wir werden die internationale Weltrevolution sehen, aber sie ist zunächst nur ein sehr gutes, sehr schönes Märchen. Ich verstehe durchaus, warum Kinder schöne Märchen lieben. Aber ich frage: glaubt ein ernster Revolutionär an Märchen? In jedem Märchen sind Elemente der Wirklichkeit enthalten: wollte man den Kindern ein Märchen erzählen, in dem Hahn und Katze sich nicht in Menschensprache untertan so würde es sie nicht interessieren. Genau dasselbe ist es, wenn ihr dem Volke sagt, dass der Bürgerkrieg in Deutschland kommt, und gleichzeitig die Bürgschaft dafür übernehmt, dass wir anstatt des Kampfes mit dem Imperialismus eine Feldschlacht der Weltrevolution bekommen.3 Das Volk wird sagen, dass ihr es betrügt. Auf diese Weise geht ihr in euren Auffassungen, euren Wünschen über die Schwierigkeiten hinweg, die die Geschichte uns in den Weg gestellt hat. Es wäre schön, wenn das deutsche Proletariat imstande wäre, in Aktion zu treten. Habt ihr das aber ausgemessen, habt ihr ein Messinstrument erfunden, um zu bestimmen, dass die deutsche Revolution an dem und dem Tage ausbrechen werde? Nein, ihr wisst das nicht, und wir wissen es auch nicht. Ihr setzt alles auf eine Karte. Wenn die Revolution ausbricht, dann ist alles gerettet. Natürlich! Aber wenn sie nicht kommt, wie wir es wünschen, wenn sie nicht schon morgen siegt, was dann? Dann wird die Masse euch sagen: ihr habt wie Egoisten gehandelt, ihr habt mit einem glücklichen Verlauf der Ereignisse gerechnet, der ausgeblieben ist, ihr habt euch unfähig erwiesen in der Situation, die anstatt der internationalen Revolution entstanden ist, die zwar unvermeidlich kommen wird, aber jetzt noch nicht ausgereift ist. Eine Periode schwerster Niederlagen hat begonnen, die der bis an die Zähne bewaffnete Imperialismus einem Lande beigebracht hat, das seine Armee demobilisierte, demobilisieren musste. Was ich vorausgesagt habe, ist restlos eingetroffen: an Stelle des Brester Friedens haben wir einen viel demütigenderen Frieden bekommen, durch die Schuld derjenigen, die den Brester Frieden nicht angenommen haben. Wir wussten, dass wir wegen des Zustandes der Armee mit dem Imperialismus Frieden schließen. Wir saßen an einem Tisch mit Hoffmann, nicht mit Liebknecht. Und damit haben wir die deutsche Revolution unterstützt. Jetzt aber unterstützt ihr den deutschen Imperialismus, weil ihr ihm Millionenwerte ausgeliefert habt: Geschütze, Geschosse. Das aber musste jeder voraussagen, der den entsetzlichen Zustand des Heeres gesehen hatte. Wir wären bei dem geringsten Angriff der Deutschen unvermeidlich zugrunde gegangen. Das sagte jeder gewissenhafte Mensch, der an der Front war. Wir wären binnen wenigen Tagen eine Beute des Feindes geworden. Nach dieser Lehre werden wir die Spaltung und Krise bei überwinden, wie schwer auch diese Krankheit sein mag, denn uns wird ein unendlich sicherer Verbündeter zu Hilfe kommen: die Weltrevolution. Wenn man mich fragt, ob man diesen Tilsiter Frieden, diesen unerhörten Frieden ratifizieren soll, der erniedrigender, räuberischer als der Brester ist, so antworte ich: ja, unbedingt! Wir müssen es tun, weil wir vom Gesichtspunkt der Massen die Dinge betrachten. Der Versuch, die im Oktober-November in einem Lande angewandte Taktik dieser Triumphperiode der Revolution mit Hilfe unserer Phantasie auf den Verlauf der Weltrevolution zu übertragen, – dieser Versuch ist zum scheitern verurteilt. Wenn man sagt, die Atempause sei eine Phantasie, wenn eine Zeitung, die sich „Kommunist“ nennt – offenbar kommt das von dem Wort Kommune –Spalte für Spalte mit Widerlegungen der Theorie der Atempause füllt, dann sage ich: ich habe viele Fraktionskämpfe und Spaltungen durchgemacht, so dass ich darin eine große Erfahrung habe, aber ich muss sagen: ich sehe ganz klar, diese Krankheit wird mit den alten Mittel – fraktionellen Parteispaltungen – nicht geheilt werden, weil das Leben sie früher kurieren wird. Das Leben marschiert sehr rasch. In dieser Beziehung arbeitet es ausgezeichnet. Die Geschichte jagt ihre Lokomotive so rasch vorwärts, dass die Mehrheit der Petrograder Arbeiter – bevor noch die Redaktion des „Kommunist“ ihre nächste Nummer herausbringt – sich von diesen Ideen enttäuscht abwenden wird, weil das Leben zeigt, dass die Atempause eine Tatsache ist. Wir unterzeichnen jetzt den Frieden, wir haben eine Atempause, wir nutzen sie zur Verteidigung des Vaterlandes besser aus, denn, wenn wir Krieg führten, würden wir jene panikartig auseinander fliehende Armee vor uns haben, die man hätte aufhalten müssen und die unsere Genossen nicht aufhalten können und nicht aufhalten konnten, weil der Krieg stärker ist als alle Predigten, als unzählige Betrachtungen. Wenn sie die objektive Situation nicht begriffen haben, dann können sie die Armee nicht aufhalten und hätten sie nicht aufgehalten. Diese kranke Armee verseuchte den ganzen Organismus, und wir bekamen eine neue ungeheuerliche Niederlage, einen neuen Schlag des deutschen Imperialismus gegen die Revolution, einem schweren Schlag, weil wir aus Leichtsinn uns ohne Maschinengewehre den Schlägen des Imperialismus ausgesetzt haben. Diese Atempause aber werden wir benutzen, um das Volk zu überzeugen, dass es sich zusammenschließen und kämpfen muss; um den russischen Arbeitern und Bauern zu sagen: „Schafft eine Selbstdisziplin, eine strenge Disziplin, sonst werdet ihr unter den deutschen Stiefel geraten, wie jetzt. Und das wird unvermeidlich so bleiben, bis das Volk es lernen wird, zu kämpfen, eine Armee zu schaffen, die nicht die Flucht ergreift, sondern imstande ist, unerhörte Leiden zu ertragen." Das ist unvermeidlich, weil die deutsche Revolution noch nicht da ist und man nicht dafür bürgen kann, dass sie morgen ausbricht. Das ist der Grund dafür, dass das Leben selbst die Theorie der Atempause aufstellt, die in einer Unmenge von Artikeln im „Kommunist" vollständig abgelehnt wird. Jeder sieht, dass die Atempause eine Tatsache ist, dass sie jeder sich zunutze macht. Wir glaubten, dass wir Petrograd in wenigen Tagen verlieren würden, als die anmarschierenden deutschen Truppen nur wenige Tagemärsche von der Stadt entfernt waren und die besten Matrosen und Arbeiter der Putilowwerke mit ihrem großen Enthusiasmus allein dastanden, als ein furchtbares Chaos, eine Panik entstand, die dazu führte, dass die Truppen bis Gatschina flohen, als wir erlebten, dass zurückgenommen wurde, was gar nicht aufgegeben worden war. Das ging so vor sich, dass ein Telegraphist zur Station fuhr, sich an den Apparat setzte und telegraphierte: „Kein einziger Deutscher, Station von uns besetzt". Einige Stunden später teilte man mir telefonisch aus dem Volkskommissariat für Verkehrswesen mit: „Nächste Station eingenommen, marschieren auf Jamburg. Kein einziger Deutscher. Der Telegraphist nimmt seinen Posten ein." Solche Dinge haben wir erlebt. Das ist die wirkliche Geschichte jenes elftägigen Krieges4. Die Matrosen und Putilowarbeiter haben sie uns beschrieben. Man muss sie zum Rätekongress einladen, damit sie die Wahrheit erzählen. Das ist eine furchtbar bittere, kränkende, peinigende Wahrheit, aber sie ist hundertmal nützlicher, das russische Volk versteht sie. Ich gestehe euch das Recht zu, von der Feldschlacht der Weltrevolution zu schwärmen, denn sie wird eintreten. Alles wird zu seiner Zeit eintreten, jetzt aber beginnt mit der Selbstdisziplin, unterordnet euch um jeden Preis, damit wir eine musterhafte Ordnung bekommen, damit die Arbeiter wenigstens eine Stunde am Tage kämpfen lernen. Das ist etwas schwieriger, als ein schönes Märchen zu erzählen. Darauf kommt es jetzt an, damit helfen wir der deutschen, der internationalen Revolution. Wie viel Tage unsere Atempause dauern wird, wissen wir nicht, aber wir haben die Atempause. Wir müssen die Armee schneller demobilisieren, denn sie ist ein krankes Organ, Zunächst werden wir die finnländische Revolution unterstützen.
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