J. N. Trubezkoi: Der Krieg und die Bürokratie [„Prawo" Nr. 39, vom 26. September/9. Oktober 1904. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 546-550] Als in der denkwürdigen Nacht des 27. Januar die japanischen Torpedoboote auf der äußeren Reede von Port Arthur erschienen waren, wurden sie von unseren Seeleuten für ihre eigenen gehalten. Man erzählt sich sogar, dass sie mit den Worten empfangen wurden: „Iwan Iwanowitsch, sind Sie es?" Sollten diese Worte wirklich gefallen sein, so hat derjenige, der sie gesprochen hat, zweifellos unsere damalige allgemein-russische Stimmung zum Ausdruck gebracht. Das in tiefen, jahrelangen Schlaf versunkene Russland sah den Feind selbst dann nicht, wo er bereits vor den Mauern Port Arthurs stand. Der Donner der Geschütze hat es nicht gleich wach gemacht, im ersten Augenblick hatte es den Sinn der über es hereingebrochenen Gefahr nicht erkannt: es schien ihm, als ob ein Freund ihm einen Rippenstoß versetzte. Schlaftrunken sprach es: „Iwan Iwanowitsch, sind Sie es?" Die Antwort war eine Explosion! Unwillkürlich fragt man sich, wie oft sich in der russischen Geschichte diese Frage und diese Antwort wiederholen wird. Sorglosigkeit ist ein Kennzeichen unseres Nationalcharakters, den Sorglosen ist es aber eigen, zu jeder Zeit und bei allen Verhältnissen zu schlafen; unsere Nachbarn wissen das und verstehen es zu nützen. Einem Schlafenden kann alles Mögliche passieren; einen Schlafenden kann man fesseln, verprügeln, berauben, und wenn der Schlaf fest war, erscheint ihm beim Erwachen alles als Überraschung: dass es Räuber auf der Welt gibt und dass er geschlafen hat und dass er seine während des Schlafs verletzte Hand nicht mehr rühren kann. Als wir erwacht waren, sickerte aus unseren Wunden Blut. „Warjag" und „Korejetz"1 waren nicht mehr, die besten Schiffe unseres Geschwaders waren für lange außer Gefecht gesetzt, die Japaner beherrschten die See, ihre Truppen landeten in Tschemulpo, und an Stelle des bekannten und nicht schrecklichen „Iwan Iwanowitsch" stand vor Port Arthur Admiral Togo, der unsere Flotte blockiert hielt. Seit jener Zeit kommen wir aus den Überraschungen nicht heraus. – Eine Überraschung für uns war die „Heimtücke" der Japaner, die uns ohne Kriegserklärung überfallen haben, obwohl sie ihren letzten Krieg mit China genau mit einem ebensolchen „heimtückischen Überfall" begonnen haben. Eine Überraschung waren auch die gewaltigen Streitkräfte Japans und seine finanzielle Macht, obwohl der Bestand der japanischen Armee unserem Generalstab genau bekannt war und unsere Diplomatie die finanziellen Hilfsmittel des Landes natürlich genau kannte. Wir haben jene einfache Tatsache nicht vorausgesehen, dass ein Fünfzigmillionenvolk über viel Geld verfügen und eine große, gut ausgerüstete Armee ins Feld führen kann. Die hohen Kampfeigenschaften der japanischen Truppen waren für uns eine Überraschung, obwohl diese Eigenschaften vor unseren Augen in zwei Feldzügen bereits erprobt und zutage getreten waren. Wir haben jenen fanatischen Hass gegen uns nicht vorausgesehen, den unsere Besetzung von Port Arthur, die Okkupation der Mandschurei, die Nachbarschaft unserer Truppen im nördlichen Korea unausbleiblich in Japan hervorrufen mussten; indessen konnte für unsere Diplomatie die Tatsache schwerlich ein Geheimnis bleiben, die kurz vor dem Kriege von einem Kenner Japans, Dumollard, bezeugt wurde, dass der fanatische Hass gegen Russland das Leitmotiv der gesamten Außenpolitik Japans bilde. Mit schmerzlichem Gefühl muss man bekennen, dass die größte Überraschung für uns wir selber waren, unser eigenes Unvorbereitetsein zum Kriege, das von den Regierungsmitteilungen bescheinigt worden ist! Eine Überraschung für alle war die geringe Zahl unserer Truppen in der Mandschurei und die mangelhafte Betriebsfähigkeit der sibirischen Eisenbahn und die Unbequemlichkeit des Hafens, den große Schiffe während der Ebbe nicht verlassen können, und das Fehlen eines Trockendocks in diesem Hafen. Eine Überraschung war auch, dass unser baltisches Geschwader erst jetzt im Spätherbst sich zum Auslaufen fertig machen konnte, und dass jetzt, im September, wir nicht nur nicht in Tokio sind, sondern statt dessen froh sein müssen über den geglückten Rückzug des Generaladjutanten Kuropatkin aus Ljaojan. Alle unsere Überraschungen und alle jene Opfer, die sie uns gekostet haben, aufzählen wollen, hieße fast die ganze Geschichte des russisch-japanischen Krieges bis in die letzten Tage hinein erzählen. Wir haben alles das nicht vorausgesehen, was nur einem fest Schlafenden nicht gegeben ist, vorauszusehen. Wer ist daran schuld? Die russische Gesellschaft? Sie schlief auf Anordnung der Obrigkeit. Während vieler Jahre wurden alle Maßnahmen ergriffen, damit sie nicht erwache. Wenn ab und zu jemand versuchte, aufzustehen, sich auf die Beine zu stellen und ein menschliches Wort zu sprechen, wurde es als Störung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit betrachtet. Es erfolgte der drohende Anschnauzer: „Maul halten, liegen bleiben!", und eine mächtige Hand drückte den emporgehobenen Kopf nach unten. Russland ähnelte in den letzten Jahren einem Schlafsaal im Polizeirevier. Auf die Erklärungen der Semstwos über diese oder jene allgemein-russischen Nöte gab es nur eine Antwort: „Die allgemein-russischen Angelegenheiten gehen euch gar nichts an." Selbst die bescheidensten und gerechtesten Petitionen wurden ihnen als Schuld angekreidet, so z. B. die Petition über die Abschaffung der körperlichen Strafen, die bekanntlich vor kurzem durch ein allerhöchstes Manifest aufgehoben wurden. Der Patriotismus selbst wurde für unsere Semstwos zur verbotenen Frucht. Ich spreche nicht von jenem offiziellen Patriotismus, der in feierlichen Fällen sogar gefordert wird, dem Patriotismus der amtlichen Phrasen und der schablonenhaften archaischen Formeln, sondern von jenem lebendigen, tätigen Patriotismus, der die russischen Männer im Dienste der einheitlichen russischen Nation vereinigt und organisiert. Unseren Semstwoleuten war es unbenommen, sich als Kalugaer, Rjasaner, Moskauer zu fühlen; aber bis in die jüngste Zeit hinein war es ihnen verboten, sich selbst für die heilige nationale Sache der Hilfeleistung für die Verwundeten zu vereinigen. Alles galt als gefährlich, was an das Bestehen eines einheitlichen Semstwo-Russland erinnerte. Unsere Presse – das richtige Barometer für das, was zu drucken erlaubt ist – schwieg sich in allen Sprachen aus, und trotzdem waren unsere Zeitungen voll von Meldungen über Zensurstrafen, die für unsere periodischen Ausgaben unvermeidlich sind. Unsere Gesellschaft konnte nicht auf der Wacht unserer nationalen Interessen stehen, weil sie die dafür notwendigen Organe nicht besaß, weil das über den Rahmen ihrer Kompetenz hinausging. Das nationale Selbstbewusstsein wurde in ihr systematisch eingeschläfert. Und während sie schlief, wachte über sie die alles sehende, allmächtige Bürokratie! Ihr wurde unsere allgemein-russische Sache anvertraut; sie sollte uns beschützen und bevormunden, sie war verpflichtet, jede Gefahr vorauszusehen und von uns fernzuhalten! Was hat sie nun vorausgesehen? Die Antwort sind die Ereignisse im Fernen Osten. Wir erleiden eine Niederlage nach der anderen! Wird es jemand wagen, dafür unsere Truppen zu beschuldigen? Haben sie nicht die Welt durch Wunder unerhörten Heldenmuts in Erstaunen gesetzt? Sind etwa unsere Heerführer schuld? Aber die bewundernswerte Kunst des Generals Kuropatkin wird von Freund und Feind anerkannt. Er, der unsere Armee gerettet hat, bleibt nach wie vor die Hoffnung Russlands! Er allein kann siegen und wird siegen, wenn man ihm nur volle Handlungsfreiheit gewährt. Die Namen des Generals Stoessel, der Admirale Makarow, Witthöft und Besobrasow sind mit unauslöschlichem Ruhm bedeckt. Die Versenkung des „Warjag" und „Korejetz" war ein moralischer Sieg der russischen Waffen. Dasselbe waren auch alle unsere folgenden Misserfolge. Nicht die Armee und nicht die Flotte haben Niederlagen erlitten! Es waren Niederlagen der russischen Bürokratie! Anders denken, hieße die Schuld auf unsere ruhmreiche Armee abwälzen; dies wäre aber nicht nur ungerecht, sondern auch verbrecherisch. Die Bürokratie, die die Gesellschaft einschläferte, verfiel selber der Hypnose der schläfrigen gesellschaftlichen Atmosphäre und war deshalb eine krasse Verkörperung unserer gesellschaftlichen Hauptmängel – unserer Apathie, unserer Faulheit und unserer Sorglosigkeit. Sie suchte den Feind, aber den äußeren Feind hatte sie nicht bemerkt, weil ihre Aufmerksamkeit nach der anderen Seite abgelenkt wurde: ihr gespensterte der Feind innerhalb des Staates! Jeder erschien ihr als Feind, der nicht nach ihrem Ebenbild war, sie hielt alle unter Verdacht, die keine Beamtenseelen waren, die unabhängige Überzeugungen hatten und die Gebote des Gewissens höher stellten als ihre Vorschriften; sie brachte alle zum Schweigen, die rechtzeitig warnen, auf die wirkliche Gefahr hinweisen und die Wahrheit vor den Thron bringen konnten. Jetzt ernten wir die Früchte dessen, was wir gesät haben. Um nicht noch einmal überrascht zu werden, ist es endlich an der Zeit, sich über die uns drohende Gefahr Rechenschaft zu geben. Der Bürokratismus mit seiner Devise divide et impera2 hat nicht nur die äußere, sondern auch eine innere Gefahr zur Folge. Er führt zur Entzweiung und Desorganisierung lediglich der gemäßigten Schichten der Gesellschaft. Die radikalen Parteien haben das Monopol der Organisation an sich gerissen. Dank unseren Gesetzen über die Presse und der Tätigkeit unserer Zensur haben sie gegenwärtig auch das Monopol des freien Wortes. Während die Gemäßigten gezwungen sind, zu schweigen, weil es unmöglich ist, sich in den legalen Presseorganen zu äußern, überschwemmen bei uns illegale Flugblätter die Straßen, und ihr Einfluss, der durch nichts eingedämmt wird, wächst nicht täglich, sondern stündlich. Soll denn das wirklich der Zweck unserer Gesetze über die Zensur und Presse sein? Sehen wir denn wirklich nicht die sich daraus ergebende drohende Gefahr und sollen wir ihr irgend einmal ebenso begegnen, wie einst den japanischen Torpedobooten in Port Arthur? Im gegenwärtigen kritischen Augenblick der russischen Geschichte, wo wir gegen einen furchtbaren äußeren Feind zu kämpfen haben, muss die Sorge um die Aufrechterhaltung des inneren Friedens für uns an erster Stelle stehen. Die Bürokratie und die Gesellschaft dürfen nicht einander gegenüberstehen, wie zwei feindliche Lager, sondern sie müssen sich vereinigen im Dienste der allgemeinen nationalen Ziele. Die Bürokratie bildet bei uns, wie überall, ein notwendiges Element des staatlichen Lebens; um aber auf der Höhe ihrer Aufgabe zu sein, muss sie selbst von gesellschaftlichem Geist durchdrungen werden und ihre Tätigkeit den gesellschaftlichen Zielen unterordnen. Sie muss der öffentlichen Kontrolle zugänglich gemacht werden und mit der Gesellschaft regieren, nicht aber gegen die Gesellschaft. Sie muss nicht die Gebieterin über eine stumme Herde sein, sondern das Werkzeug der Krone, die sich auf die Gesellschaft stützt. Der Herr Minister des Innern hat in diesen Tagen von dem notwendigen Vertrauen der Regierung zu der Gesellschaft gesprochen. Glückauf! Indem wir diese Worte begrüßen, wünschen wir von Herzen, dass sie so schnell wie möglich zur Tat werden. Möge nur kühner und lauter der Ruf an die Gesellschaft ergehen; dann werden wir den für uns einzig heilsamen Weg der nationalen Erneuerung beschreiten. Dann werden wir weder den äußeren noch den inneren Feind zu fürchten brauchen. Und der Thron, der das Land um sich geschart hat, wird ruhmreich, groß und stark sein. 1 Namen russischer Kriegsschiffe. Die Red. 2 Teile und herrsche. |