Wladimir I. Lenin: Die Bourgeoisie kuhhandelt mit dem Absolutismus, der Absolutismus kuhhandelt mit der Bourgeoisie [„Proletarij" Nr. 7, 27. Juni/10. Juli 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 532-534] Fast jeder Tag bringt eine Bestätigung dieses „Kuhhandels", auf den wir schon seit langem die Aufmerksamkeit der russischen Proletarier lenken. Hier ein interessantes Telegramm des Herrn Leroux aus Petersburg vom 2. Juli neuen Stils1: Eine Konferenz von Vertretern der Städte und Semstwos am 28. und 29. Juni (15. und 16. Juni alten Stils) hat nochmals (zum hundertsten Male!) konstitutionelle Forderungen ausgearbeitet und sie telegraphisch den Ministerien übermittelt. Die Forderungen sind höher als die üblichen: es wird eine Volksvertretung gefordert unbedingt auf konstitutionellen Grundlagen; die „Bulyginsche" Verfassung wird ausdrücklich verworfen; ferner wird gefordert die sofortige Verkündung der Unantastbarkeit der Person, Redefreiheit usw. Die Konferenz soll einstimmig die Forderung des allgemeinen Wahlrechts angenommen haben (aber nicht in die Petition aufgenommen – wenn man kuhhandelt, darf man nicht alle seine Karten aufdecken!). Wie beurteilt nun der Korrespondent der bürgerlichen Zeitung dieses bedeutsame Steigen der Ansprüche der Herren Grundbesitzer und Fabrikanten? Oh, er urteilt sehr nüchtern: „Es liegt auf der Hand“ – schreibt er –, „dass die Delegierten mehr fordern, um wenigstens etwas zu bekommen. Sicher ist aber auch, dass dieses Etwas, um für sie akzeptabel zu sein, in der Mitte liegen muss zwischen dem, was sie fordern, und dem, was Bulygin ihnen bietet." Ein wahrer Jahrmarkt, auf dem die Bourgeoisie die Interessen und Rechte der russischen Arbeiter und der russischen Bauern verschachert. Wie auf einem Jahrmarkt schlagen der Käufer – die Bourgeoisie – und der Verkäufer – der Zar – einander in die Hände, rufen zum hundertsten Male ihr „letztes Wort" aus, schwören, dass es „sie selbst mehr kostet", drohen fortzugehen – und können sich doch nicht entschließen, ihre enge Freundschaft zu lösen. Wenn der Zar unsere Forderungen nicht erfüllen sollte, sagte „einer der hervorragendsten Vertreter der Semstwokonferenz" zu Herrn Leroux, dann werden wir „an das Volk appellieren". Was ist nun eigentlich unter diesem berühmten „Appell an das Volk" zu verstehen? – fragt sich und seine Leser der französische Korrespondent. Und er antwortet: hier gibt es keine „Vorstadt St. Antoine" (Arbeiterviertel von Paris: vergleiche das Feuilleton in Nr. 2 des „Wperjod"2). Das Volk zieht es vor, nicht auf die Straße zu gehen, sondern zu Hause zu sitzen und auf Tolstoische Art durch Steuerverweigerung zu protestieren!… Verleumdet nicht das Volk, ihr Herren bürgerlichen Verräter der Freiheit! Ihr werdet euch durch keinerlei Verleumdungen vom Schandmal der Feigheit reinwaschen können. Das Volk vergießt sein Blut in ganz Russland. In einer Reihe von Städten, in einer Menge von Dörfern wachsen bei uns unsere eigenen „Vorstädte St. Antoine". Das Volk führt einen verzweifelten Kampf. Wenn ihr wirklich „an das Volk appellieren" wolltet (und nicht bloß eurem Bundesgenossen, dem Zaren, mit diesem Appell drohen), dann hättet ihr nicht Hunderte und Tausende von Rubel für eure Schwatzbuden, sondern Millionen für den bewaffneten Aufstand bereitstellen müssen. Ihr hättet eine Delegation wählen müssen, nicht um beim Zaren zu antichambrieren, sondern um die Beziehungen mit den revolutionären Parteien, mit dem revolutionären Volk aufzunehmen. Der Zar und seine Bande wissen sehr gut, dass ihr außerstande seid, dies zu tun, aus Angst um euren Geldsack, aus Angst vor dem Volke. Deshalb hat der Zar durchaus recht, wenn er euch wie Lakaien trätiert; – wenn er euch immer noch mit denselben Versprechungen, immer noch mit derselben Bulyginschen Verfassung abspeist; – wenn er darauf rechnet, dass ihr nicht einmal wagen werdet, auch gegen das Bulyginsche Almosen entschieden, durch die Tat, zu protestieren. Nicht umsonst berichtete kürzlich der Spezialkorrespondent der Genfer „solid"-liberalen Zeitung „Journal de Genève"3: „Die Liberalen verhehlen sich nicht die Unvollkommenheiten (!) des Bulyginschen Entwurfes, aber sie glauben, dass es notwendig sei, ihn anzunehmen im Interesse des Fortschritts und der Ordnung … Den Regierungsentwurf ablehnen, hieße bewusst die letzte Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang des jetzigen Konfliktes zwischen dem Volk und dem bürokratischen Regime zerstören." (Der letzte Satz vom Korrespondenten selbst unterstrichen.) Die Bourgeoisie will Frieden mit dem Zaren und fürchtet den Volkskrieg gegen den Zaren. Der Zar will Frieden mit der Bourgeoisie, ohne jedoch den von ihm begonnenen und schonungslos fortgeführten Krieg gegen das Volk zu fürchten. Liegt es nicht auf der Hand, dass, falls das Volk keinen vollen Sieg trotz des Verrates der Bourgeoisie erringt, das unausbleibliche Ergebnis dieser Lage eine Bulyginsche Verfassung sein wird? 2 Über die Vorstadt St. Antoine schrieb in Nr. 2 des „Wperjod" A. Lunatscharski in einem Artikel „Skizzen aus der Geschichte des revolutionären Kampfes des europäischen Proletariats". 3 „Journal de Genève" vom 1. Juli 1905. – In den Notizen Lenins mit dem Auszug aus diesem Artikel heißt es unmittelbar hinter dem hier gebrachten Zitat: „Wen der Autor eigentlich als Liberale bezeichnet, sagt er nicht. Die ,Radikalen' sind nach seinen Worten über die ,Parodie auf eine Verfassung' (den Bulyginschen Entwurf) empört". |