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Wladimir I. Lenin 19050711 Brief an das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

Brief an das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

[Geschrieben am 11. Juli 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht im „Leninski Sbornik" (vom Lenin-Institut periodisch herausgegebenes „Lenin-Archiv") Nr. 5. . Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 1-5]

11. VII. 05.

Liebe Freunde! Eine Reihe von Briefen aus allen Ecken und Enden Russlands, die Nachrichten Alexandrows, eine Unterredung mit Kleschtsch und noch einigen Angekommenen – all das festigt in mir die Überzeugung, dass in der Arbeit des ZK irgendein innerer Defekt vorhanden ist, ein Defekt in der Organisation, in der Anlage der Arbeit. Das Zentralkomitee existiert nicht, niemand fühlt es, niemand bemerkt es – das ist die allgemeine Stimmung. Und die Tatsachen bestätigen das. Eine politische Führung der Partei durch das ZK ist nicht zu sehen. Und dabei arbeiten alle Mitglieder des ZK bis zur Erschöpfung! Woran liegt es also?

Eine der Hauptursachen dieser Erscheinung ist meines Erachtens das Fehlen von regelmäßigen Flugblättern des ZK. In den Zeiten der Revolution die Führung durch mündliche Unterredungen, durch persönlichen Verkehr ausüben zu wollen, ist eine Erzutopie. Die Führung muss öffentlich zur Geltung kommen. Alle andern Formen der Arbeit müssen vollständig und bedingungslos dieser Form untergeordnet werden. Der verantwortliche Literat des ZK muss vor allem darauf bedacht sein, zweimal wöchentlich ein Flugblatt über Parteifragen und politische Themen (die Liberalen, die Sozialrevolutionäre, die Minderheit, die Spaltung, die Semstwodelegation, die Gewerkschaften usw. usw.) zu schreiben (oder von den Mitarbeitern geschrieben zu bekommen, doch muss der Redakteur immer bereit sein, selbst zu schreiben), es auf jegliche Art zu vervielfältigen, sogleich in 50 Exemplaren zu hektographieren (wenn keine Druckerei vorhanden) und es an die Komitees zum Nachdruck zu versenden. Die Artikel aus dem „Proletarij" wären vielleicht manchmal – nach einer gewissen Umarbeitung – für diese Flugblätter geeignet. Ich kann nicht begreifen, weshalb das nicht geschieht?? Haben denn Schmidt und Werner unsere Besprechungen darüber vergessen? Ist es denn wirklich unmöglich, wenigstens ein Flugblatt jede Woche zu schreiben und zu versenden?? Der „Bericht" über den 3. Parteitag wurde in Russland bis jetzt noch nicht vollständig abgedruckt. Das ist eine solche Ungeheuerlichkeit, ein solches Fiasko der ganzen viel gerühmten „Technik" des ZK, dass ich entschieden nicht begreife, woran Winter dachte, woran Sommer und die andern denken. Es gibt doch schließlich auch Druckereien der Parteikomitees?!?

Die Mitglieder des ZK haben augenscheinlich für die Aufgaben des „öffentlichen Auftretens" absolut kein Verständnis. Aber ohne das gibt es kein Zentrum, gibt es keine Partei! Sie arbeiten bis zum Umfallen, aber sie arbeiten wie die Maulwürfe, auf Treffpunkten, in Sitzungen, mit Vertrauensleuten usw. usw. Das ist geradezu ein Raubbau mit den Kräften! Wenn keine Leute vorhanden sind, so nehmt dazu drittklassige, nehmt Kräfte zehnter Klasse, selbst aber übt unbedingt die politische Führung aus und gebt vor allem Flugblätter heraus. Und dann tretet persönlich auf, auf den Bezirkskongressen (auf dem poljessischen Kongress war niemand. Ein Skandal. Sie wären beinahe abgefallen!), auf Konferenzen usw. Man muss geradezu eine Art Tagebuch des ZK, ein Bulletin herausgeben und auf jede ernste Frage zweimal wöchentlich mit einem Flugblatt reagieren. Und es herauszugeben, ist nicht schwer; in 50 Exemplaren hektographieren und versenden, bei irgendeinem Komitee drucken und hierher schicken. Wichtig ist, aufzutreten, immer wieder öffentlich aufzutreten, und nicht länger stumm zu bleiben. Andernfalls sind auch wir hier vollständig abgeschnitten.

Vielleicht wäre es notwendig, das ZK zu ergänzen? Noch ein halbes Dutzend Vertrauensleute heranzuziehen? Ich bin überzeugt, dazu würden sich Leute finden. Praktisch habe ich jetzt das eine vorzuschlagen: in Anbetracht des fast gänzlichen Fehlens einer Korrespondenz zwischen den Mitgliedern des ZK (von Werner und Winter erhielten wir im Ganzen zwei Briefe, von Alexandrow nur Nachrichten von unterwegs, „Reiseeindrücke", nichts weiter) ist es unbedingt notwendig, unsern gemeinsamen Beschluss vom 10. Mai 1905 über die Einberufung des Plenums auf den 1. September 1905 durchzuführen. Schiebt das um Himmelswillen nicht auf, knausert nicht mit 200–300 Rubeln Auslagen. Sonst besteht die große Gefahr, dass es uns nicht gelingt, die Sache richtig zu regeln. Bis jetzt ist sie noch gar nicht geregelt. Das ist aus allen Mitteilungen zu ersehen.

Bis zum 1. September bleiben noch anderthalb Monate. Es ist noch Zeit, mit den Angelegenheiten fertig zu werden und die Reise rechtzeitig zu veranstalten, nachdem man sich auch mit Alexandrow schriftlich darüber ins Einvernehmen gesetzt hat, wer fahren soll. Ich erwarte Antwort.

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