12. Wird der Schwung der demokratischen Revolution abnehmen, wenn die Bourgeoisie von ihr abschwenkt?

12. Wird der Schwung der demokratischen Revolution abnehmen,

wenn die Bourgeoisie von ihr abschwenkt?

Erst nach der Niederschrift der vorhergegangenen Kapitel erhielten wir die von der „Iskra" herausgegebenen Resolutionen der kaukasischen Konferenz der Neu-Iskristen. Pour la bonne bouche (zu guter Letzt) hätten wir uns kein besseres Material wünschen können.

Die Redaktion der „Iskra" bemerkt mit Recht:

In der Grundfrage der Taktik kam die kaukasische Konferenz ebenfalls zu einem Beschluss, der dem auf der allrussischen Konferenz (d.h. der Neu-Iskristen) angenommenen analog ist" (wirklich wahr!) … „Die Frage der Stellung der Sozialdemokratie zur provisorischen revolutionären Regierung entschieden die kaukasischen Genossen im Sinne der schärfsten Ablehnung der neuen Methode, die von der Gruppe Wperjod und den ihr angeschlossenen Delegierten des sogenannten Parteitages propagiert wird.". „Die Formulierung der Taktik der proletarischen Partei in der bürgerlichen Revolution, wie sie von der Konferenz gegeben wurde, muss durchaus als treffend anerkannt werden."

Was wahr ist, ist wahr. Eine „treffendere" Formulierung des Grundfehlers der Neu-Iskristen hätte niemand geben können. Wir wollen diese Formulierung ganz anführen und vorerst in Klammern auf die Blüten, dann aber auch auf die zum Schluss servierten reifen Beeren aufmerksam machen.

Hier die Resolution der kaukasischen Konferenz der Neu-Iskristen über die provisorische Regierung:

Da die Konferenz es für ihre Aufgabe hält, den revolutionären Moment zur Vertiefung" (Nun natürlich! Man müsste noch hinzufügen: zur Martynowschen Vertiefung!) „des sozialdemokratischen Bewusstseins des Proletariats auszunützen" (nur zur Vertiefung des Bewusstseins und nicht zur Erkämpfung der Republik? Welch „tiefe" Auffassung der Revolution!) „und da sie das Ziel verfolgt, der Partei die absolute Freiheit der Kritik an dem entstehenden bürgerlich-staatlichen Regime zu sichern" (es ist nicht unsere Sache, die Republik zu sichern! Unsere Sache ist nur, die Freiheit der Kritik zu sichern. Anarchistische Ideen erzeugen auch eine anarchistische Ausdrucksweise: „bürgerlich-staatliches Regime"!) „spricht sie sich gegen die Bildung einer sozialdemokratischen provisorischen Regierung und gegen den Eintritt in eine solche Regierung aus" (man erinnere sich an die von Engels zitierte Resolution der Bakunisten zehn Monate vor der spanischen Revolution; siehe Nr. 3 des „Proletarij") „und hält es für das zweckmäßigste, auf die bürgerliche provisorische Regierung einen Druck von außen auszuüben" (von unten, aber nicht von oben) „zwecks einer angemessenen (?!) Demokratisierung des staatlichen Regimes. Die Konferenz glaubt, dass die Bildung einer provisorischen Regierung durch die Sozialdemokraten oder der Eintritt in dieselbe einerseits zum Abfall breiter Massen des Proletariats von der sozialdemokratischen Partei führen würde, die von ihr enttäuscht wären, da die Sozialdemokratie, ungeachtet der Machteroberung, vor der Verwirklichung des Sozialismus nicht imstande sein wird, die dringenden Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu befriedigen" (die Republik ist kein dringendes Bedürfnis! Die Verfasser merken in ihrer Unschuld nicht, dass sie eine rein anarchistische Sprache führen, als ob sie die Teilnahme an bürgerlicher Revolution ablehnten!), „anderseits aber die bürgerlichen Klassen veranlassen würde, von der Revolution abzuschwenken, wodurch ihr Schwung vermindert würde."

Hier also liegt der Hund begraben. Hier verflechten sich die anarchistischen Gedankengänge mit dem reinsten Opportunismus (wie das auch bei den westeuropäischen Bernsteinianern ständig der Fall ist). Man denke bloß: in die provisorische Regierung nicht eintreten, weil dies die Bourgeoisie veranlassen wird, von der Revolution abzuschwenken, wodurch ihr Schwung vermindert würde? Da haben wir ja die neu-iskristische Philosophie in Reinkultur vor uns: weil die Revolution eine bürgerliche Revolution ist, müssen wir uns vor der bürgerlichen Abgeschmacktheit verneigen und ihr den Vorrang lassen. Sobald wir uns, wenn auch nur teilweise, auch nur einen Augenblick lang, von der Erwägung leiten lassen, unsere Teilnahme könnte die Bourgeoisie veranlassen, abzuschwenken, treten wir doch damit die führende Rolle in der Revolution ganz und gar an die bürgerlichen Klassen ab. Wir stellen damit das Proletariat vollkommen unter die Vormundschaft der Bourgeoisie (und bleiben bei der vollen „Freiheit der Kritik" stehen!!), weil wir das Proletariat zwingen, gemäßigt und zahm zu sein, damit die Bourgeoisie nicht abschwenke. Wir beschneiden die dringendsten Bedürfnisse des Proletariats, nämlich seine politischen Bedürfnisse – die die Ökonomisten und ihre Epigonen nie richtig verstanden haben –, damit die Bourgeoisie nicht abschwenke. Wir verlassen ganz den Boden des revolutionären Kampfes für die Verwirklichung des Demokratismus in den Grenzen, wie sie das Proletariat braucht, und betreten den Boden des Schacherns mit der Bourgeoisie, wobei wir mit unserem Verrat an den Prinzipien und an der Revolution die freiwillige Zustimmung der Bourgeoisie („damit sie nicht abschwenke") erkaufen.

Die kaukasischen Neu-Iskristen haben es verstanden, in zwei kurzen Zeilen das ganze Wesen der Taktik des Verrates an der Revolution, der Verwandlung des Proletariats in ein klägliches Anhängsel der bürgerlichen Klassen, auszudrücken. Das, was wir weiter oben aus den Irrtümern des Neu-Iskrismus als Tendenz ableiteten, erhebt sich jetzt vor unseren Augen als klares und bestimmtes Prinzip: im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie zu segeln. Weil die Verwirklichung der Republik die Bourgeoisie veranlassen würde (und schon veranlasst – siehe das Beispiel des Herrn Struve!), abzuschwenken, deshalb: Nieder mit dem Kampf für die Republik! Weil jede energische und folgerichtige demokratische Forderung des Proletariats die Bourgeoisie stets und in der ganzen Welt zum Abschwenken veranlasst, deshalb: „Verkriecht euch in die Löcher, Genossen Arbeiter, wirkt nur von außen ein, denkt nicht daran, die Werkzeuge und die Mittel des „bürgerlich-staatlichen" Regimes für die Revolution auszunutzen, und bewahrt euch die „Freiheit der Kritik".

Die grundfalsche Auffassung des Begriffs „bürgerliche Revolution" tritt hier klar zu Tage. Diese Martynowsche oder neu-iskristische „Auffassung" führt stracks zum Verrat der Sache des Proletariats an die Bourgeoisie.

Wer den alten Ökonomismus vergessen hat, wer ihn nicht studiert, an ihn nicht zurückdenkt, der wird auch die heutige Neuauflage des Ökonomismus nur schwerlich begreifen. Man denke an das bernsteinianische „Credo"! Aus „rein proletarischen" Anschauungen und Programmen folgerten die Leute: wir Sozialdemokraten brauchen die Ökonomie, die wahre Arbeitersache, die freie Kritik jedweden Politikantentums, die wahre Vertiefung der sozialdemokratischen Arbeit. Ihnen, den Liberalen, kommt die Politik zu. Bewahre uns Gott davor, in „Revolutionarismus" zu verfallen; das würde die Bourgeoisie veranlassen, abzuschwenken. Wer das ganze „Credo" oder nur die Sonderbeilage zu Nr. 9 der „Rabotschaja Mysl" (September 1899) durchliest, der wird diese ganzen Gedankengänge finden.

Jetzt sehen wir dasselbe, nur in großem Maßstabe, in Anwendung auf die Bewertung der ganzen „großen" russischen Revolution, die durch die Theoretiker des orthodoxen Philistertums leider schon im Voraus banalisiert und zur Karikatur herabgewürdigt wird! Uns Sozialdemokraten gebührt die Freiheit der Kritik, die Vertiefung des Bewusstseins, die Einwirkung von außen. Ihnen, den bürgerlichen Klassen, sei die Freiheit der Tat, freie Bahn für die revolutionäre (lies: liberale) Führung und die Freiheit der Durchführung der „Reformen" von oben überlassen.

Diese Verballhorner des Marxismus haben sich niemals Gedanken gemacht über Marx' Worte von der Notwendigkeit, die Waffe der Kritik durch die Kritik der Waffen zu ersetzen. Sie führen den Namen von Marx im Munde und fassen in Wirklichkeit taktische Resolutionen ganz im Geiste der Frankfurter bürgerlichen Schwätzer, die den Absolutismus frei kritisierten, das demokratische Bewusstsein vertieften und nicht verstanden, dass die Zeit der Revolution eine Zeit der Aktion, der Aktion sowohl von oben als auch von unten, ist. Indem sie den Marxismus in ein Geschwätz verwandelten, machten sie aus der Ideologie der fortgeschrittensten, entschlossensten und tatkräftigsten revolutionären Klasse eine Ideologie ihrer rückständigsten Schichten, die sich vor den schwierigen revolutionär-demokratischen Aufgaben drücken und diese demokratischen Aufgaben den Herren Struve überlassen.

Wenn die bürgerlichen Klassen von der Sache der Revolution abschwenken, weil die Sozialdemokratie in die revolutionäre Regierung eintritt, so werden sie dadurch „ihren Schwung abschwächen".

Hört, russische Arbeiter: der Schwung der Revolution wird stärker sein, wenn sie von den durch die Sozialdemokraten nicht abgeschreckten Herren Struve durchgeführt wird, die nicht den Sieg über den Zarismus, sondern einen Pakt mit dem Zarismus erstreben. Der Schwung der Revolution wird stärker sein, wenn von den beiden oben umrissenen Ausgangsmöglichkeiten die erste eintrifft, d.h. wenn sich die monarchistische Bourgeoisie mit dem Absolutismus auf eine „Konstitution" in der Art der Schipowschen einigt!

Sozialdemokraten, die in Resolutionen, die für die Führung der gesamten Partei bestimmt sind, solche schändliche Sachen schreiben, oder die solch „treffende" Resolutionen billigen, sind durch das Räsonieren, das aus dem Marxismus den ganzen lebendigen Geist ausgemerzt hat, so sehr geblendet, dass sie nicht merken, wie diese Resolutionen all ihre sonstigen guten Worte zur Phrase machen. Man nehme einen beliebigen Artikel aus der „Iskra", nehme gar die ominöse Broschüre unseres hervorragenden Martynow, und man wird Reden hören über den Volksaufstand, über die restlose Durchführung der Revolution und über das Bestreben, sich im Kampfe gegen die inkonsequente Bourgeoisie auf die unteren Volksschichten zu stützen. Aber alle diese guten Sachen verwandeln sich ja in eine klägliche Phrase in dem Moment, wo man den Gedanken akzeptiert oder billigt, der „Schwung der Revolution" könnte infolge des Abrückens der Bourgeoisie „schwächer" werden. Eins von beiden, Herrschaften: entweder wir müssen mit dem Volke danach streben, die Revolution durchzuführen und, der inkonsequenten, eigennützigen und feigen Bourgeoisie zum Trotz, einen völligen Sieg über den Zarismus erringen – oder wir lassen dieses „zum Trotz" nicht zu, fürchten, die Bourgeoisie könnte „abschwenken", und dann geben wir das Proletariat und das Volk der Bourgeoisie, der inkonsequenten, eigennützigen und feigen Bourgeoisie preis.

Lasst euch nur nicht einfallen, meine Worte zu missdeuten. Schreit nicht, dass man euch bewussten Verrat vorwerfe. Nein, ihr seid die ganze Zeit unbewusst in den Sumpf gekrochen und nun steckt ihr in ihm drin, ebenso wie die alten Ökonomisten, die auf der schiefen Ebene der „Vertiefung" des Marxismus unaufhaltsam und unwiederbringlich hinab gerutscht sind bis zum antirevolutionären, seelenlosen und leblosen „Klügeln".

Von welchen realen gesellschaftlichen Kräften hängt der „Schwung der Revolution" ab? Habt ihr darüber nachgedacht, Herrschaften? Lassen wir die Kräfte der Außenpolitik, der internationalen Kombinationen beiseite, die für uns jetzt sehr vorteilhaft sind, die wir aber alle, und zwar mit Recht, von der Betrachtung ausschließen, da es sich um die inneren Kräfte Russlands handelt. Schaut euch diese inneren gesellschaftlichen Kräfte an. Gegen die Revolution stehen der Absolutismus, der Hof, die Polizei, das Beamtentum, das Heer und eine Handvoll hohen Adels. Je tiefer die Empörung im Volke ist, desto unzuverlässiger wird das Heer, desto größer werden die Schwankungen im Beamtentum. Ferner ist die Bourgeoisie jetzt im Großen und Ganzen für die Revolution, ereifert sich in Reden über die Freiheit und ergreift immer öfter das Wort im Namen des Volkes und sogar im Namen der Revolution.* Aber wir Marxisten wissen doch alle aus der Theorie und erleben es täglich und stündlich an unseren Liberalen, an den Semstwo-Politikern und an den Oswoboschdjenije-Leuten, dass die Bourgeoisie für die Revolution nur inkonsequent, eigennützig und feige eintritt. Die Bourgeoisie wird in ihrer Masse unbedingt zur Konterrevolution, zum Absolutismus übergehen und sich gegen die Revolution, gegen das Volk stellen, sobald nur ihre engeren, eigennützigen Interessen befriedigt sein werden, sobald sie nur vom konsequenten Demokratismus „abgeschwenkt" sein wird (und sie schwenkt jetzt schon von ihm ab!). Es bleibt das „Volk", d.h. das Proletariat allein ist imstande, zuverlässig bis zum Ende zu gehen, denn es geht viel weiter als die demokratische Umwälzung. Deshalb kämpft auch das Proletariat in den vorderen Reihen für die Republik und weist mit Verachtung die dummen und unwürdigen Ratschläge zurück, darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Bourgeoisie nicht „abschwenke". Die Bauernschaft umfasst neben der Masse der halbproletarischen Elemente auch kleinbürgerliche. Deshalb ist auch die Bauernschaft unbeständig, so dass das Proletariat gezwungen ist, sich zu einer strengen Klassenpartei zusammenzuschließen. Aber die Unbeständigkeit der Bauernschaft ist von der der Bourgeoisie grundsätzlich verschieden, denn die Bauernschaft ist momentan nicht so sehr an der unbedingten Beibehaltung des Privateigentums, als vielmehr an der Enteignung des Großgrundbesitzes, einer der Hauptformen dieses Privateigentums, interessiert. Ohne dadurch sozialistisch zu werden, ohne aufzuhören, kleinbürgerlich zu sein, kann die Bauernschaft zum vollkommenen und höchst radikalen Anhänger der demokratischen Revolution werden. Die Bauernschaft wird unbedingt dahin kommen, wenn nur der aufklärende Gang der revolutionären Ereignisse durch den Verrat der Bourgeoisie und die Niederlage des Proletariats nicht allzu früh abgebrochen wird. Die Bauernschaft wird unter der gezeigten Bedingung bestimmt zur Stütze der Revolution und der Republik werden, denn die siegreiche Revolution allein wird der Bauernschaft auf dem Gebiete der Agrarreformen alles zu bieten vermögen: all das, was die Bauernschaft will, was sie erträumt, was tatsächlich eine Notwendigkeit für die Bauernschaft ist (nicht um den Kapitalismus zu beseitigen, wie sich das die „Sozialrevolutionäre" einbilden, sondern), um aus dem Sumpf des Halbfeudalismus, aus dem Dunkel der Bedrücktheit und Versklavung emporzusteigen und um ihre Lebensbedingungen so weit zu verbessern, als dies im Rahmen der Warenwirtschaft möglich ist.

Noch mehr: nicht nur die radikalen Agrarreformen, sondern auch alle ihre allgemeinen und ständigen Interessen binden die Bauernschaft an die Revolution. Sogar im Kampfe gegen das Proletariat bedarf die Bauernschaft der Demokratie, denn nur das demokratische Regime vermag ihre Interessen genau zum Ausdruck zu bringen und ihr als Masse, als Majorität das Übergewicht zu verleihen. Je aufgeklärter die Bauernschaft sein wird (und seit dem japanischen Kriege geht diese Aufklärung mit einer Geschwindigkeit vor sich, wie sie viele, die gewohnt sind, die Aufklärung nur mit dem Schulmaßstab zu messen, gar nicht ahnen), desto konsequenter und entschlossener wird sie für die vollkommene demokratische Umwälzung eintreten, denn die Volksherrschaft schreckt sie nicht, wie sie die Bourgeoisie schreckt, sondern sie ist für sie von Vorteil. Die demokratische Republik wird zum Ideal der Bauernschaft werden, sobald sie beginnen wird, sich vom naiven Monarchismus zu befreien; denn der bewusste Monarchismus der schachernden (mit dem Oberhaus usw.) Bourgeoisie bedeutet für die Bauernschaft genau dieselbe Rechtlosigkeit, dieselbe Unterdrücktheit und Unwissenheit, nur vielleicht mit etwas europäisch-konstitutionellem Firnis übertüncht.

Das ist der Grund, warum die Bourgeoisie als Klasse naturgemäß und unvermeidlich unter die Fittiche der liberal-monarchistischen Partei strebt, die Bauernschaft als Masse aber unter die Führung einer revolutionären und republikanischen Partei kommen will. Das ist der Grund, warum die Bourgeoisie nicht imstande ist, die demokratische Revolution zu Ende zu führen, die Bauernschaft aber die Revolution zu Ende zu führen vermag; und wir müssen ihr mit allen Kräften dabei helfen.

Man wird mir entgegnen: das braucht man nicht zu beweisen, das ist eine Binsenwahrheit, das begreifen alle Sozialdemokraten ausgezeichnet. Nein, das begreifen diejenigen nicht, die von einer „Schwächung des Schwungs" der Revolution im Falle eines Abfalls der Bourgeoisie reden können. Solche Leute wiederholen die eingepaukten Sätze unseres Agrarprogramms, aber verstehen ihre Bedeutung nicht, denn sonst würden sie sich nicht vor dem aus der ganzen marxistischen Weltanschauung und aus unserem Programm sich ergebenden Begriff der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft fürchten, sonst würden sie den Schwung der großen russischen Revolution nicht auf den Schwung der Bourgeoisie beschränken. Solche Leute widerlegen ihre abstrakten marxistischen, revolutionären Phrasen schlagend durch ihre konkreten antimarxistischen und antirevolutionären Resolutionen.

Wer die Rolle der Bauernschaft in der siegreichen russischen Revolution tatsächlich versteht, der könnte unmöglich davon reden, dass der Schwung der Revolution durch einen Abfall der Bourgeoisie abnehmen würde, denn in Wirklichkeit wird der wahre Schwung der russischen Revolution erst dann einsetzen, der wirkliche, in der Epoche der bürgerlich-demokratischen Umwälzung höchstmögliche revolutionäre Aufschwung erst dann da sein, wenn die Bourgeoisie abschwenken und die Masse der Bauernschaft an der Seite des Proletariats als aktiver Revolutionär auftreten wird. Damit unsere demokratische Revolution konsequent zu Ende geführt werden könne, muss sie sich auf solche Kräfte stützen, die imstande sind, die unvermeidliche Inkonsequenz der Bourgeoisie zu paralysieren (d.h. imstande sind, sie zu „veranlassen abzuschwenken", wovor die kaukasischen Anhänger der „Iskra" eine so unbegründete Angst haben).

Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft zu sich heranzieht, um vereint den Widerstand des Absolutismus gewaltsam zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollziehen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung zu sich heranzieht, um vereint den Widerstand der Bourgeoisie gewaltsam zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren. Das sind die Aufgaben des Proletariats, die sich die Neu-Iskristen in allen ihren Betrachtungen und Resolutionen über den Schwung der Revolution so beschränkt vorstellen.

Man darf nur einen Umstand nicht vergessen, der bei den Betrachtungen über diesen „Schwung" oft außer Acht gelassen wird. Man darf nicht vergessen, dass nicht von den Schwierigkeiten der Aufgabe die Rede ist, sondern davon, auf welchem Wege die Lösung der Aufgabe zu suchen und zu erkämpfen ist. Nicht darum handelt es sich, ob es leicht oder schwierig ist, den Schwung der Revolution mächtig und unbesiegbar zu machen, sondern darum, was zu tun ist, um diesen Schwung zu stärken. Die Differenz betrifft gerade den Grundcharakter und die Richtung unserer Tätigkeit. Wir heben dies hervor, weil unaufmerksame und wenig gewissenhafte Leute diese zwei verschiedenen Fragen nur allzu oft verwechseln: die Frage der Wegrichtung, d.h. der Wahl eines der beiden verschiedenen Wege, und die Frage, ob das Ziel auf dem gegebenen Wege leicht erreichbar ist, ob es nahe liegt.

Diese Frage haben wir bei der vorhergehenden Betrachtung gar nicht berührt, denn diese Frage hat in unserer Partei keine Meinungsverschiedenheiten und Differenzen hervorgerufen. Aber es versteht sich von selbst, dass diese Frage an sich außerordentlich wichtig ist und die sehr ernsthafte Beachtung aller Sozialdemokraten verdient. Es wäre unverzeihlicher Optimismus, die Schwierigkeiten zu vergessen, die mit der Hereinziehung der Massen nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch der Bauernschaft in die Bewegung verbunden sind. An diesen Schwierigkeiten scheiterten wiederholt die Bemühungen, die demokratische Revolution zu Ende zu führen, wobei zumeist die inkonsequente und eigennützige Bourgeoisie triumphierte, die sowohl aus der monarchistischen Verteidigung gegen das Volk „Kapital schlug" als auch „die Unschuld" des Liberalismus … oder der Oswoboschdjenije-Richtung „bewahrte". Aber Schwierigkeit bedeutet noch nicht Undurchführbarkeit. Wichtig ist die Überzeugung von der richtigen Wahl des Weges, diese Überzeugung verstärkt hundertfach die revolutionäre Tatkraft und die revolutionäre Begeisterung, die Wunder zu tun vermögen.

Wie weit die heutigen Sozialdemokraten in der Frage der Wahl des Weges auseinandergehen, wird sofort ersichtlich, wenn man die kaukasische Resolution der Neu-Iskristen mit der Resolution des 3. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands vergleicht. Die Resolution des Parteitages sagt: die Bourgeoisie ist inkonsequent, sie wird unbedingt suchen, uns die Errungenschaften der Revolution zu entreißen. Deshalb, Arbeiter, Genossen, bereitet euch energisch zum Kampf vor! Bewaffnet euch, bringt die Bauernschaft auf eure Seite! Wir werden unsere revolutionären Errungenschaften der eigennützigen Bourgeoisie nicht ohne Kampf abtreten. Die Resolution der kaukasischen Neu-Iskristen sagt: die Bourgeoisie ist nicht konsequent, sie kann sich von der Revolution lossagen. Deshalb, Arbeiter, Genossen, denkt bitte nicht an eine Teilnahme an der provisorischen Regierung, denn dann würde die Bourgeoisie bestimmt abschwenken und der Schwung der Revolution würde abnehmen!

Die einen sagen: Treibt die Revolution vorwärts, bis zum Ende, trotz des Widerstandes oder der Passivität der inkonsequenten Bourgeoisie!

Die anderen sagen: Denkt nicht an eine selbständige Durchführung der Revolution, denn dann würde die inkonsequente Bourgeoisie von ihr abschwenken!

Haben wir da nicht zwei diametral entgegengesetzte Wege vor uns? Ist es nicht offensichtlich, dass die eine Taktik unbedingt die andere ausschließt? Dass die erste Taktik die einzig richtige Taktik der revolutionären Sozialdemokratie, die zweite aber im Wesen eine reine Oswoboschdjenije-Taktik ist?

* Interessant ist in dieser Hinsicht der offene Brief des Herrn Struve an Jaurès, der neulich von diesem in der „Humanité" und von Herrn Struve in Nr. 72 des „Oswoboschdjenije" veröffentlicht worden ist.

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