Entwurf zum Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands ausgearbeitet von der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja" [„Iskra" Nr. 21 vom 1. Juni 1902. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 5, 1930, S. 517-522] Die Entwicklung des Warenaustausches hat eine so enge Verbindung zwischen allen Völkern der zivilisierten Welt hergestellt, dass die große Befreiungsbewegung des Proletariats international werden musste und es bereits längst geworden ist. Die russische Sozialdemokratie, die sich als einen Truppenteil der Weltarmee des Proletariats betrachtet, verfolgt dasselbe Endziel, das die Sozialdemokraten aller anderen Länder anstreben. Dieses Endziel ist bestimmt durch den Charakter der bürgerlichen Gesellschaft und den Gang ihrer Entwicklung. Die wichtigste Eigentümlichkeit ist die Warenproduktion auf der Grundlage kapitalistischer Produktionsverhältnisse, in denen der wichtigste und bedeutendste Teil der Mittel der Produktion und der Zirkulation der Waren einer zahlenmäßig kleinen Klasse gehört, während die gewaltige Mehrheit der Bevölkerung aus Proletariern und Halbproletariern besteht, die durch ihre wirtschaftliche Lage gezwungen werden, für die Dauer oder vorübergehend ihre Arbeitskraft zu verkaufen, d. h. sich den Kapitalisten als Lohnarbeiter zu verdingen und durch ihre Arbeit das Einkommen der oberen Gesellschaftsklassen zu schaffen. Der Herrschaftsbereich der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dehnt sich immer mehr aus in dem Maße, wie die unaufhörliche Vervollkommnung der Technik, die die wirtschaftliche Bedeutung der Großbetriebe erhöht, zur Verdrängung der selbständigen Kleinproduzenten führt, einen Teil von ihnen in Proletarier verwandelt, die Rolle der übrigen im sozialökonomischen Leben herabsetzt und sie mitunter in eine mehr oder weniger vollständige, mehr oder weniger offene, mehr oder weniger schwer drückende Abhängigkeit vom Kapital bringt. Derselbe technische Fortschritt gibt außerdem den Unternehmern die Möglichkeit, in immer größerem Umfang Frauen- und Kinderarbeit im Prozess der Warenproduktion und -zirkulation zu verwenden. Und da er andererseits zu einer relativen Verringerung des Bedarfs der Unternehmer an lebendiger Arbeitskraft führt, so bleibt notgedrungen die Nachfrage nach Arbeitskraft hinter ihrem Angebot zurück, wodurch die Abhängigkeit der Lohnarbeit vom Kapital vergrößert und der Grad ihrer Ausbeutung erhöht wird. Eine solche Lage der Dinge innerhalb der bürgerlichen Länder und deren sich ständig verschärfende Rivalität auf dem Weltmarkte gestalten den Absatz der Waren, die in stets wachsenden Mengen erzeugt werden, immer schwieriger. Die Überproduktion, die sich in mehr oder weniger heftigen industriellen Krisen äußert, auf die mehr oder weniger langwierige Perioden industriellen Stillstands folgen, ist die unvermeidliche Folge der Entwicklung der Produktivkräfte in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Krisen und die Perioden industriellen Stillstands verelenden die Kleinproduzenten noch mehr, erhöhen noch die Abhängigkeit der Lohnarbeit vom Kapital, führen noch rascher zur relativen, ja sogar absoluten Verschlechterung der Lage der Arbeiterklasse. Die Vervollkommnung der Technik, die die Erhöhung der Ergiebigkeit der Arbeit und das Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums bedeutet, bewirkt somit in der bürgerlichen Gesellschaft das Anwachsen der sozialen Ungleichheit, die Vergrößerung des Abstandes zwischen Besitzenden und Besitzlosen und die Zunahme der Unsicherheit des Lebens, der Arbeitslosigkeit und der Entbehrungen aller Art für immer breitere Schichten der werktätigen Massen. Aber in dem Maße, wie alle diese, der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Widersprüche wachsen und sich entwickeln, wächst auch die Unzufriedenheit der werktätigen und ausgebeuteten Masse mit der bestehenden Ordnung der Dinge, wächst die Zahl und Geschlossenheit der Proletarier und verschärft sich ihr Kampf gegen die Ausbeuter. Gleichzeitig schafft die Vervollkommnung der Technik, die die Produktions- und Zirkulationsmittel konzentriert und den Arbeitsprozess in den kapitalistischen Betrieben vergesellschaftet, immer rascher die materielle Möglichkeit, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch sozialistische zu ersetzen, d. h. die Möglichkeit der sozialen Revolution, die das Endziel der gesamten Tätigkeit der internationalen Sozialdemokratie, als der bewussten Trägerin der proletarischen Klassenbewegung, ist. Die soziale Revolution des Proletariats, die das Privateigentum an den Produktions- und Zirkulationsmitteln durch das gesellschaftliche Eigentum ersetzt und den gesellschaftlichen Produktionsprozess zur Förderung des Wohlstandes und der allseitigen Entwicklung aller Mitglieder der Gesellschaft planmäßig organisiert, wird die Teilung der Gesellschaft in Klassen aufheben und damit die ganze unterdrückte Menschheit befreien, da sie jeder Art Ausbeutung eines Teiles der Gesellschaft durch den andern ein Ende machen wird. Die unerlässliche Voraussetzung dieser sozialen Revolution ist die Diktatur des Proletariats, d. h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, die ihm erlauben wird, jeden Widerstand der Ausbeuter zu unterdrücken. Die internationale Sozialdemokratie, die sich die Aufgabe stellt, das Proletariat fähig zu machen, seine große geschichtliche Aufgabe zu erfüllen, organisiert es zu einer selbständigen, allen bürgerlichen Parteien gegenüberstehenden politischen Partei, leitet alle Erscheinungsformen seines Klassenkampfes, enthüllt ihm den unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Interessen der Ausbeuter und den Interessen der Ausgebeuteten und macht ihm die geschichtliche Bedeutung und die notwendigen Bedingungen der bevorstehenden sozialen Revolution klar. Zugleich zeigt sie der gesamten übrigen werktätigen und ausgebeuteten Masse die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage in der kapitalistischen Gesellschaft und die Notwendigkeit der sozialen Revolution für ihre Befreiung vom Joch des Kapitals. Die Partei der Arbeiterklasse, die Sozialdemokratie, ruft in ihre Reihen alle Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung, soweit diese sich auf den Standpunkt des Proletariats stellen. Auf dem Wege zu ihrem gemeinsamen Endziel, das bedingt ist durch die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in der ganzen zivilisierten Welt, sind die Sozialdemokraten der verschiedenen Länder gezwungen, sich nächste Aufgaben zu stellen, die voneinander verschieden sind, und zwar sowohl weil diese Produktionsweise nicht überall in gleichem Maße entwickelt ist, als auch weil ihre Entwicklung sich in den verschiedenen Ländern in verschiedenen sozialen und politischen Verhältnissen vollzieht. In Russland, wo der Kapitalismus bereits zur herrschenden Produktionsweise geworden ist, finden sich noch auf Schritt und Tritt Überreste unserer alten, vorkapitalistischen Gesellschaftsordnung, die auf der Knechtung der werktätigen Massen durch die Gutsbesitzer, den Staat oder das Staatsoberhaupt beruhte. Diese Überreste, die den wirtschaftlichen Fortschritt im höchsten Maße hemmen, lassen die allseitige Entwicklung des proletarischen Klassenkampfes nicht zu, sie fördern die Aufrechterhaltung und Stärkung der barbarischsten Formen der Ausbeutung der viele Millionen zählenden Bauernschaft durch den Staat und die besitzenden Klassen und halten das ganze. Volk in Unwissenheit und Rechtlosigkeit. Das schwerwiegendste von allen diesen Überbleibseln und die mächtigste Stütze dieser ganzen Barbarei ist der zaristische Absolutismus. Seinem ganzen Wesen nach steht er jeder sozialen Bewegung feindlich gegenüber und muss notgedrungen der schlimmste Feind aller freiheitlichen Bestrebungen des Proletariats sein. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands stellt sich darum zur nächsten Aufgabe den Sturz des zaristischen Absolutismus und seine Ersetzung durch die Republik auf der Grundlage der demokratischen Verfassung, die zu gewährleisten hätte: 1. Die Alleinherrschaft des Volkes, d. h. die Konzentrierung der gesamten obersten Staatsgewalt in den Händen einer gesetzgebenden Versammlung, die aus Vertretern des Volkes zusammengesetzt ist. 2. Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht bei den Wahlen sowohl zur gesetzgebenden Versammlung als auch zu allen örtlichen Selbstverwaltungsorganen für alle Bürger, die das 20. Lebensjahr erreicht haben: geheime Abstimmung bei den Wahlen; das Recht jedes Wählers, in alle Vertretungskörperschaften gewählt zu werden; Diäten für die Volksvertreter. 3. Unantastbarkeit der Person und der Wohnung der Bürger. 4. Uneingeschränkte Gewissensfreiheit, Redefreiheit, Freiheit der Presse, der Versammlungen, Streik- und Koalitionsfreiheit. 5. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit. 6. Abschaffung der Stände und volle Gleichberechtigung aller Bürger, unabhängig von Geschlecht, Religion und Rasse. 7. Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen, die dem Staatsverband angehören. 8. Recht jedes Bürgers, jeden Beamten vor Gericht zu verklagen, ohne bei der vorgesetzten Behörde Anklage erheben zu müssen. 9. Ablösung des stehenden Heeres durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes. 10. Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche. 11. Unentgeltliche und obligatorische allgemeine und berufliche Ausbildung für Knaben und Mädchen bis zum 16. Lebensjahr; Versorgung der armen Kinder mit Nahrung, Kleidung und Lernmitteln auf Staatskosten. Als Grundbedingung für die Demokratisierung unserer Staatswirtschaft fordert die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands die Aufhebung aller indirekten Steuern und die Einführung einer progressiven Einkommens- und Erbschaftssteuer. Zum Schutze der Arbeiterklasse vor körperlicher und sittlicher Entartung, wie auch zur Entwicklung ihrer Fähigkeit zum Befreiungskampf fordert die Partei: 1. Beschränkung der Arbeitszeit auf acht Stunden täglich für alle Lohnarbeiter. 2. Gesetzliche Festsetzung einer wöchentlichen ununterbrochenen Ruhepause von mindestens 36 Stunden für die Lohnarbeiter und -arbeiterinnen in allen Zweigen der Volkswirtschaft. 3. Vollständiges Verbot der Überstundenarbeit. 4. Verbot der Nachtarbeit (von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens) in allen Zweigen der Volkswirtschaft, mit Ausnahme solcher, in denen sie aus technischen, von den Arbeiterorganisationen gebilligten Gründen unbedingt notwendig ist. 5. Verbot für die Unternehmer, Kinder im schulpflichtigen Alter zu beschäftigen (bis zu 16 Jahren). 6. Verbot der Frauenarbeit in allen Zweigen, in denen sie für den weiblichen Organismus schädlich ist; Befreiung der Frau von der Arbeit auf die Dauer von zwei Wochen vor und vier Wochen nach der Niederkunft. 7. Gesetzliche Festsetzung der zivilrechtlichen Haftpflicht der Unternehmer für den vollständigen oder teilweisen Verlust der Arbeitsfähigkeit der Arbeiter, wenn dieser Verlust die Folge eines Unglücksfalles oder schädlicher Produktionsbedingungen ist; Befreiung der Arbeiter von der Pflicht, nachweisen zu müssen, dass der Verlust auf die Schuld des Unternehmers zurückzuführen ist. 8. Verbot der Zahlung des Arbeitslohnes in Waren; wöchentliche Lohnzahlung in bar ausnahmslos an alle Lohnarbeiter und Auszahlung des Arbeitslohnes während der Arbeitszeit. 9. Zahlung von staatlichen Renten an altersschwache Arbeiter. 10. Erhöhung der Zahl der Fabrikinspektoren; Ernennung von weiblichen Inspektoren in den Zweigen, in denen die Frauenarbeit überwiegt; Hinzuziehung gewählter und vom Staate bezahlter Arbeitervertreter zur Aufsicht über die Einhaltung der Fabrikgesetze, sowie über die Festsetzung des Stücklohnes und der Ausscheidung der Ausschussware. 11. Aufsicht der örtlichen Selbstverwaltungsorgane unter Hinzuziehung von gewählten Arbeitervertretern über den sanitären Zustand der den Arbeitern von den Unternehmern zugewiesenen Wohnungen, ferner über die Hausordnung in diesen Wohnungen und die Vermietungsbedingungen, um die Arbeiter vor der Einmischung der Unternehmer in ihr Privatleben und ihre staatsbürgerliche Betätigung zu schützen. 12. Errichtung einer richtig organisierten Sanitätskontrolle in allen Betrieben, die Lohnarbeiter beschäftigen, und unentgeltliche ärztliche Hilfe für die Arbeiter auf Kosten der Unternehmer. 13. Ausdehnung der Fabrikinspektion auf alle Zweige der Volkswirtschaft und auf alle Betriebe, die Lohnarbeiter beschäftigen, einschließlich der Staatsbetriebe. 14. Festsetzung der strafrechtlichen Haftpflicht der Unternehmer für die Verletzung der Arbeiterschutzgesetze. 15. Verbot für die Unternehmer, vom Arbeitslohn Geldabzüge zu machen, aus welchem Anlass und für welchen Zweck es auch geschehe (Strafgelder, Ausschussware usw.). 16. Errichtung von Gewerbegerichten in allen Zweigen der Volkswirtschaft, paritätisch zusammengesetzt aus Vertretern der Arbeiter und der Unternehmer. 17. Obligatorische Errichtung von Arbeitsnachweisen (Arbeitsbörsen) für ortsansässige und zugewanderte Arbeiter in allen Industriezweigen, und zwar durch die Organe der örtlichen Selbstverwaltung unter Beteiligung von Vertretern der Arbeiterorganisationen an ihrer Verwaltung. Um die Überreste der Leibeigenschaftsordnung zu beseitigen, die auf den Bauern schwer lasten, und um die freie Entfaltung des Klassenkampfes auf dem Lande zu fördern, wird die Partei kämpfen für: 1. Die Aufhebung der Ablösungs- und Obrokzahlungen wie auch aller Schuldverpflichtungen, die heute auf die Bauernschaft als steuerpflichtigen Stand fallen. 2. Die Aufhebung der Solidarhaft und aller Gesetze, die den Bauer in der Verfügung über sein Land beschränken. 3. Die Rückzahlung aller Geldsummen an das Volk, die ihm in Form von Ablösungs- und Obrokzahlungen abgenommen wurden. Zu diesem Zweck – Beschlagnahme der Klostervermögen und Apanageländereien, ferner besondere Besteuerung der Ländereien der adligen Großgrundbesitzer, die solche Ablösungskredite ausgenutzt haben; Überweisung der auf diese Weise erhaltenen Summen an einen besonderen Volksfonds für die kulturellen und sozialen Nöte der Dorfgemeinden. 4. Die Gründung von Bauernkomitees: a) um den Dorfgemeinden die Landstücke wiederzugeben (durch Enteignung oder – wenn die Ländereien von Hand zu Hand gegangen sind – durch Ablösung durch den Staat auf Kosten der adligen Großgrundbesitzer), die bei der Aufhebung der Leibeigenschaft von den Landstücken der Bauern abgetrennt worden sind und den Gutsbesitzern als Werkzeuge zur Knechtung der Bauern dienen; b) um die Überreste der Leibeigenschaft zu beseitigen, die im Ural, im Altai-Gebiet, in Westrussland und in verschiedenen anderen Teilen des Landes erhalten sind. 5. Das Recht der Gerichte, den übermäßig hohen Pachtzins herabzusetzen und Verträge für ungültig zu erklären, die einen versklavenden Charakter tragen. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, die die Erreichung ihrer nächsten politischen und wirtschaftlichen Ziele anstrebt, unterstützt jede oppositionelle und revolutionäre Bewegung, die sich gegen die in Russland bestehende soziale und politische Ordnung richtet, sie lehnt aber alle Reformpläne entschieden ab, die mit irgendeiner Erweiterung oder Festigung der Bevormundung der werktätigen Klassen durch Polizei und Beamte verbunden sind. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands ist fest davon überzeugt, dass die vollständige, rücksichtslose und dauerhafte Verwirklichung der genannten politischen und sozialen Reformen nur erreicht werden kann durch den Sturz des Absolutismus und die Einberufung der vom gesamten Volk frei gewählten Konstituierenden Versammlung. |