9. Was bedeutet es, während der Revolution die Partei der äußersten Opposition zu sein?

9. Was bedeutet es, während der Revolution die Partei der äußersten Opposition

zu sein?

Kehren wir zur Resolution über die provisorische Regierung zurück. Wir haben gezeigt, dass die Taktik der Neu-Iskristen die Revolution nicht vorwärtstreibt – diese Möglichkeit wollten sie durch ihre Resolution schaffen –, sondern rückwärts. Wir haben gezeigt, dass gerade diese Taktik der Sozialdemokratie im Kampfe gegen die inkonsequente Bourgeoisie die Hände bindet und sie vor dem Aufgehen in der bürgerlichen Demokratie nicht schützt. Es ist klar, dass die Resolution auf Grund falscher Voraussetzungen auch zu falschen Schlussfolgerungen gelangt: „Deshalb darf sich die Sozialdemokratie nicht die Eroberung der Macht und auch nicht den Anteil an der Macht in der provisorischen Regierung zum Ziel setzen, sondern muss die Partei der äußersten revolutionären Opposition bleiben." Sehen wir uns die erste Hälfte dieser Schlussfolgerung, die sich auf die Zielsetzung bezieht, an. Setzen die Neu-Iskristen der sozialdemokratischen Tätigkeit das Ziel des entscheidenden Sieges der Revolution über den Zarismus? Das tun sie. Sie verstehen es nicht, die Bedingungen des entscheidenden Sieges zu formulieren, und verfallen auf die „Oswoboschdjenije"-Formulierung, aber sie stellen das erwähnte Ziel auf. Ferner: Verbinden sie die provisorische Regierung mit dem Aufstand? Ja, sie verbinden sie direkt mit ihm, indem sie sagen, dass die provisorische Regierung „aus dem siegreichen Volksaufstand hervorgeht". Stecken sie sich schließlich das Ziel, den Aufstand zu leiten? Ja; sie gehen zwar ebenso wie Herr Struve der Anerkennung des Aufstandes als einer notwendigen und unaufschiebbaren Sache aus dem Wege, aber gleichzeitig sagen sie, zum Unterschied von Herrn Struve, dass „die Sozialdemokratie bestrebt ist, den Aufstand unter ihren Einfluss, unter ihre Leitung zu bekommen und ihn im Interesse der Arbeiterklasse auszunützen".

Das klingt doch ganz logisch, nicht wahr? Wir stecken uns das Ziel, den Aufstand sowohl der proletarischen als auch der nichtproletarischen Massen unter unseren Einfluss, unsere Führung zu stellen und ihn in unserem Interesse auszunützen. Folglich stecken wir uns das Ziel, beim Aufstand sowohl das Proletariat als auch die revolutionäre Bourgeoisie sowie das Kleinbürgertum (die „nichtproletarischen Gruppen") zu leiten, das heißt, uns mit der revolutionären Bourgeoisie in die Leitung des Aufstandes zu „teilen". Unser Ziel ist der Sieg des Aufstandes, der zur Schaffung der provisorischen Regierung führen muss („die aus einem siegreichen Volksaufstand hervorgegangen ist"). Deshalb deshalb sollen wir uns nicht die Eroberung der Macht und auch nicht den Anteil an der Macht in der provisorischen revolutionären Regierung zum Ziele setzen!!

Unsere Freunde können sich durchaus nicht zurechtfinden. Sie schwanken zwischen dem Standpunkt Struves, der die Frage des Aufstandes durch Ausflüchte umgeht, und dem Standpunkt der revolutionären Sozialdemokratie, die auffordert, sich an diese unaufschiebbare Aufgabe zu machen. Sie schwanken zwischen dem Anarchismus, der prinzipiell jede Teilnahme an der provisorischen revolutionären Regierung als einen Verrat am Proletariat verurteilt, und dem Marxismus, der eine solche Teilnahme verlangt, unter der Bedingung, dass der Sozialdemokratie der führende Einfluss auf den Aufstand gesichert ist.* Sie haben gar keine selbständige Position; weder die Position des Herrn Struve, der mit dem Zarismus handelseinig werden will und deshalb die Frage des Aufstandes umgehen, sich um sie herumwinden muss, noch die Position der Anarchisten, die jede Aktion „von oben" und jede Teilnahme an der bürgerlichen Revolution verurteilen. Die Neu-Iskristen verwechseln den Kompromiss mit dem Zarismus mit dem Siege über den Zarismus. Sie wollen sich an der bürgerlichen Revolution beteiligen. Sie gehen schon etwas weiter als die „Zwei Diktaturen" Martynows. Sie sind sogar damit einverstanden, den Volksaufstand zu führen, aber nur, um sofort nach dem Siege (oder vielleicht unmittelbar vor dem Siege?) auf diese Führung zu verzichten, d.h. um die Früchte des Sieges nicht auszunützen, sondern sie ganz und gar der Bourgeoisie zu überlassen. Das nennen sie „den Aufstand im Interesse der Arbeiterklasse ausnützen" …

Es lohnt sich nicht, bei diesem Wirrwarr noch länger zu verweilen. Nützlicher ist es, die Herkunft dieses Wirrwarrs in jener Formulierung zu untersuchen, die lautet: „ … die Partei der äußersten revolutionären Opposition zu bleiben."

Wir haben hier einen der bekannten Grundsätze der internationalen revolutionären Sozialdemokratie vor uns. Einen durchaus richtigen Grundsatz. Er wurde zum Gemeinplatz aller Gegner des Revisionismus oder Opportunismus in den parlamentarischen Ländern. Er erhielt das Bürgerrecht als gesetzmäßige und notwendige Zurückweisung des „parlamentarischen Kretinismus, des Millerandismus, Bernsteinismus und des italienischen Reformismus im Geiste Turatis. Unsere braven Neu-Iskristen haben sich diese gute These eingeprägt und wenden sie eifrig dort an, wo sie … ganz unangebracht ist. Kategorien des parlamentarischen Kampfes werden in Resolutionen aufgenommen, die für Verhältnisse geschrieben sind, wo gar kein Parlament da ist. Der Begriff der „Opposition", der die Widerspieglung und der Ausdruck einer politischen Situation ist, in der vom Aufstand niemand ernstlich spricht, wird ganz sinnlos auf eine Situation übertragen, wo der Aufstand begonnen hat und alle Anhänger der Revolution über die Führung des Aufstandes nachdenken und sprechen. Der Wunsch, dort zu bleiben", wo man vorher war, d.h. bei der Aktion nur von „unten", wird mit Pomp und Lärm gerade zu einer Zeit verkündet, wo die Revolution die Frage der Notwendigkeit, im Falle eines siegreichen Aufstandes von oben zu handeln, aufgerollt hat.

Nein, unsere Neu-Iskristen haben entschieden kein Glück! Auch dann, wenn sie einen richtigen sozialistischen Grundsatz formulieren, verstehen sie es nicht, ihn richtig anzuwenden. Sie haben nicht überlegt, wie sich die Begriffe und Ausdrücke des parlamentarischen Kampfes wandeln und in ihr Gegenteil verwandeln, wenn die Revolution begonnen hat, kein Parlament da ist und der Bürgerkrieg, das Aufflackern von Aufständen, Tatsache geworden ist. Sie haben nicht überlegt, dass unter den Verhältnissen, von denen jetzt die Rede ist, Verbesserungsanträge durch Straßendemonstrationen eingebracht, Interpellationen durch Angriffsaktionen der bewaffneten Bürger eingereicht werden und Opposition gegen die Regierung in der Form des gewaltsamen Sturzes der Regierung gemacht wird.

Wie der bekannte Held unseres Volksepos die guten Ratschläge gerade dann wiederholt, wenn sie unangebracht sind, so sagen auch die Jünger Martynows ihre Lektion vom friedlichen Parlamentarismus gerade da auf, wo sie selbst den Beginn direkter Kampfhandlungen feststellen. Kann es doch nichts Kurioseres geben, als wenn in einer Resolution, die mit dem Hinweis auf den „entscheidenden Sieg der Revolution" und auf den „Volksaufstand" beginnt, dann mit wichtiger Miene die Losung der „äußersten Opposition" aufgestellt wird!! Überlegt doch, Herrschaften, was es bedeutet, in der Epoche eines Aufstandes die „äußerste Opposition" zu bilden! Bedeutet das, die Regierung zu entlarven oder sie zu stürzen? Bedeutet das, gegen die Regierung zu stimmen oder ihrer Militärmacht im offenen Kampfe Niederlagen beizubringen? Bedeutet das, sich zu weigern, der Regierung die Staatskassen aufzufüllen, oder bedeutet das die revolutionäre Beschlagnahme der Staatskasse, um sie für die Bedürfnisse des Aufstandes, für die Bewaffnung der Arbeiter und Bauern, für die Einberufung der konstituierenden Versammlung zu verwenden? Beginnt es euch nicht schon einzuleuchten, Herrschaften, dass der Begriff „äußerste Opposition" nur negative Handlungen zum Ausdruck bringt: entlarven, dagegen stimmen, ablehnen? Und warum? Weil dieser Begriff sich nur auf den parlamentarischen Kampf bezieht und dabei in einer solchen Epoche, in der niemand den „entscheidenden Sieg" als unmittelbares Kampfziel aufstellt. Geht euch nicht das Verständnis dafür auf, dass sich in dieser Hinsicht die Sache in dem Moment kardinal ändert, wo auf der ganzen Linie der entschlossene Ansturm des politisch unterdrückten Volkes zum verzweifelten Kampfe um den Sieg beginnt?

Die Arbeiter fragen uns, ob man nun die unaufschiebbare Sache des Aufstandes energisch in die Hand nehmen müsse. Wie es zu bewerkstelligen sei, dass der begonnene Aufstand siegreich werde? Wie der Sieg ausgenützt werden soll? Welches Programm dann verwirklicht werden könne und müsse? Die Neu-Iskristen, die den Marxismus vertiefen, erwidern: die Partei der äußersten revolutionären Opposition bleiben… Nun, hatten wir nicht recht, als wir diese Ritter Virtuosen des Philistertums nannten?

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