Anmerkung zu dem Artikel M. N. Pokrowskis: „Die berufstätigen Intellektuellen und die Sozialdemokraten"1 [9./22. August 1905 „Proletarij", Nr. 13. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 201] Uns scheint, dass die Meinungsverschiedenheit zwischen dem Verfasser des Artikels „Die Oswoboschdjenije-Leute an der Arbeit" und dem Genossen „Lehrer" weniger bedeutend ist, als dieser glaubt. Wer längere Zeit an der revolutionären Bewegung teilnimmt, gewöhnt sich an den politischen Kampf der Richtungen, eignet sich selbst bestimmte Ansichten an und neigt natürlich dazu, auch bei den anderen bestimmte Ansichten vorauszusetzen und sie auf Grund dieser oder jener Meinung (oder auf Grund des Fehlens einer Meinung) über eine einzelne Frage mit der einen oder der anderen „Partei" in Beziehung zu bringen. Unstreitig ist es für den Agitator in Volksversammlungen nützlich, wenn er außer „politischen" auch „pädagogische" Gesichtspunkte ins Auge fasst, sich in die Lage seiner Zuhörer versetzt, mehr klarlegt als „donnert" usw. Die Extreme taugen nie etwas, aber wenn wir zu wählen hätten, so würden wir die engherzige und unduldsame Bestimmtheit der weichen und nachgiebigen Verschwommenheit vorziehen. Die Furcht vor der „Tyrannei" schreckt nur morsche und knochenweiche Naturen von uns ab. In wem der „Funke" glüht, der wird bald selbst sehen und das Leben wird ihm zeigen, dass die bestimmten und scharfen politischen Äußerungen über den „mythischen Oswoboschdjenije-Mann" vollkommen gerecht sind, und dass er diesen typischen Oswoboschdjenije-Mann nur aus Mangel an politischer Erfahrung als „mythisch" betrachtet hat. Der Genosse „Lehrer", dessen Hinweise angesichts seiner Kenntnis der Umgebung sehr nützlich sind, verzeichnet selbst die Raschheit der „Verdauung bitterer Wahrheiten". 1 Der Artikel Pokrowskis, gezeichnet „Utschitjel" (Ein Lehrer), trug den Titel: „Zuschrift an die Redaktion." Als Anlass zu dieser „Zuschrift“ diente eine Korrespondenz von W. D. Bontsch-Brujewitsch: „Die Oswoboschdjenije-Leute an der Arbeit. Brief aus Moskau", der (ohne Unterschrift) in Nr. 8 des „Proletarij" vom 4./17. Juli 1905 abgedruckt war. Wir fügen hier einige Auszüge aus dem Artikel Pokrowskis an, die zum Verständnis der „Anmerkung" Lenins unerlässlich sind: „Nach dem Briefe (von Bontsch-Brujewitsch. D. Red.) sieht die Sache so aus: die Oswoboschdjenije-Leute, die auf dem letzten Kongress einen bedeutenden Teil ihrer Partei verloren haben, der nach rechts gegangen ist, begannen Ersatz dafür in den Reihen der berufstätigen Intelligenz zu suchen. Daher die Veranstaltung von Kongressen. Gründung von ,beruflich-politischen' Verbänden usw. durch die Oswoboschdjenije-Leute. In diesem Bilde tritt wieder die bekannte Figur des Oswoboschdjenije-Mannes vor unser Auge – die Figur des konsequenten bürgerlichen, der Sozialdemokratie bewusst feindlich gesinnten Liberalen. Dieses von unserer Phantasie geschaffene Fabelwesen hat uns weitaus mehr geschadet als die lebendigen Oswoboschdjenije-Leute…" „Der Kongress (der allrussische Pädagogen-Kongress. D. Red.), von dem der Moskauer Genosse spricht, hat offen zugegeben, dass der Oswoboschdjenije-Bund keine Partei ist und keine sein kann. Unter den verschiedenartigen Elementen dieser ,Nicht-Partei' gibt es freilich auch bürgerliche Demokraten, aber sie bilden bei weitem nicht die Mehrheit. Anderseits gibt es da Schattierungen, die den Sozialdemokraten und den Sozialrevolutionären nahestehen, vor allem aber unbestimmte ,Liberale', die instinktiv vielleicht auch ,bürgerlich' sind, aber bewusst auf keinem Klassenstandpunkt stehen …" „Die Mitglieder des ersten Lehrerkongresses waren, abgesehen von allem anderen, unzweifelhaft auf die Sozialdemokraten wütend… Vor unseren Rednern stand eine im Wesen politisch amorphe, in ihren Idealen selbst noch nicht klare Masse. Und zu ihnen sprach man, wie zu Oswoboschdjenije-Leuten, wie zu Leuten mit einer bestimmten bürgerlichen Richtung, wie zu einem Gegner, den man entweder ummodeln oder zerschlagen muss … Daher der gegen die Sozialdemokraten gerichtete Vorwurf der Engherzigkeit', ,Unduldsamkeit' und ,Tyrannei'…" Wenn Lenin von der raschen „Verdauung bitterer Wahrheiten" spricht, bezieht sich das auf die folgende Stelle im Artikel Pokrowskis: „Einige Wochen nach dem ersten Kongress (der Lehrer. D. Red.) veranstalteten die Sozialdemokraten eine besondere Versammlung für die Moskauer Pädagogen über die Frage des Lehrerverbandes. In dieser Zeit war es sichtlich gelungen, manche bittere Wahrheiten zu verdauen, und das Publikum begann die Dinge einigermaßen zu verstehen. Und was geschah? Die Versammlung, an der Hunderte Lehrer und Lehrerinnen teilnahmen, war ein glänzender Erfolg der Sozialdemokratie und eine solche Niederlage der Oswoboschdjenije-Leute, wie sie besser nicht erwartet werden konnte…" |