Wladimir I. Lenin: Proletariat und Bauernschaft [„Nowaja Schisn", Nr. 11, 12./25. November 1905 Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 516-520] Der gegenwärtig in Moskau tagende Kongress des Bauernbundes setzt wieder die wichtige Frage des Verhältnisses der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung auf die Tagesordnung. Diese Frage war für die russischen Marxisten bei der Festlegung ihres Programms und ihrer Taktik stets aktuell. Schon in dem ersten, von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" im Jahre 1884 im Auslande veröffentlichten Programmentwurf der russischen Sozialdemokratie war der Bauernfrage die ernsteste Aufmerksamkeit gewidmet. Seit jener Zeit gab es kein einziges bedeutenderes, allgemeinen Fragen gewidmetes marxistisches Werk, kein einziges sozialdemokratisches Presseorgan, das nicht die marxistischen Ansichten und Losungen wiederholt, entwickelt und auf die einzelnen Gelegenheiten angewendet hätte. Jetzt ist die Bauernfrage nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern in ihrer unmittelbarsten praktischen Bedeutung aktuell geworden. Jetzt muss man unsere allgemeinen Losungen in direkte, vom revolutionären Proletariat an die revolutionäre Bauernschaft gerichtete Aufrufe verwandeln. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo die Bauernschaft als bewusster Schöpfer der neuen Formen des russischen Lebens auftritt. Und von dem gesteigerten Bewusstsein der Bauernschaft hängen auch in hohem Maße Verlauf und Ausgang der großen russischen Revolution ab. Was will die Bauernschaft von der Revolution? Was kann die Revolution der Bauernschaft geben? – das sind zwei Fragen, die jeder Politiker und besonders jeder klassenbewusste Arbeiter, der ein Politiker im besten, durch das bürgerliche politische Treiben nicht banalisierten Sinne ist, lösen muss. Die Bauernschaft will Land und Freiheit haben. Darüber können die Ansichten nicht auseinandergehen. Alle klassenbewussten Arbeiter unterstützen mit allen Kräften die revolutionäre Bauernschaft. Alle klassenbewussten Arbeiter wollen und streben danach, dass die Bauernschaft alles Land und die ganze Freiheit erhalte. Alles Land – das bedeutet, sich mit keinerlei Teilzugeständnissen und Almosen zufriedengeben, das bedeutet, nicht auf die Verständigung der Bauern mit den Gutsherren, sondern auf die Aufhebung des gutsherrlichen Grundbesitzes ausgehen. Und die Partei des klassenbewussten Proletariats, die Sozialdemokratie, hat sich dazu in der entschiedensten Weise geäußert: auf ihrem im Mai d. J. abgehaltenen 3. Parteitage hat die SDAPR eine Resolution angenommen, in der direkt von der Unterstützung der revolutionären Forderungen der Bauern bis zur Konfiskation sämtlichen privaten Grundbesitzes gesprochen wird. Diese Resolution zeigt klar, dass die Partei der klassenbewussten Arbeiter die Forderung der Bauern nach dem ganzen Grund und Boden unterstützt. Und in dieser Hinsicht stimmt die von der anderen Hälfte unserer Partei auf ihrer Konferenz angenommene Resolution mit der des 3. Parteitages der SDAPR vollkommen überein. „Die ganze Freiheit" – das bedeutet Wählbarkeit der die öffentlichen und staatlichen Angelegenheiten verwaltenden Beamten und Funktionäre. Die „ganze Freiheit" – das bedeutet restlose Vernichtung einer Staatsgewalt, die nicht ganz und ausschließlich vom Volke abhängt, die nicht vom Volk gewählt, dem Volke verantwortlich und durch das Volk absetzbar ist. Die „ganze Freiheit" – das bedeutet, dass sich nicht das Volk den Beamten unterordnet, sondern die Beamten sich dem Volke unterordnen. Natürlich führen nicht alle für Land und Freiheit kämpfenden Bauern diesen Kampf mit vollem Bewusstsein und gehen so weit, dass sie die Republik fordern. Aber die demokratische Richtung der Forderungen der Bauern steht außer jedem Zweifel. Daher kann die Bauernschaft der Unterstützung dieser Forderungen durch das Proletariat sicher sein. Die Bauern müssen wissen, dass das in den Städten entfaltete rote Banner ein Banner des Kampfes für die dringendsten und brennendsten Forderungen nicht nur der industriellen und der landwirtschaftlichen Arbeiter, sondern auch der Millionen und Abermillionen Kleinbauern ist. Die in den verschiedensten Formen und Gestalten vorhandenen Überreste der Leibeigenschaft liegen noch immer wie ein unerbittliches Joch auf der Bauernmasse, und die Proletarier haben unter dem roten Banner diesem Joch den Krieg erklärt. Aber das rote Banner bedeutet nicht nur die Unterstützung der Bauernforderungen durch das Proletariat. Es bedeutet auch den Kampf für die eigenen Forderungen des Proletariats. Es bedeutet nicht nur Kampf für Land und Freiheit, sondern auch Kampf gegen jede Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Kampf gegen die Armut der Volksmassen, Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals. Und hier erhebt sich vor uns die zweite Frage: Was kann die Revolution der Bauernschaft geben? Viele aufrichtige Freunde der Bauern (darunter z. B. die Sozialrevolutionäre) beachten diese Frage nicht, bemerken nicht ihre Bedeutung. Sie meinen, dass es genüge, die Frage, was die Bauern wollen, aufzuwerfen und zu lösen, und dass es genüge, die Antwort zu erhalten: Land und Freiheit. Das ist ein großer Fehler. Die ganze Freiheit, die ausnahmslose Wählbarkeit sämtlicher Beamten bis zum Staatsoberhaupt werden die Herrschaft des Kapitals nicht beseitigen, den Reichtum weniger und die Armut der Massen nicht aufheben. Auch eine restlose Aufhebung des privaten Grundbesitzes wird weder die Herrschaft des Kapitals noch die Armut der Massen beseitigen. Auch auf dem Boden, der dem ganzen Volke gehört, wird nur jener die Wirtschaft selbständig führen können, der über Kapital verfügt, nur jener, der landwirtschaftliche Geräte, Vieh, Vorräte an Saatgut, überhaupt Geldmittel usw. besitzt. Wer aber außer seinen Arbeitshänden nichts hat, wird immer ein Sklave des Kapitals bleiben, sogar in einer demokratischen Republik, sogar dann, wenn der Boden dem gesamten Volke gehört. Der Gedanke der „Sozialisierung" des Bodens ohne Sozialisierung des Kapitals, der Gedanke an die Möglichkeit einer ausgleichenden Bodennutzung beim Fortbestehen des Kapitals und der Warenwirtschaft ist ein Irrtum. Der Sozialismus hat fast in allen Ländern Europas solche Zeiten durchgemacht, wo diese oder ähnliche Irrtümer von der Mehrheit geteilt wurden. In allen Ländern hat die Erfahrung des Kampfes der Arbeiterklasse die ganze Gefahr dieses Fehlers in der Praxis bewiesen, und die proletarischen Sozialisten Europas und Amerikas haben sich jetzt von ihm freigemacht. Somit bedeutet das rote Banner der klassenbewussten Arbeiter erstens, dass wir den Kampf der Bauern für die ganze Freiheit und alles Land mit allen Kräften unterstützen; zweitens bedeutet es, dass wir dabei nicht stehenbleiben, sondern weitergehen. Wir führen außer dem Kampf für Land und Freiheit den Kampf für den Sozialismus. Der Kampf für den Sozialismus ist der Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals. Diesen Kampf führen vor allem die Lohnarbeiter, die direkt und ganz vom Kapital abhängen. Die Kleinbauern dagegen verfügen zum Teil selbst über Kapital, beuten nicht selten selbst Arbeiter aus. Daher treten nicht alle Kleinbauern in die Reihen der Kämpfer für den Sozialismus ein, sondern nur jene, die entschlossen und bewusst auf die Seite des Gemeinbesitzes gegen den Privatbesitz treten. Aus diesem Grunde sagen die Sozialdemokraten, dass sie zusammen mit der ganzen Bauernschaft gegen die Gutsherren und Beamten kämpfen; außerdem kämpfen sie, die städtischen Proletarier, gemeinsam mit dem Landproletariat gegen das Kapital. Der Kampf für Land und Freiheit ist ein demokratischer Kampf. Der Kampf für die Vernichtung der kapitalistischen Herrschaft ist ein sozialistischer Kampf. Also senden wir dem Bauernbund, der den Beschluss gefasst hat, geschlossen und fest, rückhaltlos und ohne zu schwanken, für die ganze Freiheit und für alles Land zu kämpfen, unsere wärmsten Grüße. Diese Bauern sind echte Demokraten. Wir müssen ihre Fehler im Erfassen der Aufgaben des Demokratismus und des Sozialismus mit Geduld aufhellen, denn es sind Bundesgenossen, mit denen uns der gemeinsame große Kampf verbindet. Diese Bauern sind wirkliche revolutionäre Demokraten, mit denen wir gemeinsam in den Kampf für den vollen Sieg der gegenwärtigen Revolution gehen können und auch gehen werden. Dem Plan des allgemeinen Streiks, dem Beschluss, sich das nächste Mal gemeinschaftlich im Verein sowohl mit den städtischen Arbeitern als auch mit der gesamten Dorfarmut zu erheben – diesem Plan und Beschluss bringen wir die größte und vollste Sympathie entgegen. Alle klassenbewussten Arbeiter werden alle Anstrengungen aufbieten, um bei der Verwirklichung dieses Planes zu helfen. Aber kein Bündnis der Welt, selbst mit den ehrlichsten und entschlossensten revolutionären Demokraten wird die Proletarier ihr noch größeres, noch wichtigeres Ziel – den Kampf für den Sozialismus, für die restlose Vernichtung der Herrschaft des Kapitals, für die Befreiung aller Werktätigen von jeder Ausbeutung – vergessen lassen. Vorwärts, Arbeiter und Bauern, zum gemeinsamen Kampf für Land und Freiheit! Vorwärts, ihr in der internationalen Sozialdemokratie vereinigten Proletarier, zum Kampf für den Sozialismus! |