Referat, Resolutionsentwurf und Rede über die Beteiligung der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung1 auf dem III. Parteitag der SDAPR, 12./25. April–27. April/10. Mai 1905 Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 357-375] I Referat 18. April/1. Mai 1905 Meine Aufgabe ist, die Fragestellung über die Beteiligung der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung darzulegen. Auf den ersten Blick mag es sonderbar erscheinen, dass eine solche Frage aufgetaucht ist. Man sollte glauben, dass die Sache der Sozialdemokratie glänzend steht, und die Wahrscheinlichkeit ihrer Teilnahme an der provisorischen revolutionären Regierung sehr groß ist. In Wirklichkeit ist dem nicht so. Wollte man diese Frage vom Standpunkt der nächsten praktischen Verwirklichung behandeln, so wäre es eine Donquichotterie. Allein diese Frage ist uns weniger durch die praktische Lehre, als vielmehr durch eine literarische Polemik aufgedrängt worden. Man muss stets im Auge behalten, dass Martynow als erster diese Frage noch vor dem 9. Januar aufgerollt hat. Folgendes schrieb er in seiner Broschüre „Zwei Diktaturen" (S. 10 u. 11): „Der Leser stelle sich für einen Augenblick die Leninsche Utopie verwirklicht vor, man stelle sich vor, dass es der Partei, deren Rahmen so eng gezogen ist, dass ihr nur Berufsrevolutionäre als Mitglieder angehören, gelungen ist, den allgemeinen Volksaufstand vorzubereiten, festzusetzen und durchzuführen. Ist es nicht einleuchtend, dass der allgemeine Volkswille sofort nach der Revolution gerade diese Partei zur provisorischen Regierung bestimmen würde? Ist es nicht einleuchtend, dass das Volk gerade dieser Partei und keiner anderen das nächste Schicksal der Revolution anvertrauen würde? Ist es nicht einleuchtend, dass diese Partei, wenn sie das ihr früher vom Volke erwiesene Vertrauen nicht täuschen will, gezwungen, ja verpflichtet wäre, die Macht in ihre Hände zu nehmen und sie zu behalten, bis sie durch revolutionäre Maßnahmen den Sieg der Revolution gefestigt hat?" Eine solche Fragestellung ist unglaublich, aber sie ist eine Tatsache: Martynow findet, dass wir, wenn wir den Aufstand sehr gut vorbereiten und auslösen, in eine verzweifelte Lage geraten würden. Hätten wir unsere Polemik einem Ausländer erzählt, er würde nie an die Möglichkeit einer solchen Fragestellung glauben und uns nicht verstehen. Nur wenn man die Geschichte, der Anschauungen der russischen Sozialdemokratie und den Charakter der „chwostistischen" Ansichten des „Rabotscheje Djelo" kennt, kann man unsere Polemik verstehen. Die Frage wurde so zu einer unaufschiebbaren Frage der Theorie, deren Klärung notwendig ist. Es ist die Frage der Klarheit unserer Ziele. Ich möchte die Genossen sehr bitten, dass sie bei der Erörterung unserer Debatten vor den russischen Praktikern diese Martynowsche Fragestellung mit Nachdruck unterstreichen. In Nr. 96 der „Iskra" ist ein Artikel von Plechanow abgedruckt. Wir schätzten und schätzen Plechanow sehr für alle jene „Kränkungen", die er den Opportunisten zugefügt hat und die ihm die ehrenvolle Feindschaft vieler Leute eingetragen haben. Aber dafür, dass er Martynow verteidigt, können wir ihn nicht schätzen. Hier haben wir es nicht mehr mit dem früheren Plechanow zu tun. Er überschreibt seinen Artikel: „Zur Frage der Machtergreifung". Das engt künstlich die Frage ein. Wir haben nie die Frage so gestellt. Plechanow stellt es so hin, als ob der „Wperjod" Marx und Engels als „Virtuosen des Philistertums" bezeichnet hätte. In Wirklichkeit stimmt das aber nicht, es ist eine kleine Unterschiebung. Die allgemeine Konzeption von Marx in dieser Frage hat der „Wperjod" ausdrücklich als richtig unterstrichen. Die Worte über das Philistertum bezogen sich auf Martynow oder L. Martow. So sehr wir bereit sind, alle, die mit Plechanow zusammenarbeiten, hochzuschätzen, aber immerhin ist Martynow nicht Marx. Umsonst vertuscht Plechanow den Martynowismus. Martynow behauptet, wenn wir ausschlaggebenden Anteil an dem Aufstand nehmen, entsteht für uns die große Gefahr, dass das Proletariat uns zwingen würde, die Macht zu übernehmen. Dieser Gedankengang ist von einer eigenartigen Logik, allerdings einer nach rückwärts gekehrten. Anlässlich dieses eigenartigen Hinweises auf die Gefahr des Sieges im Kampfe gegen den Absolutismus, fragte der „Wperjod" Martynow und Martow, worum es sich denn handle: um die sozialistische oder die demokratische Diktatur? Man zitiert uns die berühmten Worte von Engels über die gefährliche Lage eines Führers, der die Macht im Namen einer Klasse erhalten hat, die für die volle Herrschaft noch nicht reif ist. Wir haben im „Wperjod" auseinandergesetzt, dass Engels auf die gefährliche Lage eines Führers hinweist, wenn dieser postfactum die Divergenz zwischen den Prinzipien und der Wirklichkeit, zwischen den Worten und den Tatsachen feststellt. Eine solche Divergenz führt ins Verderben im Sinne des politischen Zusammenbruchs, nicht der physischen Niederlage. Ihr müsst (das ist der Gedanke von Engels) behaupten, dass die Umwälzung eine sozialistische sei, während sie in Wirklichkeit nur eine demokratische ist. Hätten wir jetzt dem Proletariat Russlands versprochen, dass wir in der Lage seien, ihm heute schon die volle Herrschaft zu sichern, so wären wir in denselben Fehler verfallen, den die Sozialrevolutionäre begehen. Gerade über diesen Fehler der Sozialrevolutionäre, die sagten, die Revolution werde „keine bürgerliche, sondern eine demokratische" sein, haben wir Sozialdemokraten uns immer lustig gemacht. Wir haben stets gesagt, dass die Revolution die Bourgeoisie nicht schwächen, sondern stärken, aber für das Proletariat die notwendigen Bedingungen für einen erfolgreichen Kampf um den Sozialismus schaffen werde. Handelt es sich aber um die demokratische Umwälzung, so haben wir zwei Kräfte vor uns: den Absolutismus und das revolutionäre Volk, d. h. das Proletariat als die kämpfende Hauptkraft und die Bauernschaft und alle möglichen kleinbürgerlichen Elemente. Die Interessen des Proletariats fallen nicht mit denen der Bauernschaft und des Kleinbürgertums zusammen. Die Sozialdemokratie hat immer betont, dass diese Klassendivergenz im Schoße des revolutionären Volkes unvermeidlich ist. Das Objekt des Kampfes kann bei den heftigen Kämpfen aus einer Hand in die andere übergehen. Das revolutionäre Volk erstrebt die Volkssouveränität, alle reaktionären Elemente verteidigen die Souveränität des Zaren. Ein erfolgreicher Umsturz kann daher nichts anderes sein als die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, deren Interessen gegen den Absolutismus des Zaren sich decken. Über die Losung: „Getrennt marschieren, vereint schlagen" sind sich sowohl die „Iskra" wie der „Wperjod" einig, aber der „Wperjod" fügt hinzu, wenn vereint schlagen, dann auch vereint erschlagen und vereint die Versuche des Feindes, das Verlorene wiederzugewinnen, zurückschlagen. Nach dem Sturz des Absolutismus wird der Kampf nicht aufhören, sondern sich verschärfen. Die reaktionären Kräfte werden sich gerade dann erst richtig zum Kampf organisieren. Wenn wir die Parole des Aufstandes gebrauchen, dürfen wir die Sozialdemokratie nicht mit der Möglichkeit des siegreichen Aufstandes schrecken. Wenn wir die Volkssouveränität erkämpft haben, werden wir sie verteidigen müssen – das aber ist eben die revolutionär-demokratische Diktatur. Wir haben gar keine Veranlassung, uns davor zu fürchten. Die Erkämpfung der Republik bedeutet für das Proletariat eine gigantische Errungenschaft, obwohl für den Sozialdemokraten die Republik kein „absolutes Ideal" ist, wie für den bürgerlichen Revolutionär, sondern nur eine Gewähr der Freiheit für den umfassenden Kampf um den Sozialismus. Parvus sagt, dass in keinem Lande die Eroberung der Freiheit so viel Opfer gekostet habe. Das stimmt. Das bestätigt auch die europäische bürgerliche Presse, die als Zuschauer die russischen Ereignisse aufmerksam verfolgt. Der Widerstand des Absolutismus gegen die elementarsten Reformen ist ungeheuer stark, und je stärker die Wirkung, um so stärker die Gegenwirkung. Daher die hohe Wahrscheinlichkeit des vollkommenen Zusammenbruchs des Absolutismus. Die ganze Frage der revolutionär-demokratischen Diktatur hat nur Sinn bei dem vollkommenen Sturz des Absolutismus. Es ist möglich, dass sich bei uns die Ereignisse von 1848-1850 wiederholen werden, d. h. der Absolutismus wird nicht gestürzt, sondern nur eingeschränkt und in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt werden. Dann kann von irgendeiner demokratischen Diktatur keine Rede sein. Sollte aber die absolutistische Regierung wirklich gestürzt werden, so muss sie durch eine andere ersetzt werden. Und diese andere kann nur die provisorische revolutionäre Regierung sein. Sie kann sich nur auf das revolutionäre Volk, d. h. auf das Proletariat und die Bauernschaft stützen. Sie kann nur eine Diktatur sein, d. h. nicht eine Organisation der „Ordnung", sondern eine Organisation des Krieges. Wer eine Festung stürmt, kann, auch nachdem er sie gestürmt hat, nicht auf die Fortsetzung des Krieges verzichten. Entweder – oder: entweder wir nehmen die Festung, um sie zu behalten, oder wir stürmen gar nicht, und erklären, wir wollen nur ein kleines Plätzchen neben der Festung haben. Ich komme nun zu Plechanow. Er wendet eine ganz unrichtige Methode an. Er weicht den wichtigen, prinzipiellen Fragen aus und verlegt sich auf kleinliche Nörgeleien, wobei er gewisse Unterschiebungen gebraucht. Der „Wperjod" behauptet, das Schema von Marx (nämlich das Schema der Ablösung des Absolutismus erst durch die bürgerliche Monarchie und dann durch die kleinbürgerliche demokratische Republik) ist im Allgemeinen richtig, wir wären aber Philister, wenn wir von vornherein nach diesem Schema eine Grenze bestimmen wollten, bis zu der wir gehen dürfen. Es ist also „verlorene Liebesmüh"2, wenn Plechanow Marx verteidigt. Bei der Verteidigung Martynows beruft sich Plechanow auf die „Ansprache" der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten. Und wiederum gibt Plechanow diese „Ansprache" unrichtig wieder. Er lässt es im Dunkeln, dass diese „Ansprache" zu einer Zeit geschrieben wurde, wo der volle Sieg des Volkes bereits misslungen war, trotz des siegreichen Aufstandes des Proletariats in Berlin im Jahre 1848. Die bürgerlich-konstitutionelle Monarchie hatte bereits den Absolutismus abgelöst und folglich konnte von einer provisorischen Regierung, die sich auf das ganze revolutionäre Volk stützte, keine Rede sein. Der ganze Sinn der „Ansprache" besteht darin, dass Marx nach dem Misslingen des Volksaufstandes der Arbeiterklasse riet, sich zu organisieren und vorzubereiten. Eignen sich wirklich diese Ratschläge zur Klärung der Lage in Russland vor Beginn des Aufstandes? Können wirklich diese Ratschläge unsere Streitfrage, die den siegreichen Aufstand des Proletariats voraussetzt, klären? Die „Ansprache" beginnt folgendermaßen: „In den beiden Revolutionsjahren 1848/49 hat sich der Bund in doppelter Weise bewährt; einmal dadurch, dass seine Mitglieder an allen Orten energisch in die Bewegung eingriffen … Der Bund hat sich ferner dadurch bewährt, dass seine Auffassung der Bewegung" (wie sie unter anderem im „Kommunistischen Manifest" niedergelegt war) „als die einzig richtige sich erwiesen hat … Zu gleicher Zeit wurde die frühere feste Organisation des Bundes bedeutend gelockert. Ein großer Teil der Mitglieder, in der revolutionären Bewegung direkt beteiligt, glaubte die Zeit der geheimen Gesellschaften vorüber und das öffentliche Wirken allein hinreichend. Die einzelnen Kreise und Gemeinden ließen ihre Verbindungen mit der Zentralbehörde erschlaffen und allmählich einschläfern. Während also die demokratische Partei, die Partei der Kleinbürgerschaft, sich in Deutschland immer mehr organisierte, verlor die Arbeiterpartei ihren einzigen festen Halt, blieb höchstens in einzelnen Lokalitäten zu lokalen Zwecken organisiert und geriet dadurch in der allgemeinen Bewegung vollständig unter die Herrschaft und Leitung der kleinbürgerlichen Demokraten." Marx stellt also im Jahre 1850 fest, dass in der verflossenen Revolution von 1848, was die Organisation betrifft, die kleinbürgerliche Demokratie gewonnen, die Arbeiterpartei aber verloren hat. Selbstverständlich war die ganze Aufmerksamkeit von Marx darauf gerichtet, dass die Arbeiterpartei nicht wieder ins Schlepptau der Bourgeoisie gerate. „, … die Zentralbehörde hält für höchst wichtig, dass … in diesem Augenblick … wo eine neue Revolution bevorsteht, … die Arbeiterpartei also möglichst organisiert, möglichst einstimmig und möglichst selbständig auftreten muss, wenn sie nicht wieder wie 1848 von der Bourgeoisie exploitiert und ins Schlepptau genommen werden soll." Gerade infolge dieser besseren Organisation der bürgerlichen Demokratie bezweifelt Marx nicht, dass sie die unbedingte Vorherrschaft erhalten wird, wenn sofort eine neue Umwälzung stattfindet. „Dass die kleinbürgerliche Demokratie während der weiteren Entwicklung der Revolution für einen Augenblick den überwiegenden Einfluss in Deutschland erhalten wird, unterliegt keinem Zweifel." Wenn wir alles das in Betracht ziehen, werden wir verstehen, warum Marx in der „Ansprache" von der provisorischen revolutionären Regierung kein Wort sagt. Plechanow ist daher ganz im Unrecht, wenn er behauptet, Marx habe „nicht einmal den Gedanken zugelassen, dass die politischen Vertreter des Proletariats gemeinsam mit den Vertretern des Kleinbürgertums an der Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung arbeiten könnten" („Iskra" Nr. 96). Das ist nicht richtig. Marx behandelt gar nicht die Frage der Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung, Plechanow aber stellt die Sache so hin, als ob Marx diese Frage negativ entschieden hätte. Marx sagt: Wir Sozialdemokraten waren im Schlepptau, wir sind schlechter organisiert, wir müssen uns selbständig organisieren für den Fall, dass das Kleinbürgertum nach dem neuen Umsturz zur Macht gelangt. Martynow zieht aus diesen Voraussetzungen von Marx folgenden Schluss: Wir Sozialdemokraten, die jetzt besser organisiert sind als die kleinbürgerliche Demokratie und eine unbedingt selbständige Partei bilden, müssen Angst haben, dass wir im Falle eines siegreichen Aufstandes genötigt sein werden, an der provisorischen revolutionären Regierung teilzunehmen. Ja, Genosse Plechanow, Marxismus und Martynowismus sind zwei verschiedene Dinge. Um den ganzen Unterschied zwischen der Lage Russlands im Jahre 1905 und der Deutschlands im Jahre 1850 anschaulicher zu zeigen, wollen wir noch auf einige interessante Stellen der „Ansprache" eingehen. Bei Marx war von einer demokratischen Diktatur des Proletariats gar keine Rede, denn er glaubte an die unmittelbare sozialistische Diktatur des Proletariats, die sofort nach der kleinbürgerlichen Umwälzung kommen werde. Über die Agrarfrage zum Beispiel sagt er, dass die Demokratie eine kleinbürgerliche Bauernklasse bilden wolle, die Arbeiter aber müssen im Interesse des Landproletariats und in ihrem eigenen Interesse diesem Plan entgegentreten, sie müssen verlangen, dass das konfiszierte feudale Grundeigentum Staatsgut bleibt und zu Arbeiterkolonien verwandt wird, die das assoziierte Landproletariat mit allen Vorteilen des großen Ackerbaues bearbeitet. Es ist klar, dass bei solchen Plänen Marx von einer demokratischen Diktatur nicht sprechen konnte. Er schrieb nicht am Vorabend der Revolution als ein Vertreter des organisierten Proletariats, sondern nach der Revolution als ein Vertreter der sich organisierenden Arbeiter. Marx hebt als erste Aufgabe hervor: „Die Zentralbehörde wird sich, sobald dies irgend möglich ist, nach dem Sturze der bestehenden Regierungen nach Deutschland begeben, sofort einen Kongress berufen und diesem die nötigen Vorlagen wegen der Zentralisation der Arbeiterklubs … machen." Die Idee einer selbständigen Arbeiterpartei, die bei uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, war also damals neu. Man darf nicht vergessen, dass sich Marx im Jahre 1848, als er die freie und extrem revolutionäre „Neue Rheinische Zeitung" redigierte, auf keine Arbeiterorganisation stützte. Seine Zeitung wurde von radikalen Bourgeois gestützt, die sie beinahe im Stiche ließen, als Marx darin nach den Junitagen über die Pariser Bourgeoisie herfiel. Deshalb wird in dieser „Ansprache" so viel von der selbständigen Organisation der Arbeiter gesprochen. Es wird dort davon gesprochen, dass neben der neuen offiziellen Regierung zugleich eigene revolutionäre Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Arbeiterklubs und Arbeiterkomitees, sei es in Form von Gemeinderäten und Kommunalverwaltungen, errichtet werden müssen. Es wird davon gesprochen, dass die Arbeiter bewaffnet sein und eine selbständige Arbeitergarde bilden müssen. Im zweiten Punkt des Programms wird betont, dass für die Nationalvertretung neben den bürgerlichen Kandidaten Arbeiterkandidaten, möglichst aus Bundesmitgliedern, aufgestellt werden müssen. Wie schwach dieser Bund war, geht daraus hervor, dass Marx die Notwendigkeit der Aufstellung eigener Kandidaten erst beweisen musste. Aus alledem folgt, dass Marx die Frage der Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung nicht erwähnt und nicht entschieden hat, da diese Frage damals keine praktische Bedeutung haben konnte; die ganze Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf die Organisation einer selbständigen Arbeiterpartei. Plechanow sagt ferner in der „Iskra", dass der „Wperjod" keine sachlichen Beweise bringe, dass er sich auf die Wiederholung einiger lieb gewordener Redensarten beschränke, dass der „Wperjod" Marx kritisieren wolle. Stimmt das? Umgekehrt, wir sehen, dass der „Wperjod" die Frage auf eine konkrete Grundlage stellt, indem er die realen gesellschaftlichen Kräfte, die in Russland an dem Kampfe um die demokratische Umwälzung beteiligt sind, berücksichtigt. Plechanow dagegen sagt kein Wort über die konkreten russischen Verhältnisse. Sein ganzes Gepäck beschränkt sich auf ein paar schlecht angebrachte Zitate. Das ist ungeheuerlich, aber es ist so. Die russische Situation ist so sehr von der westeuropäischen verschieden, dass Parvus sogar die Frage, wo denn bei uns die revolutionäre Demokratie sei, stellen konnte. Da Plechanow nicht beweisen kann, dass der „Wperjod" Marx „kritisieren" will, zieht er Mach und Avenarius an den Haaren herbei. Es ist mir absolut unerfindlich, was diese Männer, für die ich nicht die geringste Sympathie habe, mit der Frage der sozialen Revolution zu tun haben sollen. Sie schrieben über individuelle und soziale Organisation der Erfahrung, oder irgend etwas Ähnliches, sie dachten aber wahrhaftig nicht an die demokratische Diktatur. Ist etwa Plechanow bekannt, dass Parvus ein Anhänger von Mach und Avenarius geworden sei? Oder ist es vielleicht um Plechanow so bestellt, dass er gezwungen ist, ganz unpassend sich aus Mach und Avenarius eine Zielscheibe zu machen? Plechanow sagt ferner, dass Marx und Engels bald den Glauben an die nahe bevorstehende soziale Revolution verloren haben. Der Bund der Kommunisten war zerfallen. Es begannen Emigrantenzänkereien, die Marx und Engels damit erklärten, dass es wohl Revolutionäre, aber keine Revolution gab. Plechanow schreibt in der „Iskra": „Die politischen Aufgaben des Proletariats wären von ihnen (von Marx und Engels, die den Glauben an die nahe soziale Revolution verloren hatten) bereits in jener Annahme umschrieben, dass die demokratische Ordnung während einer längeren Zeitperiode vorherrschend bleiben werde. Aber gerade deshalb hätten sie die Beteiligung der Sozialisten an einer kleinbürgerlichen Regierung noch entschiedener verurteilt" („Iskra", Nr. 96). Warum? Keine Antwort. Plechanow verwechselt wieder die demokratische Diktatur mit der sozialistischen, d. h. er verfällt in den Fehler Martynows, vor dem der „Wperjod" wiederholt energisch gewarnt hat. Ohne die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ist in Russland eine Republik unmöglich. Diese Behauptung hat der „Wperjod" auf Grund einer Analyse der realen Situation aufgestellt. Leider kannte Marx diese Situation nicht und schrieb darüber nicht. Und deshalb kann man mit bloßen Zitaten aus Marx die Analyse dieser Situation weder bestätigen noch widerlegen. Über die konkreten Verhältnisse aber sagt Plechanow kein Wort. Noch weniger glücklich ist das zweite Zitat aus Engels. Erstens ist es äußerst befremdlich, dass Plechanow sich auf einen Privatbrief beruft, ohne zu erwähnen, wo und wann er veröffentlicht worden ist.3 Für die Veröffentlichung von Engelsschen Briefen wären wir sehr dankbar, hätten aber gewünscht, ihren vollen Wortlaut zu sehen. Immerhin haben wir einige Anhaltspunkte, um uns ein Urteil über den wahren Sinn des Briefes von Engels zu bilden. Zweitens wissen wir genau, dass die Situation im Italien der neunziger Jahre in keiner Weise der russischen ähnlich war. Italien erfreute sich bereits seit mehr als vierzig Jahren der Freiheit. In Russland kann die Arbeiterklasse von einer solchen Freiheit ohne die bürgerliche Revolution nicht einmal träumen. Folglich konnte die Arbeiterklasse in Italien schon längst eine selbständige Organisation für den sozialistischen Umsturz entwickeln. Turati ist der italienische Millerand. Es ist daher sehr wohl möglich, dass Turati schon damals mit millerandistischen Ideen auftrat. Diese Annahme wird dadurch durchaus bestätigt, dass nach den eigenen Worten Plechanows Engels sich genötigt sah, Turati den Unterschied zwischen einer bürgerlich-demokratischen und einer sozialistischen Umwälzung auseinanderzusetzen. Engels befürchtete also gerade, dass Turati in die schiefe Lage eines Führers geraten werde, der den sozialen Sinn der Umwälzung, an der er teilnimmt, nicht begreift. Folglich müssen wir von Plechanow nochmals wiederholen, dass er den demokratischen und den sozialistischen Umsturz verwechselt. Aber vielleicht kann man bei Marx und Engels eine Antwort finden, nicht über die konkrete russische Situation, sondern über die allgemeinen Prinzipien des revolutionären Kampfes des Proletariats? Die „Iskra" hat wenigstens eine solche allgemeine Frage gestellt. In Nr. 93 schreibt sie: „Der beste Weg, das Proletariat zu einer Partei zu organisieren, die dem bürgerlich-demokratischen Staat oppositionell gegenübersteht, ist der Weg der Entwicklung der bürgerlichen Revolution von unten durch den Druck des Proletariats auf die am Ruder stehende Demokratie." „Der ,Wperjod' will, dass der Druck des Proletariats auf die Revolution (?) nicht nur von der Straße her komme, sondern auch von oben, von den Palästen der provisorischen Regierung." Diese Formulierung ist richtig; der „Wperjod" will das wirklich. Hier haben wir eine wirklich allgemeine prinzipielle Frage vor uns: ist ein revolutionäres Vorgehen nur von unten oder auch von oben zulässig? Auf diese allgemeine Frage kann man bei Marx und Engels eine Antwort finden. Ich meine den interessanten Aufsatz von Engels: „Die Bakunisten an der Arbeit"4 (1873). Engels schildert kurz die spanische Revolution von 1873, als das Land von einem Aufstand der Intransigenten, d. h. der extremen Republikaner, erfasst wurde. Engels betont, dass damals von einer sofortigen Emanzipation der Arbeiterklasse gar nicht die Rede sein konnte. Die Aufgabe bestand darin, für das Proletariat das Zurücklegen der Vorstufen, die die soziale Revolution vorbereiten, abzukürzen und die Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Die spanische Arbeiterklasse konnte diese Möglichkeit nur ausnutzen, wenn sie sich aktiv an der Revolution beteiligte. Daran wurde sie gehindert durch den Einfluss der Bakunisten, und nicht zuletzt durch ihre Idee des allgemeinen Streiks, die von Engels treffend kritisiert wird. Engels schildert unter anderem die Ereignisse in Alcoy, einer Stadt mit 30.000 Fabrikarbeitern. Das Proletariat wurde dort zum Herrn der Situation. Und was hat es dann gemacht? Entgegen den Grundsätzen des Bakunismus war es genötigt, sich an der provisorischen revolutionären Regierung zu beteiligen. „Die Bakunisten“ – sagt Engels – „hatten seit Jahren gepredigt, jede revolutionäre Aktion von oben nach unten sei verderblich, alles müsse von unten nach oben organisiert und durchgesetzt werden." So also beantwortet Engels die allgemeine, von der „Iskra" angeschnittene Frage, ob „von unten" oder „von oben". Das Prinzip der „Iskra": „nur von unten und in keinem Fall von oben" ist ein anarchistisches Prinzip. Die Ergebnisse aus den Ereignissen der spanischen Revolution zusammenfassend, sagt Engels: Die Bakunisten waren gezwungen, gegen ihre eigenen Grundsätze zu handeln, sie „schlugen ihrem … Glaubenssatz ins Gesicht, dass die Errichtung einer revolutionären Regierung nur eine neue Prellerei und ein neuer Verrat an der Arbeiterklasse sei“ (wie uns jetzt Plechanow einreden will), „indem sie ganz gemütlich in den Regierungsausschüssen der einzelnen Städte figurierten, und zwar fast überall als ohnmächtige, von den Bourgeois überstimmte und politisch exploitierte Minderzahl". Also, Engels missfällt nur, dass die Bakunisten in der Minderheit waren, nicht aber, dass sie dort figurierten. Am Schluss der Broschüre sagt Engels, das Beispiel der Bakunisten habe ein „Muster davon geliefert, wie man eine Revolution nicht machen muss". Wenn Martow seine revolutionäre Tätigkeit ausschließlich auf die Aktion von unten beschränken wollte, würde er den Fehler der Bakunisten wiederholen. Doch die „Iskra", die prinzipielle Meinungsverschiedenheiten mit dem „Wperjod" erfunden hat, kommt selbst auf unseren Standpunkt. So sagt Martynow, dass das Proletariat gemeinsam mit dem Volk die Bourgeoisie zwingen müsse, die Revolution bis zu Ende zu führen. Das aber ist eben nichts anderes als die revolutionäre Diktatur des „Volkes", d. h. des Proletariats und der Bauernschaft. Die Bourgeoisie will gar nicht die Revolution bis zu Ende führen. Das Volk jedoch muss das infolge seiner sozialen Lebensbedingungen wollen. Die revolutionäre Diktatur wird es aufklären und in das politische Leben hineinziehen. Die „Iskra" schreibt in Nr. 955: „Sollte aber, unabhängig von unserem Willen, die innere Dialektik der Revolution uns schließlich doch an die Macht bringen, während die nationalen Bedingungen zur Verwirklichung des Sozialismus noch nicht reif sind, so würden wir nicht zurückweichen. Wir würden uns zum Ziele setzen, die engen nationalen Rahmen der Revolution zu sprengen und den Westen auf den Weg der Revolution zu stoßen, wie Frankreich vor 100 Jahren den Osten auf diesen Weg gestoßen hat." Also, die „Iskra" gibt selber zu, dass wir, wenn das Unglück passieren sollte, dass wir siegten, gerade so handeln müssten, wie der „Wperjod" es sagt. In der praktischen Frage folgt also die „Iskra" den Fußstapfen des „Wperjod" und untergräbt ihre eigene Position. Ich verstehe nur nicht, wie man Martow und Martynow gegen ihren eigenen Willen an die Macht schleppen könnte, das ist schon ein vollkommener Unsinn. Die „Iskra" führt Frankreich als Beispiel an. Es war aber ein jakobinisches Frankreich. Im Augenblick der Revolution mit dem Jakobinertum schrecken wollen, ist die größte Abgeschmacktheit. Die demokratische Diktatur ist, wie ich schon sagte, nicht eine Organisation der „Ordnung", sondern eine Organisation des Krieges. Selbst wenn wir Petersburg eroberten und Nikolaus guillotinierten, hätten wir einige Vendées vor uns, und Marx wusste, was er schrieb, als er im Jahre 1848 in der „Neuen Rheinischen Zeitung" an die Jakobiner erinnerte. Er sagte: Der Terrorismus von 1793 war nichts als eine plebejische Manier, mit dem Absolutismus und der Konterrevolution fertig zu werden.6 Auch wir ziehen die „plebejische" Manier, mit dem russischen Absolutismus fertig zu werden, vor und überlassen die girondistischen Manieren der „Iskra". Die russische Revolution hat eine noch nie dagewesene günstige Situation vor sich (volksfeindlicher Krieg, asiatischer Konservativismus der Autokratie usw.). Und diese Situation lässt einen erfolgreichen Ausgang des Aufstandes erhoffen. Die revolutionäre Stimmung des Proletariats wächst nicht täglich, sondern stündlich. Und in einem solchen Augenblick ist der Martynowismus nicht nur eine Dummheit, sondern ein Verbrechen, denn er lähmt den Schwung der revolutionären Energie des Proletariats, drosselt seinen revolutionären Enthusiasmus. Es ist derselbe Fehler, den unter anderen Umständen, nicht in der Frage der demokratischen, sondern der sozialistischen Diktatur, Bernstein in der deutschen Partei gemacht hat. Um euch eine konkrete Vorstellung zu geben, wie in Wirklichkeit diese famosen „Paläste" der provisorischen revolutionären Regierung aussehen, will ich auf noch eine Quelle verweisen. In seiner Abhandlung „Die Reichsverfassungskampagne"7 schildert Engels, wie er sich an der Revolution in der Umgebung dieser „Paläste" beteiligt hat. Er beschreibt z. B. den Aufstand in Rheinpreußen, das eines der industriellsten Zentren Deutschlands war. Die Chancen für den Sieg der demokratischen Partei waren hier besonders günstig. Die Aufgabe bestand darin, alle disponiblen Kräfte auf das rechte Rheinufer zu werfen, die Insurrektion weiter auszudehnen und zu versuchen, hier mittelst der Landwehr den Kern einer revolutionären Armee zu organisieren. Eben dieser Vorschlag wurde von Engels gemacht, als er nach Elberfeld reiste, um das Möglichste zur Ausführung seines Planes zu tun. Und Engels greift die kleinbürgerlichen Führer an, weil sie es nicht verstanden, den Aufstand zu organisieren, keine Geldmittel, z. B. für den Unterhalt der Arbeiter, die auf den Barrikaden kämpften, bereitstellten, usw. Es mussten energischere Maßregeln ergriffen werden, sagt Engels. Der erste Schritt musste sein die Entwaffnung der Elberfelder Bürgerwehr und die Verteilung ihrer Waffen unter die Arbeiter, sodann die Erhebung einer Zwangssteuer für den Unterhalt der so bewaffneten Arbeiter. Doch alle diese Vorschläge gingen einzig und allein von mir aus, sagt Engels. Der löbliche Sicherheitsausschuss war durchaus nicht geneigt, auf dergleichen „terroristische Maßregeln" einzugehen. Wenn also unsere Marx und Engels (will sagen Martynow und Martow) uns mit dem Jakobinertum schrecken, so hat Engels das revolutionäre Kleinbürgertum gegeißelt, weil es die „jakobinische" Handlungsweise verschmähte. Engels begriff, Krieg führen wollen und dabei auf die Staatskasse und die Staatsmacht – während des Krieges – verzichten, heißt ein unwürdiges Spiel mit Worten treiben. Wo werdet ihr für den Aufstand das Geld hernehmen, wenn er zum Volksaufstand wird, ihr Herren von der neuen „Iskra"? Doch nicht aus der Staatskasse? Das ist doch bürgerlich! Das ist doch Jakobinertum! Über den Aufstand in Baden schreibt Engels: „Die insurrektionelle Regierung fand also bei ihrem Amtsantritt eine fertige Armee, reichlich versehene Arsenale, eine vollständig organisierte Staatsmaschine, einen gefüllten Staatsschatz und eine so gut wie einstimmige Bevölkerung vor … Was unter diesen Umständen zu tun war, ist so einfach und handgreiflich, dass jetzt nach der Unterdrückung des Aufstandes jedermann … es gleich von Anfang gesagt haben will." Man musste Truppen zusammenraffen zum Schutze der Nationalversammlung, „den Rückzug der Preußen und Österreicher… erzwingen und die zitternde deutsche sogenannte Nationalversammlung unter den terrorisierenden Einfluss einer insurgierten Bevölkerung und einer insurgierten Armee stellen … Man musste ferner die Macht der Insurrektion zentralisieren, ihr die nötigen Geldmittel zur Verfügung stellen und durch sofortige Abschaffung aller Feudallasten die große ackerbautreibende Mehrzahl der Bevölkerung bei der Insurrektion interessieren." Alles das musste sofort geschehen, „um dem Aufstand einen ganz anders energischen Charakter zu geben" … „Acht Tage nach Einsetzung des Landesausschusses war es schon zu spät." Wir sind überzeugt, dass die revolutionären Sozialdemokraten, die im Moment des Aufstandes in Russland, nach dem Beispiel von Engels, sich als Soldaten der Revolution zur Verfügung stellen werden, ebensolche „jakobinische" Ratschläge erteilen werden. Unsere „Iskra" jedoch zieht es vor, über die Farbe der Umschläge für die Stimmzettel zu schreiben und die Frage der provisorischen revolutionären Regierung und des revolutionären Schutzes der konstituierenden Versammlung in den Hintergrund zu schieben. Unsere „Iskra" will auf keinen Fall „von oben" wirken. Aus Karlsruhe ging Engels nach der Pfalz. In der provisorischen Regierung saß sein Freund d'Ester (der ihn einst aus der Haft befreit hatte). „Von einer offiziellen Beteiligung an der Bewegung, die unserer Partei ganz fremd stand, konnte natürlich auch hier keine Rede sein", sagt Engels. Er wollte in der Bewegung „die einzige Stellung einnehmen, die die ,Neue Rheinische Zeitung' in dieser Bewegung einnehmen konnte: die des Soldaten". Wir sprachen schon von dem Zerfall des Bundes der Kommunisten, wodurch Engels fast jede Verbindung mit Arbeiterorganisationen fehlte. Das macht das von uns hier angeführte Zitat verständlich. „Es versteht sich“ – schreibt Engels –, „dass auch mir Zivil- und militärische Stellen in Menge angetragen wurden, Stellen, die ich in einer proletarischen Bewegung anzunehmen keinen Augenblick gezaudert hätte. Ich lehnte sie unter diesen Umständen sämtlich ab." Wie man sieht, fürchtete Engels nicht, von oben zu wirken, er fürchtete nicht die zu große Organisiertheit und zu große Stärke des Proletariats, die ihn zur Teilnahme an der provisorischen Regierung hätte führen können. Im Gegenteil, Engels bedauerte, dass die Bewegung nicht ersprießlich genug, nicht proletarisch genug war, weil den Arbeitern jede Organisation fehlte. Und selbst unter diesen Umständen übernahm Engels einen Posten: er diente in der Armee als Adjutant von Willich, übernahm die Herbeischaffung von Munition, transportierte unter ungeheuren Schwierigkeiten Pulver, Blei, Patronen usw. „Für die Republik zu sterben, war das Ziel meines Muts", schreibt Engels. Ich überlasse es euch, Genossen, darüber zu urteilen, ob dieses den Worten von Engels nachgezeichnete Bild der provisorischen Regierung jenen „Palästen" ähnlich sieht, mit denen die neue „Iskra" uns die Arbeiter abspenstig machen will. (Der Redner verliest einen Resolutionsentwurf und erläutert ihn.) II Resolutionsentwurf über die provisorische revolutionäre Regierung8 In Erwägung: 1. dass sowohl die unmittelbaren Interessen des russischen Proletariats als auch seine Interessen im Kampfe für das Endziel, den Sozialismus, die möglichst vollständige politische Freiheit, also die Ersetzung der absolutistischen Regierungsform durch die demokratische Republik erheischen; 2. dass der bewaffnete Volksaufstand, wenn er vollen Erfolg hat, d. h. wenn der Absolutismus gestürzt wird, notwendigerweise die Errichtung einer provisorischen revolutionären Regierung zur Folge haben wird, die allein fähig ist, die volle Freiheit der Agitation zu gewährleisten und eine wirklich den Willen des Volkes zum Ausdruck bringende, auf der Grundlage des allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe gewählte konstituierende Versammlung einzuberufen; 3. dass diese demokratische Revolution in Russland die Herrschaft der Bourgeoisie nicht schwächen, sondern stärken wird, die in einem gewissen Moment, vor nichts zurückscheuend, unvermeidlich versuchen wird, dem Proletariat Russlands einen möglichst großen Teil der Errungenschaften der Revolutionsperiode zu entreißen – beschließt der III. Parteitag der SDAPR: a) in der Arbeiterklasse die Überzeugung von der Notwendigkeit einer provisorischen revolutionären Regierung zu verbreiten und in den Arbeiterversammlungen die Bedingungen für die sofortige vollständige Verwirklichung aller nächsten politischen und ökonomischen Forderungen unseres Programms zu besprechen; b) im Falle des siegreichen Volksaufstandes und der vollständigen Niederwerfung des Absolutismus ist die Beteiligung von Beauftragten unserer Partei an der provisorischen revolutionären Regierung zum Zweck des schonungslosen Kampfes gegen alle konterrevolutionären Versuche und der Verteidigung der selbständigen Interessen der Arbeiterklasse zulässig; c) die unerlässlichen Bedingungen für eine solche Beteiligung sind: strenge Kontrolle der Partei über ihre Beauftragten und unbeirrte Wahrung der Unabhängigkeit der Sozialdemokratie, die eine vollständige sozialistische Umwälzung erstrebt und insofern allen bürgerlichen Parteien unversöhnlich feindlich gegenübersteht; d) unabhängig davon, ob eine Beteiligung der Sozialdemokratie an der provisorischen revolutionären Regierung möglich sein wird, muss in den breitesten Schichten des Proletariats die Idee der Notwendigkeit eines beständigen Drucks des bewaffneten und von der Sozialdemokratie geführten Proletariats auf die provisorische Regierung zur Wahrung, Festigung und Erweiterung der Errungenschaften der Revolution propagiert werden. III Rede 19. April/2. Mai 1905 Im Großen und Ganzen teile ich die Ansicht des Genossen Simin. Es ist natürlich, dass ich als Literat die Aufmerksamkeit auf die literarische Formulierung der Frage gerichtet habe. Die Wichtigkeit des Kampfzieles ist vom Genossen Simin sehr richtig festgestellt worden, und ich stimme ihm vollkommen bei. Man kann nicht kämpfen, wenn man nicht darauf rechnet, den Punkt, um den man kämpft, zu besetzen ... Der Abänderungsantrag des Genossen Simin zu Punkt 2: „dass die Verwirklichung usw. ... die provisorische revolutionäre Regierung sein wird, die allein" usw. – ist durchaus zweckmäßig, und ich akzeptiere ihn gern. Desgleichen den Abänderungsantrag zu Punkt 3 – hier ist es sehr angebracht, darauf hinzuweisen, dass unter den gegebenen sozial-ökonomischen Bedingungen die Bourgeoisie zwangsläufig gestärkt wird. In Punkt a) des resolutiven Teils ist der Ausdruck „das Proletariat wird verlangen" besser als meine Formulierung, weil das Schwergewicht auf das Proletariat verlegt wird. In Punkt b) ist der Hinweis auf die Abhängigkeit vom Kräfteverhältnis durchaus angebracht. Bei dieser Formulierung wird, wie mir scheint, der Abänderungsantrag des Genossen Andrejew hinfällig. Nebenbei, ich möchte die Meinung der russischen Genossen wissen, ob der Ausdruck „nächste Forderungen" klar ist und ob man nicht in Klammern „Minimalprogramm" hinzufügen sollte. In Punkt c) heißt es bei mir „die Bedingungen sind", beim Genossen Simin heißt es „als Bedingung wird gestellt". Offenbar bedarf es hier einer stilistischen Verbesserung. Dort, wo von der Parteikontrolle gesprochen wird, scheint mir meine alte Formulierung: „Wahrung der Unabhängigkeit der Sozialdemokratie" besser zu sein als die vom Genossen Simin vorgeschlagene „Beibehaltung". Unsere Aufgabe ist nicht nur die Unabhängigkeit der Sozialdemokratie „beizubehalten", sondern auch sie stets zu „wahren". Der Abänderungsantrag des Genossen Sosnowski, der sich auf diesen Punkt bezieht, verschlechtert nur die Formulierung, indem er sie verschwommener macht. Die Abänderungsanträge des Genossen Andrejew sind teilweise in den Punkten meiner und des Genossen Simin Resolution mit enthalten. Nebenbei dürfte es kaum angebracht sein, in der Formulierung den Ausdruck provisorische Regierung in der Mehrzahl zu gebrauchen, wie Genosse Andrejew das vorschlägt. Natürlich ist es möglich, dass wir viele provisorische Regierungen haben werden, doch braucht man es nicht zu betonen, da wir keineswegs eine derartige Zersplitterung erstreben. Wir werden stets für eine provisorische Regierung von ganz Russland eintreten und werden uns bemühen, „ein Zentrum, und zwar ein russisches" zu schaffen. 1 Der III. Parteitag der SDAPR fand vom 25. April bis zum 10. Mai 1905 (neuen Stils) in London statt. Anwesend waren 24 Delegierte mit beschließender und 14 mit beratender Stimme. Die menschewistischen Delegierten, die zu diesem Parteitag gewählt wurden, fuhren nicht nach London zum Parteitag, sondern nach Genf zu der von der „Iskra"-Redaktion organisierten menschewistischen Konferenz, die zu gleicher Zeit tagte, wie der Parteitag. Der III. Parteitag der SDAPR war somit der erste bolschewistische Parteitag. Über die Organisationen, die auf dem Parteitag vertreten waren, sowie über die Tagesordnung siehe „Über die Konstituierung des Parteitages", S. 403. Über die Vorbereitung des Parteitages und den Kampf um seine Einberufung, ebenso über seine Ergebnisse unterrichten zahlreiche Artikel. In dem Artikel: „Ein dritter Schritt rückwärts" analysiert Lenin kurz das Ergebnis der menschewistischen Konferenz. Eingehend wird der III. Parteitag der Bolschewiki und die Konferenz der Menschewiki von Lenin behandelt in der Broschüre: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution". Der III. Parteitag wählte ein Zentralkomitee, bestehend aus Lenin, Krassin, Bogdanow, Rykow und Postolowski. Zum leitenden Redakteur des neugeschaffenen Zentralorgans „Proletarij" wurde Lenin bestimmt. Die wichtigsten Resolutionen des III. Parteitages sowie das dort angenommene Organisationsstatut der Partei sind hier. Die hier wiedergegebenen Reden sind keine Stenogramme, sondern meist kurze protokollarische Aufzeichnungen. 2 Die Worte „verlorene Liebesmüh" sind auch im Original deutsch. Die Red. 3 Es handelt sich um einen Brief von Engels an Turati vom 20. Januar 1894. Der Brief wurde gleich nach Engels' Tode in der Halbmonatsschrift „Critica Sociale", die in Mailand unter der Redaktion Turatis erschien, veröffentlicht (Nr. 3, Jahrgang 1894). Der Brief ist später auch von Kautsky in der „Neuen Zeit" zitiert worden. 4 Längere Zitate aus dem Engelsschen Aufsatz: „Die Bakunisten an der Arbeit" bringt Lenin in seinem Artikel: „Über die provisorische revolutionäre Regierung". Der Aufsatz „Die Bakunisten an der Arbeit" erschien zuerst 1873 im „Volksstaat" und wurde später in der Broschüre „Internationales aus dem Volksstaat" (Berlin 1894) nachgedruckt. Eine russische Übersetzung dieses Artikels erschien u. a. auch unter Lenins Redaktion. 5 Das Zitat ist aus einem Artikel Martynow: „Revolutionäre Perspektiven" in Nr. 95 der „Iskra" vom 31. März/13. April 1905 entnommen. 6 Siehe Karl Marx: „Die Bilanz der preußischen Revolution" „[Die Bourgeoisie und die Kontrerevolution“]. Bei Marx heißt es wörtlich: „Der ganze französische Terrorismus war nichts als eine plebejische Manier, mit den Feinden der Bourgeoisie, dem Absolutismus, dem Feudalismus und dem Spießbürgertum fertig zu werden". 7 Die Abhandlung von Engels: „Die deutsche Reichsverfassungskampagne", eine Schilderung und Würdigung des Aufstandes in Rheinpreußen, Baden und der Pfalz im Sommer 1849, an dem Engels selbst als Adjutant Willichs teilgenommen hatte, erschien zuerst 1850 in der „Neuen Rheinischen Revue" 8 Zu diesem Resolutionsentwurf ist auf dem Parteitag von Krassin (Simin) eine Reihe von Abänderungsanträgen eingebracht worden. Den Wortlaut der angenommenen Resolution siehe hier. |