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Wladimir I. Lenin 19160300 Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen AW

Wladimir I. Lenin: Die sozialistische Revolution

und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen1

Thesen

März 1916

[Verfasst Anfang März 1916. Veröffentlicht in deutscher Sprache im April 1916 im „Vorboten Nr. 2, in russischer Sprache im Oktober 1916 im „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 1. Deutsche, von W. I. Lenin redigierte, im „Vorboten veröffentlichte Fassung, mit Berücksichtigung der nachträglichen Korrekturen Lenins sowie der Änderungen in der russischen Fassung. Nach Ausgewählte Werke, Band 5, Der Imperialismus und der imperialistische Krieg. Wien 1933, S. 283-209]

1. Imperialismus, Sozialismus und Befreiung der unterdrückten Nationen

Der Imperialismus ist die höchste Stufe der Entwicklung des Kapitalismus. Das Kapital ist in den fortgeschrittenen Ländern über die Rahmen des Nationalstaates hinausgewachsen: es hat Monopole an Stelle der Konkurrenz gestellt und alle objektiven Voraussetzungen der Verwirklichung des Sozialismus geschaffen. Deshalb steht in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten Amerikas der revolutionäre Kampf des Proletariats um die Niederwerfung der kapitalistischen Regierungen und die Expropriation der Bourgeoisie an der Tagesordnung. Der Imperialismus erzeugt einen solchen Kampf, indem er die Klassengegensätze ungemein verschärft, die Lage der Massen in ökonomischer Hinsicht – Trusts, Teuerung – sowie in politischer Hinsicht verschlimmert: Wachstum des Militarismus, Kriege, Verstärkung der Reaktion, Befestigung und Erweiterung des nationalen Druckes und des kolonialen Raubes verursacht. Der siegreiche Sozialismus muss die volle Demokratie verwirklichen, folglich nicht nur vollständige Gleichberechtigung der Nationen realisieren, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen durchführen, d. h. das Recht auf freie politische Abtrennung anerkennen. Sozialdemokratische Parteien, die durch ihre ganze Tätigkeit sowohl jetzt als während und nach der Revolution nicht zu beweisen imstande sein werden, dass sie die unterjochten Nationen befreien und ihre eigenen Beziehungen zu denselben auf dem Boden der freien Vereinigung aufbauen werden – eine solche Vereinigung aber würde zur lügnerischen Phrase ohne die Freiheit der Abtrennung –, derartige Parteien würden Verrat am Sozialismus begehen.

Allerdings ist die Demokratie eine Staatsform, die mit dem Absterben des Staates überhaupt ebenfalls verschwinden muss. Das aber wird erst dann eintreten, wenn der siegreiche Sozialismus dem vollständigen Kommunismus weichen wird.

2. Die sozialistische Revolution und der Kampf um die Demokratie

Die sozialistische Revolution ist kein einzelner Akt, keine einzelne Schlacht an einer Front, sondern eine ganze Epoche schärfster Klassenkonflikte, eine lange Reihe von Schlachten nach allen Fronten, d. h. in allen Fragen der Ökonomie sowie der Politik, Schlachten, welche nur mit der Expropriation der Bourgeoisie enden können. Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, dass der Kampf um die Demokratie imstande wäre, das Proletariat von der sozialistischen Revolution abzulenken oder auch nur diese Revolution in den Hintergrund zu schieben, zu verhüllen und dergleichen. Im Gegenteil, wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die vollständige Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Siege über die Bourgeoisie vorbereiten.

Nicht weniger falsch wäre es, einen der Punkte des demokratischen Programms, so z. B. das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, fallen zu lassen, und zwar auf Grund seiner angeblichen „Undurchführbarkeit“ oder seines „illusorischen“ Charakters wegen in der imperialistischen Epoche. Die Behauptung, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen sei im Rahmen des Kapitalismus undurchführbar, kann entweder im absoluten ökonomischen oder relativ politischen Sinne aufgefasst werden.

Im ersten Sinne ist diese Behauptung theoretisch grundfalsch. In diesem Sinne ist im Rahmen des Kapitalismus etwa das „Arbeitsgeld“ oder die Abschaffung der Krisen und dergleichen mehr undurchführbar. Aber es ist falsch, dass das Selbstbestimmungsrecht der Nationen genau so undurchführbar sei. Zweitens würde selbst ein einziges Beispiel, das der Abtrennung Norwegens von Schweden im Jahre 19052, genügen, um die „Undurchführbarkeit“ in diesem Sinne zu widerlegen. Drittens wäre es lächerlich zu bestreiten, dass bei einer kleinen Veränderung der gegenseitigen politischen und strategischen Beziehungen, z. B. Deutschlands und Englands, heute oder morgen die Konstituierung neuer Staaten – etwa eines polnischen, indischen und ähnlicher – „durchführbar“ sei. Viertens korrumpierte das Finanzkapital in seinem Streben nach Expansion und wird auch künftig die „freieste“ demokratische und republikanische Regierung und die gewählten Beamten eines beliebigen, wenn auch „unabhängigen“ Landes „frei“ korrumpieren.

Die Herrschaft des Finanzkapitals, wie des Kapitals überhaupt, ist durch keinerlei Umgestaltungen auf dem Gebiete der politischen Demokratie zu beseitigen. Und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen liegt ganz und ausschließlich auf diesem Gebiete. Aber diese Herrschaft des Finanzkapitals hebt nicht im Mindesten die Bedeutung der politischen Demokratie als einer freieren, weiteren und klareren Form der Klassenunterdrückung und der Klassenkämpfe auf. Daher führen alle Ausführungen über die „Undurchführbarkeit“ im ökonomischen Sinne einer der Forderungen der politischen Demokratie bei dem Kapitalismus zu einer theoretisch falschen Definition der allgemeinen und grundlegenden Beziehungen des Kapitalismus zur politischen Demokratie überhaupt.

Im zweiten Falle ist diese Behauptung unvollständig und ungenau. Denn nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie sind beim Imperialismus nur unvollständig, verstümmelt und als eine seltene Ausnahme (z. B. die Abtrennung Norwegens von Schweden im Jahre 1905) „durchführbar“. Die Forderung der sofortigen Befreiung der Kolonien, die von allen revolutionären Sozialdemokraten aufgestellt wird, ist ebenfalls beim Kapitalismus ohne eine Reihe von Revolutionen „undurchführbar“. Aber daraus folgt keinesfalls der Verzicht der Sozialdemokratie auf den sofortigen und entschiedenen Kampf für alle diese Forderungen. Das wäre ja nur in die Hand der Bourgeoisie und Reaktion gespielt. Ganz im Gegenteil, man muss alle diese Forderungen nicht reformistisch, sondern entschieden revolutionär formulieren, sich nicht auf die Rahmen der bürgerlichen Legalität beschränken, sondern diese Rahmen zerbrechen, sich nicht mit dem parlamentarischen Auftreten und äußerlichen Protesten begnügen, sondern die Massen mit in den aktiven Kampf hineinziehen, verbreitend und anregend den Kampf um jede demokratische Forderung bis zum direkten Angriff des Proletariats auf die Bourgeoisie, d. h. zur sozialistischen Revolution, die die Bourgeoisie expropriiert, führen. Die sozialistische Revolution kann nicht nur aus einem großen Streik, oder einer Straßendemonstration, oder einem Hungeraufstand, einer Militärempörung, oder einer Meuterei in den Kolonien, sondern aus einer beliebigen politischen Krise, wie der Prozess Dreyfus oder der Zaberninzident, oder im Zusammenhang mit dem Referendum in der Frage der Abtrennung der unterdrückten Nationen und ähnlichem mehr entflammen.

Die Verstärkung der nationalen Unterjochung in der Ära des Imperialismus bedingt für die Sozialdemokraten nicht den Verzicht auf den „utopischen“, wie ihn die Bourgeoisie bezeichnet, Kampf für die Freiheit der Abtrennung der Nationen, sondern ganz im Gegenteil, eine verstärkte Ausnützung aller Konflikte, die auch auf diesem Boden entstehen, als Veranlassung für Massenhandlungen und revolutionäre Kämpfe gegen die Bourgeoisie.

3. Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und seine Beziehung zur Föderation

Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden, d. h. der unterdrückten Nation, so dass diese Forderung nicht der Forderung der Abtrennung, der Zerstückelung, der Bildung kleiner Staaten gleich ist. Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung. Je mehr die demokratische Organisation des Staates bis zur völligen Freiheit der Abtrennung ausgestaltet ist, desto seltener und schwächer wird in der Praxis die Bestrebung zur Abtrennung sein, denn die Vorteile der großen Staaten sind sowohl vom Standpunkt des ökonomischen Fortschrittes als auch von demjenigen der Interessen der Massen zweifellos, wobei diese Vorteile mit dem Kapitalismus steigen. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes ist nicht gleichbedeutend mit der Anerkennung des Prinzips der Föderation. Man kann ein entschiedener Gegner dieses Prinzips, ein Anhänger des demokratischen Zentralismus sein, aber der nationalen Rechtsungleichheit die Föderation als den einzigen Weg zum vollständigen demokratischen Zentralismus vorziehen.

Eben von diesem Standpunkt aus zog der Zentralist Marx sogar die Föderation zwischen Irland und England der Gewaltunterjochung Irlands durch England vor.

Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur Aufhebung der Kleinstaaterei und jeder Absonderung von Nationen, nicht nur Annäherung der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung. Und eben, um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir einerseits die Massen über den reaktionären Charakter der Idee von Renner und Bauer (sogenannte „national-kulturelle Autonomie“) aufklären, anderseits aber die Befreiung der unterdrückten Nationen nicht in allgemeinen weitschweifigen Phrasen, nicht in nichtssagenden Deklamationen, nicht in der Form der Vertröstung auf den Sozialismus, sondern in einem klar und präzis formulierten politischen Programm fordern, und zwar in spezieller Bezugnahme auf die Feigheit und Heuchelei der „Sozialisten" der unterdrückenden Nationen. Wie die Menschheit zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Diktatur der unterdrückten Klasse kommen kann, so kann sie zur unvermeidlichen Verschmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung, d. h. Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen kommen.

4. Die proletarische, revolutionäre Fragestellung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen

Nicht nur die Forderung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, sondern alle Punkte unseres demokratischen Minimalprogramms wurden bereits früher, schon im 17. und 18. Jahrhundert, von dem Kleinbürgertum aufgestellt. Und das Kleinbürgertum stellt sie alle jetzt noch utopisch auf. Es beachtet den Klassenkampf und seine Verstärkung unter dem Regime der Demokratie nicht, es glaubt an den „friedlichen Kapitalismus“. Genau so ist die das Volk irreführende Utopie der friedlichen Vereinigung der gleichberechtigten Nationen beim Imperialismus, die von den Kautskyanern verteidigt wird.

Als Gegengewicht dieser spießbürgerlichen opportunistischen Utopie muss das Programm der Sozialdemokratie als das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende hervorheben.

Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders „unangenehmen“ Fragen der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, still vorbeigehen. Es kann sich vom Kampfe gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorliegenden Staates nicht enthalten, und eben dieses heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von „seiner“ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern. Andernfalls wird der Internationalismus des Proletariats zu leeren Worten; weder Vertrauen noch Klassensolidarität unter den Arbeitern der unterdrückten und unterdrückenden Nationen sind möglich; die Heuchelei der reformistischen und Kautskyschen Vertreter des Selbstbestimmungsrechts, die die von ihren „eigenen Nationen“ unterdrückten und in „ihrem eigenen“ Staate gewaltsam zurückgehaltenen Nationen verschweigen, bleibt dabei immer noch unentlarvt.

Anderseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrätereien und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen. Denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen missbraucht beständig die Losungen der nationalen Befreiung, um die Arbeiter zu betrügen: in der inneren Politik benützt sie diese Losungen zur reaktionären Verständigung mit der Bourgeoisie der herrschenden Nation (z. B. die Polen in Österreich und Russland, die eine Abmachung mit der Reaktion treffen zur Unterdrückung der Juden und Ukrainer); in der äußeren Politik bemüht sie sich, sich mit einer der wetteifernden imperialistischen Regierungen zu verständigen, um ihre räuberischen Ziele zu verwirklichen (die Politik der kleinen Balkanstaaten u. a. m.).

Die Tatsache, dass der Kampf gegen eine imperialistische Regierung für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer anderen „Großmacht“ für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenützt werden kann, kann die Sozialdemokratie ebenso wenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten, als die mehrfachen Fälle der Ausnützung der republikanischen Losungen von der Bourgeoisie in ihrer politischen Betrügerei und Finanzräuberei z. B. in romanischen Ländern die Sozialdemokratie auf ihren Republikanismus zu verzichten bewegen können.*

5. Marxismus und Proudhonismus in der nationalen Frage

Im Gegensatz zu den kleinbürgerlichen Demokraten sah Marx in allen demokratischen Forderungen ausnahmslos nicht etwas Absolutes, sondern einen historischen Ausdruck des von der Bourgeoisie geleiteten Kampfes der Volksmassen gegen den Feudalismus. Es gibt keine der demokratischen Forderungen, die nicht unter bestimmten Umständen als Werkzeug des Betruges gegen die Arbeiter von Seiten der Bourgeoisie dienen könnte oder gedient hätte. Daher wäre es theoretisch grundsätzlich falsch, eine der politischen Forderungen der Demokratie, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in dieser Hinsicht auszusondern und den übrigen Forderungen entgegenzustellen. In der Praxis kann das Proletariat nur dann seine Selbständigkeit bewahren, wenn es den Kampf für alle demokratische Forderungen, die Republik nicht ausgenommen, dem revolutionären Kampf für die Niederwerfung der Bourgeoisie unterordnet. Anderseits, im Gegensatz zu den Proudhonisten, die das nationale Problem „im Namen der sozialen Revolution“ verneinten, hob Marx in erster Linie, indem er hauptsächlich die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern im Auge hatte, das grundlegende Prinzip des Internationalismus und des Sozialismus hervor: Nie kann ein Volk, das andere Völker unterdrückt, frei sein.

Eben vom Standpunkt des Interesses der revolutionären Bewegung der deutschen Arbeiter forderte Marx im Jahre 1848, dass die siegreiche Demokratie Deutschlands die Freiheit der von den Deutschen unterjochten Völker verkünden und verwirklichen solle. Eben vom Standpunkte des revolutionären Kampfes der Arbeiter Englands forderte Marx im Jahre 1869 die Abtrennung Irlands von England, wobei er hinzufügte: „obgleich nach der Trennung Föderation kommen mag“. Nur durch die Aufstellung einer solchen Forderung erzog Marx die Arbeiter Englands im wirklich internationalen Geiste. Nur auf diese Weise konnte er den Opportunisten und dem bürgerlichen Reformismus, der bis auf heute, nach Ablauf eines halben Jahrhunderts, diese irländische „Reform“ nicht verwirklicht hat, eine revolutionäre Lösung der vorliegenden historischen Aufgabe entgegenstellen. Nur so war Marx imstande, im Gegensatz zu den Verteidigern des Kapitals, welche die Freiheit der Abtrennung der kleinen Nationen als eine Utopie und als undurchführbar erklärten und nicht nur die ökonomische, sondern auch die politische Konzentration als fortschrittlich bezeichneten, die Fortschrittlichkeit dieser Konzentration nicht imperialistisch zu vertreten. Nur so war er imstande, die Annäherung der Nationen nicht auf dem Wege der Vergewaltigung, sondern der freien Vereinigung der Proletarier aller Länder zu verteidigen. Nur so war es Marx möglich, der äußerlichen, oft heuchlerischen Anerkennung der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen den revolutionären Kampf der Massen auch auf dem Gebiete der nationalen Frage entgegenzustellen.

Der imperialistische Krieg der Jahre 1914-1916 und der von ihm aufgedeckte Augiasstall von Heuchelei der Opportunisten und Kautskyaner haben aufs Anschaulichste die Richtigkeit dieser Politik von Marx bewiesen. Diese Politik soll als Muster für alle fortgeschrittenen Länder gelten, denn jedes von ihnen unterdrückt jetzt fremde Nationen.**

6. Drei Staatstypen in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Es sind drei Haupttypen in dieser Hinsicht zu unterscheiden:

I. Die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder Westeuropas und die Vereinigten Staaten Amerikas. Die bürgerlich-fortschrittliche nationale Bewegung ist hier längst beendet. Jede dieser „großen“ Mächte unterdrückt fremde Nationen in den Kolonien sowie im eigenen Lande. Die Aufgaben des Proletariats der herrschenden Nationen sind hier eben dieselben, wie sie im 19. Jahrhundert in England in Bezug auf Irland waren.***

IV. Osteuropa: Österreich, der Balkan und insbesondere Russland. Hier hat das 20. Jahrhundert besonders die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen entwickelt und den nationalen Kampf verschärft. Das Proletariat dieser Länder kann die Aufgaben der konsequenten Durchführung der' bürgerlich-demokratischen Revolution nicht ausführen noch den sozialistischen Revolutionen der anderen Länder beistehen, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verteidigen. Besonders schwierig und wichtig ist hier die Aufgabe der Verschmelzung des Klassenkampfes der Arbeiter der unterdrückten und der der unterdrückenden Nationen.

V. Die Halbkolonien, wie China, Persien, die Türkei und alle Kolonien mit einer Bevölkerung von zirka 1000 Millionen Menschen. Die bürgerlich-demokratischen Bewegungen sind hier teilweise kaum im Anfangsstadium, teilweise noch lange nicht beendet. Die Sozialisten haben nicht nur die bedingungslose und sofortige Befreiung der Kolonien zu fordern – diese Forderung bedeutet aber politisch nichts anderes als die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen –, sondern sie müssen revolutionäre Elemente in den bürgerlich-demokratischen nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Ländern auf das entschiedenste unterstützen und ihrem Auflehnen, ihren Aufständen, respektive ihrem revolutionären Kriege gegen die sie unterjochenden imperialistischen Staaten beistehen.

7. Der Sozialchauvinismus und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Die imperialistische Epoche und der Krieg in den Jahren 1914 und 1915 haben die Aufgabe des Kampfes gegen den Chauvinismus und Nationalismus in den fortgeschrittenen Ländern besonders hervorgehoben. In Bezug auf die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen gibt es zwei Hauptschattierungen unter den Sozialchauvinisten, d. h. den Opportunisten und Kautskyanern, die den imperialistischen reaktionären Krieg durch den Begriff der „Vaterlandsverteidigung“ zu verschönern suchen.

Einerseits sehen wir die direkten Diener der Bourgeoisie, welche die Annexionen verteidigen, weil der Imperialismus und die politische Konzentration fortschrittlich seien, und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ablehnen, weil es so utopisch, illusorisch, spießbürgerlich usw. sei. Dazu gehören: Cunow, Lensch, Parvus und die äußersten Opportunisten Deutschlands, ein Teil der Fabier und Führer der Trade-Unions in England, in Russland die Opportunisten Sjemkowski, Liebmann, Jurkjewitsch u. a. m., die gegen das Selbstbestimmungsrecht auftreten und so die alten Annexionen des Zarismus (Finnland usw.) verteidigen.

Anderseits sehen wir die Kautskyaner, zu welchen auch Vandervelde, Renaudel und mehrere Pazifisten Englands und Frankreichs gehören. Sie sind für die Einheit mit den ersteren und unterscheiden sich von diesen in der Praxis nicht, indem sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nur äußerlich und heuchlerisch verteidigen. Sie finden, „es sei zu viel verlangt“ (Kautsky, „Neue Zeit, 21. Mai 1915), wenn man die Forderung der Freiheit der politischen Abtrennung aufstellt; sie bestehen nicht auf der Notwendigkeit der revolutionären Taktik der Sozialisten gerade der unterdrückenden Nationen; ganz im Gegenteil, sie vertuschen deren revolutionäre Pflichten, rechtfertigen ihren Opportunismus, erleichtern deren Betrug der Völker, vermeiden gerade die Frage nach den Grenzen des Staates, der gewaltsam unter seiner Herrschaft die nicht gleichberechtigten Nationen zurückhält usw.

Die einen wie die andern sind die gleichen Opportunisten, die den Marxismus prostituieren, indem sie jede Fähigkeit, die theoretische Bedeutung und praktische Unentbehrlichkeit der Taktik von Marx, die durch das Beispiel Irlands erläutert wurde, zu begreifen, verloren haben.

Was die Annexionen anbetrifft, so ist diese Frage im Zusammenhang mit dem Krieg besonders aktuell geworden. Aber was bedeutet eigentlich Annexion? Es ist leicht, sich zu überzeugen, dass jeder Protest gegen Annexionen nichts anderes als entweder die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen bedeutet oder eine leere pazifistische Phrase ist, die den Status quo verteidigt, und jede Gewalt, sei sie auch revolutionärer Natur, verabscheut. Ähnliche Phrasen sind grundsätzlich falsch und mit dem Marxismus unvereinbar.

8. Die konkreten Aufgaben des Proletariats in der nächsten Zukunft

Die sozialistische Revolution kann in der nächsten Zukunft beginnen. In diesem Falle wäre die sofortige Aufgabe des Proletariats: die Erkämpfung der politischen Macht, die Expropriation der Banken und die Verwirklichung anderer diktatorischer Maßregeln. Die Bourgeoisie – und besonders die Intelligenz vom Typus der Fabianer und Kautskyaner – wird sich bemühen, die Revolution in solch einem Augenblick zu zerstückeln und zu bremsen, indem sie ihr beschränkte demokratische Ziele vorschreiben wird. Wenn alle rein demokratischen Forderungen imstande sind, beim schon beginnenden Ansturm der Proletarier gegen die Grundlagen der Macht der Bourgeoisie der Revolution im gewissen Sinne im Wege zu stehen, so wird die Notwendigkeit, die Freiheit aller unterjochten Völker (d. h. das Selbstbestimmungsrecht) zu verkünden und zu verwirklichen, ebenso aktuell während der sozialistischen Revolution, wie sie es für den Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution war, z. B. in Deutschland im Jahre 1848 oder in Russland im Jahre 1905.

Möglicherweise werden aber bis zum Beginn der sozialistischen Revolution noch fünf, zehn oder noch mehr Jahre verfließen. Es wird eine solche revolutionäre Erziehung der Massen auf der Tagesordnung stehen, die die Zugehörigkeit zur Arbeiterpartei der Sozialchauvinisten und Opportunisten, ebenso wie deren Sieg, ähnlich dem der Jahre 1914-1916 unmöglich machen wird.

Die Sozialisten werden den Massen zu erklären haben, dass die Sozialisten Englands, welche die Freiheit der Abtrennung der Kolonien sowie Irlands nicht fordern, die Sozialisten Deutschlands, welche ebenfalls die Freiheit der Abtrennung der Kolonien sowie Elsass-Lothringens, der Polen, Dänen nicht fordern, die unmittelbare revolutionäre Propaganda und revolutionäre Massenaktion gegen die nationale Unterdrückung nicht verbreiten, die solche Vorkommnisse, wie der Zaberninzident, zur breitesten illegalen Propaganda unter dem Proletariat der unterdrückenden Nation, zu Straßendemonstrationen und revolutionären Massenaktionen nicht ausnützen, die Sozialisten Russlands, die die Freiheit der Abtrennung Finnlands, Polens, der Ukraine u. a. nicht verlangen usw. –, dass solche Sozialisten als Lakaien der von Blut und Schmutz triefenden imperialistischen Monarchien und der imperialistischen Bourgeoisie handeln.

9. Die Stellungnahme der russischen und polnischen Sozialdemokratie und der II. Internationale zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Die Meinungsverschiedenheiten unter den revolutionären Sozialdemokraten Russlands und Polens in der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen treten schon im Jahre 1903 auf dem Parteitag hervor, wo das Programm der SDAP Russlands angenommen worden ist und wo gegen die Proteste der Delegierten der polnischen Sozialdemokratie der § 9 des Programms angenommen worden ist, der das Selbstbestimmungsrecht der Nationen formuliert. Seither wurde nie von den Vertretern der polnischen Sozialdemokratie die Forderung wiederholt, den § 9 aus dem Programm zu entfernen oder ihn irgendwie anders zu formulieren.

In Russland, wo zu den unterjochten Nationen nicht weniger als 57 Prozent seiner Gesamtbevölkerung (mehr als 100 Millionen) gehören, wo diese Nationen hauptsächlich die Grenzgebiete des Staates bewohnen, wo ein Teil dieser Nationen oft auf einer höheren Stufe der Kultur sich befindet als die Großrussen, wo die politischen Verhältnisse besonders barbarisch sind und nicht selten an das Mittelalter erinnern – wo die bürgerlich-demokratische Revolution noch nicht vollendet ist –, in Russland ist die Anerkennung des Rechts auf die Freiheit der Abtrennung von Russland der vom Zarismus unterjochten Nationen für die Sozialdemokratie, ihrer demokratischen und sozialistischen Aufgaben wegen, eine bedingungslose Pflicht. Unsere Partei, die im Jahre 1912 wiederhergestellt worden ist, hat im Jahre 1913 eine Resolution angenommen, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen wiederholt und es gerade im oben erwähnten Sinne erläutert.3

Die Entfaltung des Chauvinismus der Großrussen in den Jahren 1914 und 1915 unter der Bourgeoisie sowie unter den opportunistischen Sozialisten (Rubanowitsch, Plechanow, „Nasche Djelo u. a. m.) veranlasst uns, um so mehr auf dieser Forderung zu bestehen und gleichzeitig zu erklären, dass diejenigen, die diese Forderung ablehnen, praktisch den Chauvinismus der Großrussen sowie den Zarismus unterstützen. Unsere Partei erklärt, dass sie für solches Auftreten gegen das Selbstbestimmungsrecht irgendwelche Verantwortung aufs Entschiedenste ablehnt.

In der neuesten Formulierung der Position der polnischen Sozialdemokratie in der nationalen Frage (Erklärung auf der Zimmerwalder Konferenz) sind folgende Gedanken enthalten:

Diese Erklärung geißelt die deutsche usw. Regierung, weil die „polnischen Gebiete“ wie ein Pfand im künftigen Spiel der Kompensationen behandelt werden, „ohne dem polnischen Volk die Entscheidung über seine Geschicke einzuräumen“. „Die polnische Sozialdemokratie legt den entschiedensten und feierlichsten Protest ein gegen dieses Zerschneiden und Zerfleischen eines ganzen Landes.“ Sie geißelt die Sozialisten, welche den Hohenzollern … „die Erlösung der unterdrückten Völker übertrugen“. Sie spricht die Überzeugung aus, dass nur die Teilnahme an diesem bevorstehenden Kampf des revolutionären internationalen Proletariats um den Sozialismus „die Fesseln der nationalen Unterdrückung sprengen und jede Fremdherrschaft aufheben wird, dem polnischen Volke die Möglichkeit einer freien, allseitigen Entwicklung als einem gleichberechtigten Glied in der Internationale der Völker sichern wird“. Sie bezeichnet den Krieg „für die Polen“ als einen „doppelt brudermörderischen“ (Bulletin der ISK, Nr. 2, 27. September 1915, Bern, S. 15).

Von der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts unterscheiden sich diese Sätze im Grunde genommen nicht, und wenn man dieses „Recht“ in anderen Ausdrücken formulieren will, so streiten wir natürlich um Worte nicht. Diese Sätze leiden nur an einer größeren Weitschweifigkeit und Unbestimmtheit der politischen Formulierungen als die Mehrzahl der Programme und Resolutionen der II. Internationale.

Jeder Versuch, diese Gedanken politisch klar zu formulieren, und ihre Anwendung auf die kapitalistische oder auch nur sozialistische Ordnung zu bestimmen, wird die Irrtümlichkeit der Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen von Seiten der polnischen Sozialdemokratie noch anschaulicher beweisen.

Der Beschluss des Londoner internationalen sozialistischen Kongresses im Jahre 1896, der das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennt, muss auf Grund der oben aufgestellten Thesen ergänzt werden, mit dem Hinweis 1. auf die besondere Unentbehrlichkeit dieser Forderung unter der Herrschaft des Imperialismus; 2. auf die historische Bedingtheit und den Klassencharakter aller Forderungen der politischen Demokratie, die vorliegende nicht ausgenommen; 3. auf die Notwendigkeit, die konkreten Aufgaben der Sozialdemokratie der unterdrückenden Nationen von denen der Sozialdemokratie der unterdrückten zu unterscheiden; 4. auf die inkonsequente, rein äußerliche und infolgedessen in ihrer politischen Bedeutung heuchlerische Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen von Seiten der Opportunisten und Kautskyaner; 5. auf die tatsächliche Ähnlichkeit mit dem Chauvinismus derjenigen Sozialdemokraten, besonders der Nationen der „Großmächte“ (Großrussen, Anglo-Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Italiener, Japaner u. a.), die auf die Freiheit der Abtrennung der Kolonien und Nationen, welche von „ihren“ Nationen unterdrückt werden, nicht bestehen; 6. auf die Notwendigkeit, den Kampf für diese sowie für alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie dem revolutionären Kampf für die Beseitigung der kapitalistischen Ordnung und für die Verwirklichung des Sozialismus unterzuordnen.

Der Kampf der Sozialdemokratie der kleinen Nationen, insbesondere der polnischen Sozialdemokratie, mit den das Volk betrügenden nationalistischen Losungen ihrer Bourgeoisie führte sie zur Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen.

Die Übertragung dieses Standpunktes auf die gesamte Internationale wäre theoretisch falsch; es hieße, den Proudhonismus an Stelle des Marxismus einsetzen und eine unbewusste Unterstützung des gefährlichsten Chauvinismus und Opportunismus der großstaatlichen Nationen.

Die Redaktion des „SozialdemokratZentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

Postskriptum. In der soeben erschienenen „Neuen Zeit“ vom 3. März 1916 reicht Kautsky dem Vertreter des schmutzigsten deutschen Chauvinismus, Austerlitz, offen die christliche Versöhnungshand, indem er für das habsburgische Österreich die Freiheit der Abtrennung der unterdrückten Nationen ablehnt, für Russisch-Polen aber, um Hindenburg und Wilhelm II. einen Lakaiendienst zu erweisen, anerkennt. Bessere Selbstentlarvung des Kautskysmus könnte man schwerlich wünschen!

1 Die Thesen „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ wurden in der theoretischen Zeitschrift der Zimmerwalder Linken, dem „Vorboten“, und zwar in Nummer 2 vom April 1916, abgedruckt. Sie waren gegen die polnischen Sozialdemokraten von der Zimmerwalder Linken (Radek u. a.) und gegen die Gruppe Bucharin-Pjatakow gerichtet, die die Losung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen ablehnten.

* Selbstverständlich ist es ganz lächerlich, das Selbstbestimmungsrecht darum abzulehnen, weil daraus die Anerkennung der „Vaterlandsverteidigung“ angeblich hervorgehen muss. Mit demselben Recht, d. h. mit demselben Unrecht, berufen sich die Sozialchauvinisten auf jede beliebige Forderung der Demokratie (z. B. die der Republik) oder auf jede beliebige Formulierung des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung. Der Marxismus lehnt die Vaterlandsverteidigung im Kriege 1914-1916, auf Grund einer konkret-historischen Analyse der Bedeutung dieses Krieges, ab. Ebenso wie der Marxismus auf Grund einer solchen Analyse die Landesverteidigung z. B. in solchen Kriegen, wie die der großen französischen Revolution oder der Garibaldianer, anerkannte.

** Oft wird behauptet – z. B. vom deutschen Chauvinisten Lensch in Nr. 8-9 der „Glocke –, dass das negative Verhalten von Marx zur Nationalbewegung einiger Völker, wie z. B. zur Bewegung der Tschechen im Jahre 1848, die Unnötigkeit des Anerkennens des Selbstbestimmungsrechtes vom Standpunkt des Marxismus beweist. Das ist aber falsch. Denn im Jahre 1848 waren ebenso historische wie politische Gründe da, um zwischen „reaktionären“ und revolutionär-demokratischen Nationen zu unterscheiden. Marx hatte Recht, als er die ersten verurteilte und für die zweiten Partei ergriff. Das Selbstbestimmungsrecht ist eine der Forderungen der Demokratie, die natürlich dem Kriterium der Gesamtinteressen der Demokratie unterliegt. In den Jahren 1848 und den folgenden forderten diese Gesamtinteressen in erster Linie den Kampf gegen den Zarismus.

*** In einigen Kleinstaaten, die am Kriege 1914-1916 nicht beteiligt sind, wie z. B. Holland, die Schweiz, nützt die Bourgeoisie energisch die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen aus, um die Teilnahme an dem jetzigen imperialistischen Kriege zu rechtfertigen. Das ist einer der Beweggründe, die der Sozialdemokratie solcher Länder zur Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen Anstoß gaben. Die richtige proletarische Politik, nämlich die Ablehnung der „Vaterlandsverteidigung“ im imperialistischen Kriege, rechtfertigen sie mit Hilfe unrichtiger Argumente. Man erhält in der Theorie eine Verstümmelung des Marxismus und in der Praxis eine Art kleinstaatlicher Beschränktheit, die Ignorierung von Hunderten von Millionen einer Bevölkerung, die von großstaatlichen Nationen unterjocht sind. Genosse Gorter hat Unrecht, wenn er in seiner prächtigen Broschüre, „Imperialismus, Krieg und Sozialdemokratie“, das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes ablehnt. Aber praktisch wendet er ganz richtig eben dieses Prinzip an, wenn er die sofortige „politische und nationale Unabhängigkeit“ Niederländisch-Indiens fordert und die holländischen Opportunisten dafür geißelt, dass sie auf die Aufstellung dieser Forderung und auf den Kampf für dieselbe verzichten.

3 Siehe Lenin, „Sämtliche Werke“, Bd. XVII [sic!], „Resolutionen der ,Sommerkonferenz' des ZK der SDAPR mit den Parteiarbeitern“. Die Red. [Fußnote der „Sämtlichen Werke“, Band 19]

Wenn Lenin hier von der Wiederherstellung der Partei im Jahre 1912 spricht, so meint er damit die in diesem Jahre abgehaltene Prager Konferenz der Partei, auf der jene „entschiedene Politik des Bruchs mit dem Opportunismus aller Schattierungen, wie sie von den russischen Bolschewiki in den Jahren 1904-1912 durchgeführt wurde […] , endgültig organisatorisch vollzogen und wo ein rein bolschewistisches Zentralkomitee geschaffen wurde. Die Resolution über die nationale Frage, von der Lenin spricht, wurde von diesem Zentralkomitee auf der sogenannten „Augustberatung mit den Parteifunktionären“ beschlossen […].

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