Wladimir I. Lenin: Die Freunde haben sich gefunden [„Proletarij", Nr. 18, 13./26. September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 278-287] In den letzten Tagen brachten die ausländischen Zeitungen, die die Entwicklung der politischen Krise in Russland äußerst aufmerksam verfolgen, eine Reihe interessanter Meldungen über die Tätigkeit der Semstwo-Männer und der Oswoboschdjenije-Leute. Hier die Meldungen: „Die hiesige1 Konferenz der Adelsmarschälle erzielte nach zweistündiger Beratung ein volles Einverständnis mit dem Minister des Innern über die Wahlen" in die Reichsduma („Vossische Zeitung", 16. IX.). „Aus allen russischen Gouvernements und Städten wird völlige Gleichgültigkeit der Mehrzahl der Wahlfähigen gegenüber den ihnen gewährten politischen Rechten gemeldet" (ebendort2). Golowin (Vorsitzender der Moskauer Semstwo-Verwaltung) verhandelt mit Durnowo (Generalgouverneur von Moskau) über die Genehmigung des Kongresses der Semstwos. Durnowo hat Golowin gesagt, dass er mit den Semstwo-Männern ganz und gar sympathisiert, aber den Befehl habe, den Kongress mit allen Kräften zu verhindern. Golowin berief sich auf den Kongress der Professoren. Durnowo antwortete, dass „das etwas ganz anderes sei, da die Hochschüler zum Beginn der Studien auf jeden Fall überredet werden mussten" („Frankfurter Zeitung", 17. IX.3). „Der Semstwokongress ist zwecks Beratung des Wahlprogramms für den 25. September in Moskau genehmigt worden, unter der Bedingung, dass er sich streng auf diese Frage beschränkt" („Times", 18. IX. Depesche aus Petersburg). „Herr Golowin besuchte heute den Generalgouverneur zwecks einer Besprechung über den bevorstehenden Semstwokongress. Seine Exzellenz erklärte, dass der Kongress genehmigt sei; aber sein Programm müsse sich auf drei Fragen beschränken: 1. Die Beteiligung der Semstwos und der Städte an den Wahlen in die Reichsduma; 2. die Organisation der Wahlkampagne; 3. die Beteiligung der Semstwos und Städte an der Hungerhilfe" (ebendort, Moskauer Depesche4). Die Freunde haben sich gefunden, die Freunde haben sich verständigt. Die Verständigung zwischen Golowin (Führer der Semstwo-Partei) und Durnowo ist erreicht. Nur Säuglinge konnten nicht sehen, dass die Verständigung auf gegenseitigen Zugeständnissen, auf dem Prinzip do ut des (ich gebe dir, du gibst mir) beruht. Wie weit der Absolutismus nachgegeben hat, ist klar: er hat den Kongress genehmigt. Wie weit die Semstwo-Partei (oder Oswoboschdjenije-Partei? Allah soll sie auseinanderhalten! Aber lohnt es sich denn, sie auseinanderzuhalten?) nachgegeben hat, darüber spricht niemand. Die Bourgeoisie hat allen Grund, ihre Verhandlungen mit dem Absolutismus zu verheimlichen. Aber wenn wir noch nicht die Einzelheiten kennen, so kennen wir doch sehr gut das Wesen der Zugeständnisse der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie hat dem Absolutismus versprochen, ihren revolutionären Eifer zu dämpfen, der darin bestand, dass man Petrunkjewitsch am Hofe für einen gewesenen Revolutionär hielt… Die Bourgeoisie hat versprochen, das Rabattchen mit einem Rabatt zu beantworten.5 Das Ausmaß des Rabatts ist uns unbekannt. Wir wissen aber, dass der von der Bourgeoisie geforderte „Preis" zwei Seiten hatte: für das Volk – eine monarchistische Verfassung mit zwei Kammern; für den Zaren – die Einberufung der Volksvertreter und nur das (denn gegenüber Nikolaus II. von mehr zu sprechen, wagte die famose Delegation der Semstwo-Männer nicht). Und von diesem zweiseitigen Preis hat die Bourgeoisie jetzt dem Absolutismus noch einen Rabatt gewährt. Die Bourgeoisie hat versprochen, untertänig, loyal und legal zu sein.* Die Freunde haben sich gefunden und verständigt. Ungefähr zu derselben Zeit haben andere Freunde angefangen, sich zu finden und sich zu verständigen. Der Petersburger Berichterstatter des Börsenblattes „Frankfurter Zeitung" (2/15. September) meldet, dass ein geheimer Kongress des Oswoboschdjenije-Verbandes stattgefunden habe, und zwar, wie es scheint, in Moskau.6 „Auf dieser Versammlung wurde beschlossen, den Verband der „Oswoboschdjenije" in eine demokratisch-konstitutionelle Partei umzuformen, und zwar wurde dieser Antrag von den zum Verbande gehörenden Semstwo-Männern gestellt und von der Versammlung einstimmig angenommen. Hierauf wurden 40 Verbandsmitglieder gewählt, die den Auftrag erhielten, das Parteiprogramm auszuarbeiten und zu redigieren. Diese Kommission wird ihre Funktion demnächst beginnen." Erörtert wurde die Frage der Reichsduma. Nach lebhafter Debatte wurde beschlossen, „sich an den Wahlen zu beteiligen, jedoch mit der Bedingung, dass die gewählten Parteimitglieder an der Reichsduma, nicht um die laufenden Angelegenheiten zu erledigen, sich beteiligen, sondern nur sich wählen lassen, um in der Reichsduma selbst den Kampf aufzunehmen." In den Debatten wurde darauf hingewiesen, dass ein breiter (oder weitgehender) Boykott der Wahlen nicht möglich sei, nur ein solcher aber Sinn hätte. (Hat denn in eurer Versammlung, Herrschaften, niemand den Zwischenruf gemacht: Sage nicht: Ich kann nicht, sondern sage: Ich will nicht? Anmerk. d. Red. d. „Proletarij"). „Die Versammlung erachtet jedoch, dass die Reichsduma ein gutes Terrain für die Propaganda demokratischer Ideen sei. ,Ein jeder wahre Freund des Volkes', heißt es im Protokoll der Versammlung, ,ein jeder Freund der Freiheit wird nur in die Reichsduma gehen, um für einen konstitutionellen Staat zu kämpfen'." (Man erinnere sich an den Oswoboschdjenije-Mann –ss–, der allen und jedem erläuterte, dass das Schwergewicht für die radikale Intelligenz in der Erweiterung des Wahlrechts, für die Semstwo-Männer, Großgrundbesitzer und Kapitalisten aber in der Ausdehnung der Rechte der Reichsduma liege. Red. d. „Proletarij"). „Hierbei wird von der Versammlung darauf hingewiesen, dass die demokratischen Reichsdumavertreter bei diesem Kampfe einen völligen Bruch mit der gegenwärtigen Regierung" (im Original gesperrt) „im Auge behalten müssten und einen solchen nicht scheuen dürften. Diese Resultate der Versammlung werden natürlich vervielfältigt und verbreitet werden." (Die Redaktion des „Proletarij" hat bis jetzt aus Russland weder dieses Flugblatt noch Kenntnis von ihm erhalten.) „Im Hinblick auf den weitgehenden Einfluss der ,Oswoboschdjenzy', wie sich die Mitglieder des Verbandes nennen, zu denen die verschiedensten Gesellschaftskreise gehören und die von Semstwo-Männern geführt werden, gewinnt eine solche Wahlagitation in den ihnen nahestehenden, dem Zensus genügenden Kreisen große Bedeutung, und es steht außer Zweifel, dass ein fester Kern von ,Oswoboschdjenzy' in die Reichsduma eindringen und dort die Linie abgeben wird, sobald sich die Reichsduma in eine wirkliche Volksvertretung verwandelt. Gelingt es diesen Radikalen, die Kandidaten der gemäßigten Semstwos und Städte zu sich herüber zu ziehen, so kann es zur Proklamierung einer Konstituierenden Versammlung kommen. Die Beteiligung der politischen russischen Parteien an den Wahlen scheint somit außer Frage gestellt, da sich ja auch der ,Verband der Verbände' schließlich für eine solche erklärt hat, nur der jüdische ,Bund' agitiert gegen die Dumawahlen, wie denn überhaupt die Arbeiter in verschiedenen Städten, so in Kowno und Jekaterinburg auf großen Meetings kategorisch gegen die Reichsduma, aus der sie ausgeschlossen sind, Stellung genommen haben". So schreibt der Berichterstatter einer deutschen bürgerlichen Zeitung die Geschichte der russischen Revolution. Wahrscheinlich enthalten seine Berichte einzelne Unrichtigkeiten, im Großen und Ganzen aber stehen sie ohne Zweifel der Wahrheit nahe – selbstverständlich, so weit die Tatsachen in Betracht kommen. nicht die Prophezeiungen. Welches ist nun der wahre Sinn der von ihm geschilderten Tatsachen? Die Bourgeoisie Russlands maklert, wie wir schon hunderte Mal gezeigt haben, zwischen dem Zaren und dem Volke, zwischen der Macht und der Revolution, wobei sie die Revolution ausnützen möchte, um sich in ihrem Klasseninteresse die Macht zu sichern. Daher muss sie, so lange sie die Macht noch nicht errungen hat, nach der „Freundschaft" sowohl mit dem Zaren als auch mit der Revolution streben. Und so strebt sie eben. Den angesehenen Golowin schickt sie zu Durnowo, damit er sich mit ihm befreunde. Den anonymen Federfuchser schickt sie aus, damit er sich mit dem „Volk", der Revolution befreunde. Dort haben sich die Freunde gefunden und geeinigt. Hier strecken sie die Hand aus, nicken freundlich mit dem Kopf, versprechen, aufrichtige Freunde des Volkes und der Freiheit zu sein, beteuern, an der Duma nur um des Kampfes willen, ausschließlich um des Kampfes willen teilzunehmen, schwören, dass sie mit der gegenwärtigen Regierung vollständig und endgültig brechen werden, ja sie bieten sogar eine Perspektive der Proklamierung der konstituierenden Versammlung. Sie tun radikal, kommen den Revolutionären entgegen, biedern sich ihnen an, um von ihnen als Freunde des Volkes und der Freiheit bezeichnet zu werden, und sind bereit, alles mögliche zu versprechen – vielleicht beißt man an! Und man hat angebissen! Die neue „Iskra", mit Parvus an der Spitze, hat angebissen. Die Freunde haben sich gefunden und Verhandlungen über die Verständigung begonnen. Man muss von den Oswoboschdjenije-Leuten, die in die Duma gehen, eine revolutionäre Verpflichtung verlangen, ruft Tscherewanin („Iskra", Nr. 108). Wir sind einverstanden, vollständig einverstanden – antworten die Oswoboschdjenije-Leute –, wir werden die konstituierende Versammlung proklamieren. Man muss einen Druck ausüben, damit nur entschiedene Anhänger einer freien und demokratischen Vertretung gewählt werden, echot Martow (Wiener „Arbeiter-Zeitung", übersetzt in „Proletarij", Nr. 15). Freilich, freilich – antworten die Oswoboschdjenije-Leute–, wir sind bei Gott die Entschiedensten, wir gehen auf den vollen Bruch mit der heutigen Regierung los. Man muss sie daran erinnern, dass sie verpflichtet sind, die Interessen des Volkes zu vertreten, man muss sie zwingen, die Interessen des Volkes zu vertreten – donnert unser Ledru-Rollin, Parvus. Oh ja – antworten die Oswoboschdjenije-Leute –, wir haben es sogar ins Protokoll eingetragen, dass wir aufrichtige Volksfreunde, Freunde der Freiheit sind. Man muss politische Parteien bilden, verlangt Parvus. Schon gemacht – antworten die Oswoboschdjenije-Leute –,wir nennen uns schon konstitutionell-demokratische Partei. Man muss ein klares Programm haben, beharrt Parvus. Aber bitte – antworten die Oswoboschdjenije-Leute –, wir haben ja 40 Personen eingesetzt, ein Programm zu schreiben, an uns soll es nicht fehlen, bitte!… Man muss eine Vereinbarung abschließen zur Unterstützung der Oswoboschdjenije-Leute durch die Sozialdemokraten, schließen im Chor alle Neu-Iskristen. Die Oswoboschdjenije-Leute vergießen Tränen der Rührung. Golowin fährt zu Durnowo, um ihm einen Gratulationsbesuch abzustatten. Wer sind hier die Komödianten und wer die Genarrten? Alle Fehler der iskristischen Taktik in der Dumafrage haben nun zu dem natürlichen und unvermeidlichen Ende geführt. Die schändliche Rolle, die die „Iskra" mit ihrem Kampf gegen die Idee des aktiven Boykotts gespielt hat, ist jetzt allen und jedem sichtbar. Und wem die iskristische Taktik von Nutzen gewesen ist, das unterliegt jetzt keinem Zweifel mehr. Die Idee des aktiven Boykotts ist von der Mehrheit der monarchistischen Bourgeoisie begraben worden. Die iskristische Taktik wird von der Mehrheit der russischen Sozialdemokratie begraben werden. Parvus hat sich so weit verstiegen, dass er von der formalen Verständigung mit den Oswoboschdjenije-Leuten (den „Demokraten") , von der sie und die Sozialdemokraten bindenden allgemeinen politischen Verantwortung und von der Unterstützung 4er Oswoboschdjenije-Leute durch die Sozialdemokraten auf Grund genau festgelegter Bedingungen und Forderungen zu reden begann. Diesen Unsinn und diese Schmach werden wahrscheinlich sogar die Neu-Iskristen verleugnen. Aber Parvus hat nur in offener und gröberer Form die Grundidee des Neu-Iskrismus zum Ausdruck gebracht. Die formale Unterstützung, die von Parvus vorgeschlagen wird, ist nur die unvermeidliche Schlussfolgerung aus jener moralischen Unterstützung, die die neue „Iskra" der monarchistischen Bourgeoisie die ganze Zeit dadurch erwiesen hat, dass sie den aktiven Dumaboykott verurteilte, die Idee der Beteiligung der Demokraten an der Duma rechtfertigte und verteidigte und sich dem Parlamentsspiel unter Verhältnissen ergab, wo noch gar kein Parlament vorhanden war. Nicht umsonst wurde gesagt: Parlament haben wir noch keines, aber parlamentarischen Kretinismus“ gibt es, soviel nur beliebt. Der Grundfehler der Neu-Iskristen hat sich offenbart. Sie haben gegenüber der Theorie der Verständigung, dieser grundlegenden politischen Theorie des Oswoboschdjenijetums, diesem stärksten und richtigsten Ausdruck der Klassenstellung und der Klasseninteressen der Bourgeoisie Russlands, die ganze Zeit hindurch beide Augen zugedrückt. Sie haben nur auf die eine Seite der Sache: auf die Konflikte der Bourgeoisie mit dem Absolutismus Gewicht gelegt und tun das noch heute. Dabei vernachlässigen sie ganz die andere Seite der Sache: die Verständigung der Bourgeoisie mit dem Absolutismus gegen das Volk, gegen das Proletariat, gegen die Revolution. Indessen tritt gerade diese zweite Seite immer mehr und mehr in den Vordergrund und gewinnt mit jedem weiteren Schritt vorwärts der Revolution in Russland, mit jedem Monat weiterer Dauer der für die bürgerlichen Anhänger der Ordnung so unerträglichen Lage immer grundlegendere Bedeutung. Der Grundfehler der Neu-Iskristen führte dazu, dass sie die Methoden der Ausnützung der Konflikte zwischen der Bourgeoisie und dem Absolutismus durch die Sozialdemokratie, die Methoden der Entfachung dieser Konflikte durch unsere Anstrengungen von Grund auf falsch bewertet haben. Ja, wir sind verpflichtet, diese Konflikte unbedingt und stets zu entfachen, sowohl ohne Duma als auch vor Einberufung der Duma und in der Duma, wenn sie zusammentritt. Aber das Mittel dieser Entfachung sehen die Neu-Iskristen gar nicht dort, wo sie es sehen sollen. Anstatt das Feuerchen anzuzünden, nachdem man die Fenster eingeschlagen und so dem frischen Luftzug der Arbeiteraufstände Zutritt gewährt hat, erfinden sie im Schweiße ihres Angesichts Spielzeugblasebälge und wollen die revolutionäre Glut der Oswoboschdjenije-Leute durch hanswurstige Forderungen, ja Bedingungen, die sie ihnen stellen, anblasen. Jawohl, wir sind verpflichtet, die Bourgeoisie stets zu unterstützen, wenn sie revolutionär auftritt. Aber diese Unterstützung bestand bei uns (man erinnere sich an das Verhalten der „Sarja" und der alten „Iskra" zum „Oswoboschdjenije") und wird bei der revolutionären Sozialdemokratie stets vor allem und am meisten in der rücksichtslosen Bloßstellung und Brandmarkung jedes verlogenen Schrittes dieser, mit Verlaub zu sagen, „demokratischen" Bourgeoisie bestehen. Insoweit wir auf den Demokratismus der Bourgeoisie einen Einfluss ausüben können, wird dieser Einfluss nur dann real sein, wenn jedes Auftreten eines bürgerlichen Demokraten vor den Arbeitern, vor den aufgeklärten Bauern für ihn eine Hinrichtung sein wird für alle Verrätereien und Fehler dieser Bourgeoisie, für alle ihre nichterfüllten Versprechungen und für alle schönen Worte, die durch das Leben und die Tatsachen widerlegt worden sind. Wenn diese Bourgeoisie, die gestern noch in ganz Europa über den Dumaboykott schrie, heute schon Gemeinheiten begeht, ihre Versprechungen zurücknimmt, ihre Beschlüsse umkrempelt, ihre Resolutionen ummodelt und sich mit allen Durnowos über eine legale Art des Vorgehens einigt – dann dürfen wir diese Lügner, diese Lakaien des Absolutismus nicht moralisch unterstützen, ihnen nicht die Möglichkeit geben, sich herauszuwinden, ihnen nicht gestatten, sich an die Arbeiter mit neuen Versprechungen heranzumachen (die auch wieder zum Teufel gehen werden, wenn die Duma aus einer beratenden zu einer gesetzgebenden Versammlung umgewandelt sein wird). Nein, wir müssen sie brandmarken und das ganze Proletariat von der Unausbleiblichkeit neuer Verrätereien dieser bürgerlichen „Demokratie", die zwischen der Verfassung und Trepow, zwischen der Sozialdemokratie und den Oswoboschdjenije-Leuten einen Ausgleich herbeiführen möchte, eindringlich überzeugen. Wir müssen allen Arbeitern – unter anderem auch auf Grund des Betruges, den die Bourgeoisie in der Frage des Boykotts am Volke verübt hat – beweisen und zeigen, dass alle diese Petrunkjewitsch & Co schon ausgewachsene Cavaignacs und Thiers' sind. Nehmen wir an, dass wir die Aufgabe, diese Duma zu sprengen, bevor sie das Licht der Welt erblickt, nicht bewältigen. Nehmen wir an, die Duma tritt zusammen. Verfassungskonflikte werden in ihr unvermeidlich sein, weil die Bourgeoisie nicht umhin kann, die Macht anzustreben. Auch dann sind wir verpflichtet, dieses Bestreben zu unterstützen, denn die konstitutionelle Ordnung gibt auch dem Proletariat etwas, denn die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse macht den Boden für unseren Kampf für den Sozialismus frei. Alles das ist richtig. Aber hier endet nicht, sondern gerade hier beginnt erst unsere grundlegende Meinungsverschiedenheit mit der neuen „Iskra". Es ist das nicht eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob man den bürgerlichen Demokratismus unterstützen soll, sondern darüber, wie man ihn in der revolutionären Epoche unterstützen, wie man auf ihn einen Druck ausüben soll. Wenn ihr ihren Verrat rechtfertigt oder ihm gegenüber die Augen verschließt, um nur rasch zu einem Kompromiss zu gelangen und recht bald Parlament zu spielen, und wenn ihr ihnen dabei Versprechungen abnehmt und sie Verpflichtungen eingehen lasst, erreicht ihr bloß, dass sie auf euch einen Druck ausüben und nicht ihr auf sie! Wir haben die Revolution erlebt. Die Zeiten der Ausübung eines Druckes durch das geschriebene Wort allein sind vorbei. Die Zeiten der Ausübung eines Druckes auf dem parlamentarischen Wege sind noch nicht gekommen. Einen wirklichen Druck, der keine bloße Spielerei ist, kann nur der Aufstand ausüben. Wenn der Bürgerkrieg das ganze Land erfasst, dann üben die militärischen Kräfte auf dem Wege des unmittelbaren Aufeinanderprallens ihren Druck aus, und alle anderen Versuche, einen Druck auszuüben, sind leere und erbärmliche Phrase. Kein Mensch hat es noch gewagt, zu behaupten, dass die Epoche des Aufstandes für Russland vorbei sei. Und so lange sie nicht vorüber ist, bedeutet jedes Ausweichen vor der Aufgabe des Aufstandes, jeglicher Vorbehalt gegenüber seiner Notwendigkeit, jeder „Nachlass" von unserer Forderung an die bürgerliche Demokratie, sich am Aufstand zu beteiligen – bedeutet jede dieser Handlungen das Strecken der Waffen vor der Bourgeoisie und die Verwandlung des Proletariats in ihr Anhängsel. Das Proletariat hat noch nirgends in der Welt und noch kein einziges Mal die Waffe aus der Hand gegeben, wenn ein ernsthafter Kampf begann, und es ist noch kein einziges Mal vor dem verfluchten Erbe der Unterdrückung und Ausbeutung zurückgewichen, ohne dass es seine Kräfte mit denen des Feindes gemessen hätte. Hier liegen jetzt unsere Werkzeuge zur Ausübung eines Druckes, hier liegen unsere Hoffnungen auf diesen Druck. Niemand kann den Ausgang des Kampfes voraussagen. Siegt das Proletariat, dann werden die Arbeiter und die Bauern und nicht die Golowin und Struve die Revolution machen. Wird das Proletariat geschlagen, dann wird die Bourgeoisie für die in diesem Kampfe dem Absolutismus geleisteten Dienste neue konstitutionelle Belohnungen erhalten. Dann und nur dann wird eine neue Epoche beginnen, ein neues Geschlecht auf den Plan treten, die europäische Geschichte sich wiederholen und der Parlamentarismus für eine Zeitlang der wirkliche Prüfstein der ganzen Politik werden. Ihr wollt aber jetzt einen Druck ausüben? Bereitet den Aufstand vor, predigt ihn, organisiert ihn. Nur im Aufstand liegt die Möglichkeit, dass die Dumakomödie nicht das Ende der russischen bürgerlichen Revolution bedeutet, sondern zum Anfang einer vollständigen demokratischen Umwälzung wird, die einen Brand proletarischer Revolutionen in der ganzen Welt entfacht. Nur im Aufstand liegt die Gewähr, dass unser „vereinigter Landtag" zum Präludium einer konstituierenden Versammlung von anderem als Frankfurter Typus wird, dass die Revolution nicht nur mit einem 18. März (1848) endet und wir nicht nur einen 14. Juli (1789), sondern auch einen 10. August 1792) haben werden. Nur im Aufstand und nicht in den schriftlichen Verpflichtungen der Oswoboschdjenije-Leute liegt die Gewähr, dass aus ihren Reihen einzelne Johann Jacobys hervorgehen, die schließlich, von der Abscheulichkeit der Golowinschen Kriecherei abgestoßen, im letzten Augenblick in die Reihen des Proletariats und der Bauernschaft eintreten werden, um für die Revolution zu kämpfen. 1 Petersburger. D. Red. 2 Die zitierten Worte sind der Korrespondenz „Die Wirren in Russland" in der „Vossischen Zeitung", Abendblatt vom 16. September 1905, entnommen. 3 Die zitierten Worte sind der vom 11. September datierten Petersburger Korrespondenz „Semstwo-Kongress" in der „Frankfurter Zeitung" vom 17. September 1905 (Morgenblatt) entnommen. 4 Die zitierten Worte sind der vom 17. September datierten Petersburger Korrespondenz „The condition of Russia. The National Assembly" („Die Lage in Russland. Die National-Versammlung") in der „Londoner Times" vom 18. September entnommen. 5 Die Worte „ein Konzessiönchen mit einer Konzession beantworten" stammen aus einer Ballade Lunatscharskis „Zwei Liberale". * Am 21. IX. neuen Stils meldete man in den Auslandszeitungen aus Petersburg, dass das Büro des Semstwokongresses für den Kongress, der am 12./25. September stattfinden soll, viele Absagen erhält mit der Begründung, dass das Programm des Kongresses durch die Regierung bedeutend beschnitten worden ist. Wir garantieren nicht für die Richtigkeit dieser Meldung, aber auch wenn es nur ein Gerücht sein sollte, bestätigt es unbedingt unsere Ansicht über die Bedeutung der Unterredung Golowins mit Durnowo. 6 Die zitierten Worte sind der vom 9. September datierten Petersburger Korrespondenz „Eine demokratische konstitutionelle Partei" in der „Frankfurter Zeitung" vom 15. September 1905 entnommen. |