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Wladimir I. Lenin 19050710 Der russische Zar sucht beim türkischen Sultan Schutz vor seinem Volke

Wladimir I. Lenin: Der russische Zar sucht beim türkischen Sultan

Schutz vor seinem Volke

[Proletarij" Nr. 7, 27. Juni/10. Juli 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 524-529]

Die ausländische Presse aller Länder und aller Parteien ist voll von Nachrichten, Telegrammen und Artikeln, die sich mit dem Übertritt eines Teils der Schwarzmeerflotte auf die Seite der russischen Revolution beschäftigen. Die Zeitungen finden keine Worte, um ihrem Erstaunen Ausdruck zu geben, um scharf genug die Schmach und Schande zu charakterisieren, mit der sich die absolutistische Regierung bedeckt hat.

Den Gipfel dieser Schmach erreichte die zaristische Regierung mit ihrer Bitte an Rumänien und die Türkei um polizeilichen Beistand gegen die aufständischen Matrosen! Da zeigte es sich, dass die „inneren Türken" für das russische Volk weit gefährlicher sind als alle „äußeren Türken". Der türkische Sultan soll die zaristische Autokratie vor dem russischen Volke schützen; – der Zar kann sich nicht mehr auf die russischen Militärkräfte stützen, und er bettelt fremde Mächte um Hilfe an. Es ist schwer, sich einen schlagenderen Beweis für den völligen Bankrott der zaristischen Macht vorzustellen. Es ist schwer, besseres Material zu finden, um die Soldaten der russischen Armee über ihre Rolle aufzuklären.

Folgendes schreiben die „Times" in ihrem Leitartikel vom 4. Juli (neuen Stils); – es muss bemerkt werden, dass dieses Blatt eines der reichsten und best informierten in der ganzen Welt ist, ein Organ der konservativen englischen Bourgeoisie, das selbst unsere „Oswoboschdjenije-Leute" übermäßig radikal findet, mit den „Schipow-Leuten" sympathisiert usw. Mit einem Wort, niemand wird dieses Blatt verdächtigen, die Kräfte und die Bedeutung der russischen Revolution zu übertreiben.

Die Ohnmacht der russischen Regierung zur See“ – schreiben die „Times" – „fand eine überraschende Bestätigung in jener Note, mit der sie sich, wie gemeldet wird, an die Pforte (d. h. an die türkische Regierung) und die rumänische Regierung gewandt hat. In dieser Note bittet die russische Regierung die genannten Staaten, die meuternden Matrosen der russischen Flotte als gemeine Verbrecher zu betrachten, und warnt sie, dass andernfalls internationale Komplikationen möglich seien. Mit anderen Worten, die Regierung des Zaren hat sich so weit erniedrigt, dass sie den türkischen Sultan und den König von Rumänien anfleht, doch die Güte zu haben, für sie jene Polizeiarbeit zu leisten, die sie selbst zu leisten nicht mehr imstande ist. Es bleibt abzuwarten, ob Abdul Hamid geruhen wird, dem Zaren die erbetene Hilfe zu gewähren oder nicht. Bisher hat der Matrosenaufstand vom Standpunkt seiner Wirkung auf die türkischen Behörden nur das eine Resultat gezeitigt, dass er diese zu einer strengeren Kontrolle als gewöhnlich veranlasste; wobei das erste Opfer dieser Kontrolle am Sonnabend ein russisches Küstenverteidigungsschiff mit dem russischen Botschafter an Bord war, als es abends, nach Eintritt der Dunkelheit, in den Bosporus einlief. Die Türken feuerten auf dieses Schiff einen Schreckschuss ab. Vor einem Jahr hätten die Türken es schwerlich gewagt, auf diese Weise ihre Kontrolle auszuüben. Was die rumänische Regierung anbetrifft, so hat sie korrekt gehandelt, indem sie die Bitte der russischen Regierung, die meuternden Matrosen als gemeine Verbrecher zu behandeln, ignorierte. Das war natürlich von der Regierung einer Nation, die sich selbst achtet, zu erwarten. Die rumänische Regierung ordnete an, dem ,Potemkin' weder Proviant noch Kohlen zu liefern, ließ aber gleichzeitig die 700 Matrosen wissen, dass, falls sie an der rumänischen Küste landen sollten, sie lediglich als ausländische Deserteure angesehen würden."

Also, die rumänische Regierung steht nicht etwa auf Seiten der Revolution, nichts dergleichen! Aber zum Polizeibüttel des allen verhassten und von allen verachteten Zaren aller Reußen will sie sich doch nicht hergeben. Sie lehnt das Ersuchen des Zaren ab. Sie handelt, wie „die Regierung einer Nation, die sich selbst achtet", nur handeln kann.

So spricht man jetzt in Europa von der russischen autokratischen Regierung, so sprechen jene Leute, die sich gestern noch vor dem „großen und mächtigen Monarchen" demütig bückten!

Jetzt bestätigen auch die deutschen Zeitungen diese neue, unerhörte Schmach des Absolutismus. Der „Frankfurter Zeitung" wird unter dem 4. Juli n. St. aus Konstantinopel telegraphiert:

Der russische Botschafter Sinowjew überreichte gestern (der türkischen Regierung) eine Verbalnote des Petersburger Kabinetts, in der mitgeteilt wird, dass etwa 400 russische Seeleute sich nach Versenkung eines Kreuzers vorgestern auf einen englischen Handelsdampfer gerettet hätten, welcher in der Richtung nach Konstantinopel in See gegangen sei. Der Botschafter verlangt von der Pforte die unbedingte Anhaltung des Dampfers bei der Passage des Bosporus und die Verhaftung sowie Auslieferung der meuternden russischen Seeleute. Ein noch nachts auf die Pforte einberufener außerordentlicher Ministerrat beschäftigte sich mit diesem russischen Verlangen … Die Pforte antwortete umgehend der russischen Botschaft mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit der Erfüllung ihrer Forderung, da ihr durch ihre internationalen Verpflichtungen auf einem unter englischer Flagge fahrenden Dampfer keinerlei Polizeirecht zustehe, selbst wenn der Dampfer in einem ihrer Häfen bleibe. Außerdem bestehe zwischen Russland und der Türkei kein Auslieferungsvertrag."

Die Pforte habe „mannhaft" geantwortet – bemerkt aus diesem Anlass das deutsche Blatt. Die Türken wollen keine Polizeibüttel des Zaren sein!

Ferner wird gemeldet, dass, als das Torpedoboot „Stremitelny"* zusammen mit einigen anderen Kriegsschiffen auf der Suche nach dem „Potemkin" in Konstanza (Rumänien) erschien, die rumänische Regierung die Russen darauf aufmerksam machte, dass in den rumänischen Gewässern die Ordnung von der rumänischen Armee und der rumänischen Polizei aufrechterhalten werde, selbst dann, wenn der „Potemkin" noch in den rumänischen Gewässern sein sollte.

Es erweist sich somit, dass nicht der „Potemkin" die fremden Schiffe belästigt (womit die zaristische Autokratie Europa zu schrecken versuchte), sondern dass die Scherereien für sie jetzt von der russischen Flotte kommen. Die Engländer sind empört darüber, dass ihr Schiff „Cranley" in Odessa angehalten und durchsucht wurde. Die Deutschen sind aufgebracht, da Gerüchte wissen wollen, dass die Türken auf Wunsch der Russen den deutschen Dampfer „Pera", der von Odessa nach Konstantinopel unterwegs ist, anhalten und durchsuchen wollen. Unter diesen Umständen wird es vielleicht für Russland gar nicht so leicht sein, von Europa Hilfe gegen die russischen Revolutionäre zu erhalten! Die Frage einer solchen Hilfsaktion wird von sehr vielen ausländischen Zeitungen erörtert, doch sind die meisten von ihnen der Ansicht, dass es nicht Sache Europas sei, dem Zaren in seinem Kampf gegen den „Potemkin" unter die Arme zu greifen. Das deutsche „Berliner Tageblatt" brachte die Meldung, die russische Regierung habe sich an die Großmächte mit der Bitte gewandt, ihre in Konstantinopel liegenden Kriegsschiffe nach Odessa zu schicken, um dort bei der Wiederherstellung der Ordnung behilflich zu sein. Wie weit diese Meldung (die von anderen Zeitungen dementiert wird) den Tatsachen entspricht, wird die nächste Zukunft lehren. Eines jedoch steht fest: der Übergang des „Potemkin" auf die Seite des Aufstandes ist der erste Schritt zur Umwandlung der russischen Revolution in einen internationalen Machtfaktor, indem sie den europäischen Staaten von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt.

Dieser Umstand darf nicht außer acht gelassen werden bei der Einschätzung jenes Berichtes, den Herr Leux unter dem 4. Juli n. St. aus Petersburg an den Pariser „Matin" depeschierte:

An dieser ganzen Affäre des ,Potemkin'“ – schreibt er – „überrascht der Mangel an Voraussicht bei den russischen Behörden, aber man kann nicht umhin, auch die Mängel in der Organisation der Revolution festzustellen. Die Revolution bemächtigt sich eines Panzerkreuzers – ein in der Geschichte einzig dastehendes Ereignis – und weiß nicht, was sie mit ihm anfangen soll."

Hier steckt zweifellos ein großes Stück Wahrheit. Wir tragen unstreitig die Schuld an der ungenügenden Organisation der Revolution. Wir tragen die Schuld an der geringen Einsicht mancher Sozialdemokraten, dass es notwendig ist, die Revolution zu organisieren, den Aufstand mit in die Reihe der dringenden praktischen Aufgaben zu stellen, die Notwendigkeit einer provisorischen revolutionären Regierung zu propagieren. Wir haben es verdient, dass die bürgerlichen Schriftsteller uns, den Revolutionären, jetzt Vorwürfe machen, dass die revolutionären Funktionen schlecht klappen.

Ob aber der Panzerkreuzer „Potemkin" diesen Vorwurf verdient – das möchten wir nicht sagen. Vielleicht verfolgte seine Besatzung gerade das Ziel, sich in dem Hafen einer europäischen Macht zu zeigen? Hat nicht die russische Regierung die Ereignisse in der Schwarzmeerflotte vor dem Volke verheimlicht bis zu dem Tage, an dem der „Potemkin" frei in Rumänien eintraf? Und in Rumänien übergab der revolutionäre Panzerkreuzer den Konsuln eine Proklamation mit der Kriegserklärung an die zaristische Flotte, und einer Bestätigung, dass er sich neutralen Schiffen gegenüber keinerlei feindselige Handlungen erlauben werde. Die russische Revolution hat Europa wissen lassen, dass das russisсhe Volk sich im offenen Krieg mit dem Zarismus befindet. Faktisch macht damit die russische Revolution den Versuch, im Namen einer neuen, einer revolutionären Regierung Russlands aufzutreten. Allerdings ist das nur ein erster, schwacher Versuch – aber „aller Anfang ist schwer", sagt das Sprichwort.

Nach den letzten Meldungen ist der „Potemkin" vor Feodossia erschienen, um Proviant und Kohlen zu fordern. Die städtische Bevölkerung ist erregt. Die Arbeiter fordern, dass dem Ersuchen des revolutionären Panzerkreuzers stattgegeben werde. Die Duma beschließt, den Proviant zu liefern, aber die Kohle zu verweigern. Der ganze Süden Russlands ist so erregt, wie noch nie zuvor. Die Zahl der Opfer des Bürgerkrieges in Odessa wird auf sechstausend Menschen beziffert. Telegramme berichten, dass 160 Aufständische kriegsgerichtlich erschossen worden seien, dass aus Petersburg der Befehl gekommen sei, „keinen Pardon zu geben". Aber das Militär ist machtlos, die Truppen sind selbst unzuverlässig. In den Fabrikvorstädten von Odessa dauern die Unruhen an. In der vergangenen Nacht (vom 4. zum 5. Juli n. St.) wurden 35 Personen getötet. Der größere Teil der Truppen wurde auf Befehl des Generalgouverneurs aus der Stadt herausgebracht, weil unter den Truppen ein ernster Mangel an Disziplin bemerkbar wurde. In Nikolajew und Sewastopol gab es Unruhen in den Regierungsarsenalen. In Sewastopol wurden 13 Personen getötet. In fünf Kreisen des Gouvernements Cherson sind Bauernrevolten ausgebrochen. In den letzten vier Tagen sollen 700 Bauern getötet worden sein „Ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Volk und Bürokratie scheint sich zu entwickeln", heißt es in einem Odessaer Telegramm nach London vom 5. Juli n. St.

Ja, der wirkliche Kampf um die Freiheit, der Kampf auf Leben und Tod beginnt erst. Der revolutionäre Panzerkreuzer hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Wohlan, es lebe die revolutionäre Armee! Es lebe die revolutionäre Regierung!

* Auf dem „Stremitelny" sollen gar keine Matrosen sein. Die ganze Besatzung soll nur aus Offizieren bestehen. Die Aristokratie gegen das Volk.

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