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Wladimir I. Lenin 18990900 Ein Protest russischer Sozialdemokraten

Wladimir I. Lenin: Ein Protest russischer Sozialdemokraten1

[Lenin, Ausgewählte Werke, Band 1. Die Voraussetzungen der ersten russischen Revolution. Wien-Berlin 1932, S. 381-392]

Eine Versammlung von siebzehn Sozialdemokraten eines Ortes (in Russland) hat einstimmig die folgende Resolution angenommen und beschlossen, sie zu veröffentlichen und allen Genossen zur Diskussion zu unterbreiten.

In der letzten Zeit sind unter den russischen Sozialdemokraten Abweichungen von jenen Grundprinzipien der russischen Sozialdemokratie zu bemerken, die sowohl von den Begründern und Vorkämpfern – den Mitgliedern der Gruppe „Befreiung der Arbeit" – als auch in der sozialdemokratischen Literatur der russischen Arbeiterorganisationen der neunziger Jahre verkündet worden sind. Das unten wiedergegebene „Credo“, das die Grundauffassungen einiger („jungen“) russischen Sozialdemokraten zum Ausdruck bringen soll, stellt einen Versuch dar, die „neuen Anschauungen“ systematisch und deutlich darzulegen. Wir lassen dieses „Credo“ in ungekürzter Form folgen:

Die Existenz der Zunft- und Manufakturperiode in Westeuropa hat in der ganzen nachfolgenden Geschichte, insbesondere in der Geschichte der Sozialdemokratie, ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Die für die Bourgeoisie bestehende Notwendigkeit, sich Bewegungsfreiheit zu erkämpfen, das Bestreben, sich von den die Produktion fesselnden Zunftvorschriften zu befreien, machten sie, die Bourgeoisie, zu einem revolutionären Element; überall in Westeuropa beginnt sie mit liberté, fraternité, égalité (Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit), mit der Eroberung politischer Bewegungsfreiheit. Mit dieser Eroberung hat sie aber, nach einem Ausdruck von Bismarck, ihrem Antipoden, der Arbeiterklasse, einen Wechsel auf die Zukunft ausgestellt. Fast überall in Westeuropa hat die Arbeiterklasse als Klasse die demokratischen Einrichtungen nicht erkämpft – sie hat sie benutzt. Man kann uns entgegenhalten, sie habe an den Revolutionen Anteil genommen. Die geschichtlichen Zeugnisse widerlegen diese Meinung, da gerade im Jahre 1848, als die Verfassung Westeuropas festgelegt wurde, die Arbeiterklasse ein gewerblich-städtisches Element war und die kleinbürgerliche Demokratie vorstellte; ein Fabrikproletariat gab es fast nicht und das Proletariat der Großproduktion (die Weber Deutschlands – Hauptmann, die Weber Lyons waren eine ungeordnete Masse, die nur zu Rebellionen, keineswegs aber zur Aufstellung irgendwelcher politischer Forderungen fähig war. Man kann direkt sagen, dass die Verfassungen des Jahres 1848 von der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum, den Artisans2, erobert worden sind. Anderseits war die Arbeiterklasse (die Artisans und die Manufakturarbeiter, die Typographen, Weber, Uhrmachermeister u. a.) noch vom Mittelalter her gewohnt, sich an Organisationen, an gegenseitigen Hilfskassen, religiösen Vereinen usf. zu beteiligen. Dieser Organisationsgeist lebt bis heute noch in den gelernten Arbeitern des Westens und unterscheidet sie scharf vom Fabrikproletariat, das sich nur schwer und langsam organisieren lässt und nur zu sogenannten losen Organisationen fähig ist, nicht aber zu dauerhaften Organisationen mit Statuten und Vorschriften. Eben diese gelernten Manufakturarbeiter bildeten den Kern der sozialdemokratischen Parteien. Es ergab sich also das folgende Bild: einerseits verhältnismäßige Leichtigkeit und völlige Möglichkeit des politischen Kampfes, anderseits die Möglichkeit einer planmäßigen Organisierung dieses Kampfes mit Hilfe der durch die Manufakturperiode erzogenen Arbeiter. Auf diesem Boden ist in Westeuropa der theoretische und praktische Marxismus groß geworden. Der Ausgangspunkt war der parlamentarische politische Kampf mit der Perspektive – die nur äußerlich dem Blanquismus ähnlich, in ihrem Ursprung aber ganz anderer Art ist – der Machtergreifung einerseits und des Zusammenbruchs anderseits. Der Marxismus war der theoretische Ausdruck der herrschenden Praxis: des politischen Kampfes, der den ökonomischen überwog. Sowohl in Belgien als auch in Frankreich und besonders in Deutschland haben die Arbeiter mit unglaublicher Leichtigkeit den politischen Kampf und in schwerer Arbeit, unter gewaltigen Reibungen den wirtschaftlichen organisiert. Noch heute leiden die wirtschaftlichen Organisationen im Vergleich zu den politischen (von England abgesehen) an einer außerordentlichen Schwäche und Unbeständigkeit und überall laissent désirer quelque chose (lassen sie etwas zu wünschen übrig). So lange die Energie nicht gänzlich im politischen Kampfe aufgebraucht war, war der Zusammenbruch ein notwendiges vereinigendes Schlagwort, dem es beschieden war, eine gewaltige geschichtliche Rolle zu spielen. Das Hauptgesetz, das sich aus dem Studium der Arbeiterbewegung ableiten lässt, ist die Linie des geringsten Widerstandes. In Westeuropa bewegte sich die politische Tätigkeit auf dieser Linie, und der Marxismus war in der Gestalt, wie er im „Kommunistischen Manifest“ formuliert worden war, jene höchst glückliche Form, in die sich die Bewegung ergießen sollte. Als aber die ganze Energie in der politischen Tätigkeit erschöpft worden war, als die politische Bewegung einen solchen Grad von Zuspitzung erreichte, über die hinaus sie zu führen schwer und fast unmöglich war (langsame Zunahme der Stimmen in der letzten Zeit, die Apathie des Publikums in den Versammlungen, der verzagte Ton in der Literatur), erzeugte dies, in Verbindung mit der Ohnmacht der parlamentarischen Tätigkeit und dem Auftreten der untersten Massen des unorganisierten und der Organisierung fast unzugänglichen Fabrikproletariats auf der Szene, in Westeuropa das, was heute die Bezeichnung Bernsteiniade, Krise des Marxismus trägt. Ein logischerer Gang der Dinge als die Entwicklungsperiode der Arbeiterbewegung vom „Kommunistischen Manifest“ bis zur Bernsteiniade lässt, sich schwer vorstellen, und eine aufmerksame Untersuchung dieses ganzen Prozesses kann mit astronomischer Genauigkeit den Ausgang dieser „Krise“ bestimmen. Es handelt sich hier natürlich nicht um Niederlage oder Sieg der Bernsteiniade – das wäre wenig interessant; es handelt sich um eine grundlegende Änderung der praktischen Tätigkeit, die sich schon seit langem im Innern der Partei nach und nach vollzieht.

Diese Änderung vollzieht sich nicht nur in der Richtung einer energischeren Führung des wirtschaftlichen Kampfes, der Stärkung der wirtschaftlichen Organisationen, sondern auch, und das ist das Wesentlichste, in der Richtung einer Änderung des Verhältnisses der Partei zu den übrigen oppositionellen Parteien. Der unduldsame Marxismus, der verneinende Marxismus, der primitive Marxismus (der eine allzu schematische Vorstellung von der Klassenteilung der Gesellschaft hat) macht dem demokratischen Marxismus Platz, und die soziale Stellung der Partei im Schoße der heutigen Gesellschaft muss sich radikal ändern. Die Partei anerkennt die Gesellschaft; ihre eng körperschaftlichen, in den meisten Fällen sektiererischen Aufgaben erweitern sich zu sozialen Aufgaben, und ihr Streben nach Ergreifung der Macht verwandelt sich in das Bestreben nach Änderung, Reformierung der heutigen Gesellschaft in demokratischer Richtung, angepasst an die heutige Lage der Dinge, mit dem Zweck eines möglichst erfolgreichen, möglichst vollständigen Schutzes der Rechte (jeder Art) der werktätigen Klassen. Der Inhalt des Begriffs „Politik“ erweitert sich zu wahrhaft sozialer Bedeutung, und die praktischen Forderungen des Augenblicks erhalten ein größeres Gewicht, können auf größere Beachtung rechnen, als es bis jetzt der Fall war.

Es ist nicht schwer, aus dieser kurzen Beschreibung des Entwicklungsganges der Arbeiterbewegung des Westens die Schlussfolgerung für Russland zu ziehen. Die Linie des geringsten Widerstandes wird bei uns nie auf die Seite der politischen Tätigkeit gerichtet sein. Das unmögliche politische Joch wird zwingen, viel von ihm zu reden und gerade auf diese Frage die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, es wird aber niemals zwingen, praktisch zu handeln. Wenn in Westeuropa die schwachen Kräfte der Arbeiter, nachdem sie in die politische Tätigkeit hineingezogen waren, in ihr erstarkten und sich sammelten, so stehen bei uns hingegen diese schwachen Kräfte vor der Mauer des politischen Joches, und es gibt für sie nicht nur keine praktischen Wege zum Kampfe gegen dasselbe und folglich auch zur eigenen Entwicklung, sondern sie werden von ihm sogar systematisch unterdrückt und können nicht einmal schwache Keime treiben. Wenn man hinzufügt, dass unsere Arbeiterklasse nicht jenen Organisationsgeist als Erbe bekommen hat, durch den sich die Kämpfer Westeuropas auszeichneten, so ergibt sich ein niederdrückendes Bild, das imstande ist, selbst den am meisten optimistischen Marxisten verzagt zu machen, jenen Marxisten, der glaubt, dass jeder neue Fabrikschlot schon allein durch die Tatsache seiner Existenz eine große Wohltat ist. Schwierig, unendlich schwierig ist auch der wirtschaftliche Kampf, aber er ist möglich, und schließlich wird er von den Massen selbst praktiziert. Dadurch dass er sich in diesem Kampfe an die Organisation gewöhnt und in ihm alle Augenblicke mit dem politischen Regime zusammenstößt, wird der russische Arbeiter schließlich das schaffen, was man die Form der Arbeiterbewegung nennen kann, er wird jene Organisation oder jene Organisationen schaffen, die den Verhältnissen der russischen Wirklichkeit am meisten entsprechen. Gegenwärtig lässt sich mit Gewissheit sagen, dass sich die russische Arbeiterbewegung noch in einem amöbenartigen3 Zustand befindet und noch keine Form hervorgebracht hat. Die Streikbewegung, die es bei jedweder Organisationsform gibt, kann nicht als kristallisierte Form der russischen Bewegung bezeichnet werden, während die illegalen Organisationen schon vom rein quantitativen Standpunkt aus keine Beachtung verdienen (wir sprechen nicht von ihrer Nützlichkeit unter den gegenwärtigen Verhältnissen).

So ist die Lage. Wenn man dazu noch die Hungersnöte und den Verelendungsprozess des Dorfes hinzufügt, die das Streikbrechertum fördern und damit der Hebung der Arbeitermassen auf ein erträglicheres kulturelles Niveau noch größere Schwierigkeiten verursachen … was hat dann hier der russische Marxist zu tun?! Das Gerede von einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragung fremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden. Der russische Marxist bietet vorläufig noch einen traurigen Anblick. Seine praktischen Aufgaben in der Gegenwart sind lächerlich gering, seine theoretischen Kenntnisse sind, insofern er sie nicht als Werkzeug der Forschung, sondern als Schema für seine Tätigkeit verwendet, für die Erfüllung selbst dieser lächerlich geringen praktischen Aufgaben wertlos. Außerdem erweisen sich diese von anderen übernommenen Schemata in der Praxis als schädlich. Unsere Marxisten haben vergessen, dass in Westeuropa die Arbeiterklasse ein bereits gereinigtes politisches Tätigkeitsfeld betreten hat; sie verhalten sich gegenüber der radikal- oder liberal-oppositionellen Tätigkeit aller anderen, nicht proletarischen Gesellschaftsschichten mit mehr Verachtung als nötig. Die geringsten Versuche, die Aufmerksamkeit auf soziale Erscheinungen liberal-politischer Natur zu konzentrieren, rufen den Protest der orthodoxen Marxisten hervor, die vergessen, dass eine ganze Reihe geschichtlicher Bedingungen uns hindert, westeuropäische Marxisten zu sein, und dafür von uns einen anderen, für die russischen Verhältnisse passenden und notwendigen Marxismus verlangt. Der Mangel an politischem Gefühl und politischem Sinn bei allen Bürgern Russlands kann offensichtlich nicht durch Gerede über Politik oder Aufrufe an eine nicht existierende Kraft ersetzt werden. Dieser politische Sinn kann nur durch Erziehung erworben werden, d.h. durch Beteiligung an jenem Leben (wie unmarxistisch es auch sein möge), das die russische Wirklichkeit bietet. So passend die „Negation“ in Westeuropa (zeitweilig) war, so schädlich ist sie bei uns, weil eine Negation, die von etwas Organisiertem ausgeht und eine faktische Kraft besitzt, etwas anderes ist als eine Negation, die von einer formlosen Masse zerstreuter Einzelpersonen ausgeht.

Es gibt für den russischen Marxisten nur einen Ausweg: die Beteiligung am wirtschaftlichen Kampfe des Proletariats im Sinne seiner Unterstützung und die Beteiligung an der liberal-oppositionellen Betätigung. Als „Negierer“ ist der russische Marxist sehr früh aufgetreten, aber dieses Negieren hat ihm jenes Maß von Energie geschwächt, das auf die Seite des politischen Radikalismus hin gerichtet werden sollte. Vorläufig ist das aber nicht so schlimm. Wenn aber das Klassenschema die aktive Anteilnahme der russischen Intellektuellen am Leben hindern und ihn von den oppositionellen Kreisen allzu weit entfernen sollte, so wird dies ein wesentlicher Nachteil für alle sein, die gezwungen sind, gesondert von der Arbeiterklasse, die noch keine politischen Aufgaben gestellt hat, für Rechtsformen zu kämpfen. Die hinter theoretischen Betrachtungen über politische Themen versteckte politische Unschuld des russischen marxistischen Intellektuellen kann diesem selbst einen schlimmen Streich spielen.“

Wir wissen nicht, ob sich viele russische Sozialdemokraten finden werden, die diese Ansichten teilen. Unzweifelhaft ist aber, dass überhaupt derartige Ideen Anhänger haben, und deshalb halten wir uns für verpflichtet, gegen solche Ansichten kategorisch zu protestieren und alle Genossen zu warnen; denn hier besteht die Gefahr, dass die russische Sozialdemokratie von dem Wege, den sie sich bereits vorgezeichnet hat, abgelenkt wird: von der Bildung einer selbständigen politischen Arbeiterpartei, die untrennbar ist vom Klassenkampf des Proletariats und sich die Erkämpfung der politischen Freiheit als nächste Aufgabe stellt.

Das oben wiedergegebene „Credo“ stellt sich erstens als eine „kurze Beschreibung des Entwicklungsganges der Arbeiterbewegung des Westens“ und zweitens als „die Schlussfolgerung für Russland“ vor.

Völlig unrichtig sind vor allem die Vorstellungen der Verfasser des „Credo“ von der Vergangenheit der westeuropäischen Arbeiterbewegung. Es ist nicht wahr, dass die Arbeiterklasse im Westen am Kampfe für die politische Freiheit und an den politischen Revolutionen nicht teilgenommen hat. Die Geschichte des Chartismus, die Revolution von 1848 in Frankreich, Deutschland und Österreich beweisen das Gegenteil. Es ist völlig unrichtig zu sagen: „Der Marxismus war der theoretische Ausdruck der herrschenden Praxis: des politischen Kampfes, der den ökonomischen überwog“. Im Gegenteil, der „Marxismus“ trat auf, als der unpolitische Sozialismus („Owenismus“, „Fourierismus“, der „wahre Sozialismus“) herrschte, und das „Kommunistische Manifest“ wandte sich sofort gegen den unpolitischen Sozialismus. Selbst damals, als der Marxismus mit seinem ganzen theoretischen Rüstzeug auftrat („Das Kapital“) und die berühmte Internationale Arbeiter- Assoziation organisierte, war der politische Kampf keineswegs die herrschende Praxis (siehe den beschränkten Trade-Unionismus in England, den Anarchismus und Proudhonismus in den romanischen Ländern). In Deutschland bestand das große historische Verdienst Lassalles darin, dass er die Arbeiterklasse aus einem Anhängsel der liberalen Bourgeoisie in eine selbständige politische Partei verwandelte. Der Marxismus hat den ökonomischen und den politischen Kampf der Arbeiterklasse zu einem unzertrennlichen Ganzen verbunden, und das Bestreben der Verfasser des „Credo“, diese Formen des Kampfes von einander zu trennen, gehört zu ihren missglücktesten und traurigsten Abweichungen vom Marxismus.

Völlig unrichtig sind ferner die Vorstellungen der Verfasser des „Credo“ von der gegenwärtigen Lage in der westeuropäischen Arbeiterbewegung und jener Theorie des Marxismus, unter deren Banner diese Bewegung marschiert. Von einer „Krisis des Marxismus“ zu sprechen, bedeutet, die sinnlosen Phrasen der bürgerlichen Schreiberseelen zu wiederholen, die sich anstrengen, jeden Streit unter den Sozialisten aufzubauschen und aus ihm eine Spaltung der sozialistischen Parteien zu machen. Die berüchtigte Bernsteiniade – in jenem Sinne, in welchem sie gewöhnlich vom breiten Publikum im Allgemeinen und von den Verfassern des „Credo“ im besonderen aufgefasst wird – bedeutet den Versuch, die Theorie des Marxismus einzuengen, den Versuch, die revolutionäre Arbeiterpartei in eine reformistische zu verwandeln. Dieser Versuch ist, wie auch zu erwarten war, von der Mehrheit der deutschen Sozialdemokraten entschieden verurteilt worden. In der deutschen Sozialdemokratie haben sich mehr als einmal opportunistische Strömungen gezeigt, und sie sind von der Partei, die die Parolen der internationalen Sozialdemokratie treu bewahrt, jedes Mal abgelehnt worden. Wir sind überzeugt, dass jedwelche Versuche, opportunistische. Anschauungen nach Russland zu übertragen, auf den ebenso entschiedenen Widerstand der erdrückenden Mehrheit der russischen Sozialdemokraten stoßen werden.

Genau so kann auch keine Rede sein von irgendeiner „grundlegenden Änderung der praktischen Tätigkeit“ der westeuropäischen Arbeiterparteien. Entgegen den Behauptungen der Verfasser des „Credo“ sind die gewaltige Bedeutung des ökonomischen Kampfes des Proletariats und die Notwendigkeit eines solchen Kampfes vom Marxismus von allem Anfang an anerkannt worden, und schon in den vierziger Jahren haben Marx und Engels gegen die utopischen Sozialisten polemisiert, die die Bedeutung dieses Kampfes bestritten.

Als sich etwa zwanzig Jahre später die Internationale Arbeiter-Assoziation gebildet hatte, wurde die Frage nach der Bedeutung der Arbeitergewerkschaften und des ökonomischen Kampfes schon auf dem ersten Kongress im Jahre 1866 in Genf gestellt. Die Resolution dieses Kongresses umriss genau die Bedeutung des ökonomischen Kampfes, wobei sie die Sozialisten und die Arbeiter davor warnte, seine Bedeutung entweder zu übertreiben (wie das zu jener Zeit bei den englischen Arbeitern zu bemerken war) oder zu unterschätzen (was sich bei den Franzosen und bei den Deutschen, besonders bei den Lassalleanern, bemerkbar machte). Die Resolution erkannte die Arbeitergewerkschaft als eine nicht nur gesetzmäßige, sondern auch notwendige Erscheinung bei der Existenz des Kapitalismus an; sie erkannte sie als sehr wichtig an für die Organisierung der Arbeiterklasse in ihrem Tageskampf gegen das Kapital und für die Beseitigung der Lohnarbeit. Die Resolution erkannte, dass die Arbeitergewerkschaften ihre Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf den „unmittelbaren Kampf gegen das Kapital“ lenken sollen und dass sie in der allgemeinen politischen und sozialen Bewegung der Arbeiterklasse nicht beiseite stehen dürfen; ihre Ziele dürfen nicht „beschränkt“ sein, sondern sie müssen die allgemeine Befreiung der unterdrückten Millionen des arbeitenden Volkes erstreben. Seit jener Zeit wurde unter den Arbeiterparteien der verschiedenen Länder wiederholt die Frage aufgeworfen – und sie wird natürlich noch mehr als einmal erhoben werden –, ob im gegebenen Zeitpunkt dem ökonomischen oder dem politischen Kampf des Proletariats etwas mehr oder etwas weniger Beachtung zu schenken sei; die allgemeine oder prinzipielle Frage steht jedoch auch heute so, wie sie vom Marxismus gestellt wurde. Die Überzeugung, dass der einheitliche Klassenkampf notwendigerweise den politischen und den ökonomischen Kampf in sich vereinigen muss, ist der internationalen Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergegangen. Die geschichtliche Erfahrung zeugt ferner unwiderlegbar davon,dass der Mangel an Freiheit oder die Einschränkung der politischen Rechte des Proletariats stets zur Notwendigkeit führt, den politischen Kampf in den Vordergrund zu stellen.

Noch weniger kann von einer irgendwie wesentlichen Änderung im Verhältnis der Arbeiterpartei zu den übrigen oppositionellen Parteien die Rede sein. Auch da hat der Marxismus die richtige Stellung gewiesen, die ebenso weit entfernt ist von der Übertreibung der Bedeutung der Politik, wie vom Verschwörertum (Blanquismus) usw. und wie von der Vernachlässigung der Politik oder ihrer Begrenzung auf eine opportunistische, reformatorische, soziale Flickerei (Anarchismus, utopischer und kleinbürgerlicher Sozialismus, Staatssozialismus, Kathedersozialismus usf.). Das Proletariat muss die Bildung selbständiger politischer Arbeiterparteien anstreben, deren Hauptziel die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat zwecks Einführung der sozialistischen Gesellschaft sein muss. Auf die anderen Klassen und Parteien muss das Proletariat keineswegs wie auf die „eine reaktionäre Masse“ blicken: es muss im Gegenteil am ganzen politischen und sozialen Leben teilnehmen, die fortschrittlichen Klassen und Parteien gegen die reaktionären unterstützen, jedwelche revolutionäre Bewegung gegen das bestehende System unterstützen, ein Verteidiger jedwelcher unterdrückten Nation oder Rasse, jedwelcher verfolgten Glaubenslehre, des rechtlosen Geschlechts usw. sein. Die Ausführungen der Verfasser des „Credo“ über dieses Thema zeugen nur von dem Bestreben, den Klassencharakter des Kampfes des Proletariats zu vertuschen, diesen Kampf durch eine sinnlose „Anerkennung der Gesellschaft“ zu lähmen, den revolutionären Marxismus auf eine ordinäre Reformströmung zu begrenzen. Wir sind überzeugt, dass die gewaltige Mehrheit der russischen Sozialdemokraten eine derartige Entstellung der Grundprinzipien der Sozialdemokratie unbedingt ablehnen wird. Die falschen Voraussetzungen, von denen die Verfasser des „Credo“ gegenüber der westeuropäischen Arbeiterbewegung ausgehen, führen sie zu noch falscheren „Schlussfolgerungen für Russland“.

Die Behauptung, die russische Arbeiterklasse habe „noch keine politischen Aufgaben gestellt“, zeugt nur von einer Unkenntnis der russischen revolutionären Bewegung. Schon der im Jahre 1878 gegründete „Nordrussischer Arbeiterbundund der im Jahre 1879 gegründete „Südrussische Arbeiterbund“ haben in ihrem Programm die Forderung nach politischer Freiheit aufgestellt. Nach der Reaktion der achtziger Jahre hat die Arbeiterklasse in den neunziger Jahren dieselbe Forderung wiederholt aufgestellt. Die Behauptung, „das Gerede von einer selbständigen politischen Arbeiterpartei ist nichts anderes als ein Produkt der Übertragung fremder Aufgaben, fremder Resultate auf unseren Boden“ zeugt nur von einer gänzlichen Verständnislosigkeit gegenüber der historischen Rolle der russischen Arbeiterklasse und den dringendsten Aufgaben der russischen Sozialdemokratie. Das eigene Programm der Verfasser des „Credo“ neigt offenbar zu der Auffassung, dass sich die Arbeiterklasse, auf der „Linie des geringsten Widerstandes“ gehend, auf den ökonomischen Kampf beschränken soll, während die „liberal-oppositionellen Elemente“ unter „Beteiligung“ der Marxisten für „Rechtsformen“ kämpfen. Die Verwirklichung dieses Programms wäre gleichbedeutend mit dem politischen Selbstmord der russischen Sozialdemokratie, gleichbedeutend mit einer gewaltigen Hemmung und Herabdrückung der russischen Arbeiterbewegung und der russischen revolutionären Bewegung (die zwei zuletzt genannten Begriffe sind für uns gleichbedeutend). Schon allein die Möglichkeit des Auftauchens eines solchen Programms zeigt, wie begründet die Befürchtungen eines der Vorkämpfer der russischen Sozialdemokratie, P. B. Axelrods, waren, als er Ende 1897 von der Möglichkeit einer solchen Perspektive schrieb:

Die Arbeiterbewegung verlässt nicht das enge Strombett der rein wirtschaftlichen Konflikte der Arbeiter mit den Unternehmern und ist an und für sich im Ganzen jedes politischen Charakters bar; im Kampfe für die politische Freiheit aber folgen die fortgeschrittenen Schichten des Proletariats den revolutionären Zirkeln und Fraktionen der sogenannten Intelligenz" (Axelrod, „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten", Genf 1898, S. 19).

Die russischen Sozialdemokraten müssen dem ganzen Ideenkreis, der im „Credo“ seinen Ausdruck gefunden hat, entschieden den Krieg erklären, da diese Ideen zur Verwirklichung einer solchen Perspektive führen. Die russischen Sozialdemokraten müssen alle Kräfte anstrengen, damit die andere Perspektive verwirklicht werde, die von P. B. Axelrod in den folgenden Worten dargestellt wird:

Die andere Perspektive: die Sozialdemokratie organisiert das russische Proletariat zu einer selbständigen politischen Partei, die für die Freiheit kämpft, zum Teil in einer Reihe und im Bunde mit den bürgerlichen revolutionären Fraktionen (insofern welche vorhanden sein werden), zum anderen Teil aber dadurch, dass sie die das Volk besonders liebenden und revolutionärsten Elemente aus der Intelligenz direkt in ihre Reihen zieht oder mit sich reißt“. (Ebenda, S. 90).

Zu derselben Zeit, als P B. Axelrod diese Zeilen schrieb4, zeigten die Erklärungen der Sozialdemokraten in Russland klar, dass sie in ihrer gewaltigen Mehrheit auf demselben Standpunkt stehen. Allerdings neigte eine Zeitung der Petersburger Arbeiter, die „Rabotschaja Mysl“, wie es schien, zu den Ideen der Verfasser des „Credo“, da sie leider in ihrem programmatischen Leitartikel (Nr. 1, Oktober 1897) den völlig falschen und der sozialdemokratischen Auffassung widersprechenden Gedanken aussprach, dass „die ökonomische Grundlage der Bewegung“ „durch das Bestreben, das politische Ideal niemals zu vergessen, verwischt werden“ könne. Gleichzeitig hat sich aber eine andere Zeitung der Petersburger Arbeiter, „St. Peterburgski Rabotschi Listok“ (Nr. 2, September 1897), entschieden dafür ausgesprochen, dass „nur eine straff organisierte und zahlenmäßig starke Arbeiterpartei … die Selbstherrschaft stürzen kann“, dass „die zu einer starken Partei organisierten Arbeiter“ „sich und ganz Russland von jedwelcher politischen und ökonomischen Unterdrückung befreien werden“. Die dritte Zeitung, die „Rabotschaja Gaseta“, schrieb im Leitartikel ihrer Nr. 2 (November 1897):

Der Kampf gegen die absolutistische Regierung, für die politische Freiheit ist die nächste Aufgabe der russischen Arbeiterbewegung“. „Die russische Arbeiterbewegung wird ihre Kräfte verzehnfachen, wenn sie als einheitliches, geschlossenes Ganzes mit einem gemeinsamen Namen und einer gut aufgebauten Organisation auftreten wird.“ „Die einzelnen Arbeiterzirkel müssen zu einer gemeinsamen Partei werden“. „Die russische Arbeiterpartei wird eine sozialdemokratische Partei sein“.

Dass die gewaltige Mehrheit der russischen Sozialdemokraten gerade diese Überzeugung der „Rabotschaja Gaseta“ vollständig teilte, geht daraus hervor, dass der im Herbst 1898 abgehaltene Kongress der russischen Sozialdemokraten die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands“ gründete, ihr Manifest veröffentlichte und die „Rabotschaja Gaseta“ als das offizielle Parteiorgan anerkannte. Die Verfasser des „Credo“ machen also einen gewaltigen Schritt zurück gegenüber jener Entwicklungsstufe, die die russische Sozialdemokratie bereits erreicht hat und die im „Manifest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands“ verankert ist. Wenn die wütende Verfolgung der russischen Regierung dazu geführt hat, dass die Tätigkeit der Partei jetzt vorübergehend abgenommen und ihr offizielles Organ zu erscheinen aufgehört hat, so besteht die Aufgabe aller russischen Sozialdemokraten darin, alle Kräfte anzustrengen, um die Partei endgültig zu festigen, ein Parteiprogramm auszuarbeiten und ihr offizielles Organ zu erneuern. Angesichts des ideellen Schwankens, von dem die Möglichkeit des Erscheinens solcher Programme wie des oben untersuchten „Credo“ zeugt, halten wir es für besonders notwendig, die folgenden Grundprinzipien zu betonen, die im „Manifest“ dargelegt sind und für die russische Sozialdemokratie eine ungeheure Bedeutung haben.

Erstens will die russische Sozialdemokratie „eine Klassenbewegung der organisierten Arbeitermassen sein und bleiben“. Daraus folgt, dass die Losung der Sozialdemokratie sein muss: die Unterstützung der Arbeiter nicht nur im ökonomischen, sondern auch im politischen Kampfe; die Agitation nicht nur auf der Grundlage der nächstliegenden wirtschaftlichen Nöte, sondern auch im Zusammenhang mit allen Erscheinungen der politischen Unterdrückungen; die Propaganda nicht nur der Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus, sondern auch der demokratischen Ideen. Das Banner der Klassenbewegung der Arbeiter kann nur die Theorie des revolutionären Marxismus sein und die russische Sozialdemokratie muss für die Weiterentwicklung dieser Theorie und ihrer Anwendung auf die Praxis sorgen, wobei sie dieselbe vor jenen Entstellungen und Verflachungen zu schützen hat, denen Theorien, die „in Mode sind“ (und die Erfolge der revolutionären Sozialdemokratie in Russland haben den Marxismus bereits zu einer „in Mode“ stehenden Theorie gemacht), so oft unterzogen werden. Während sie gegenwärtig alle ihre Kräfte auf die Arbeit unter den Fabrik- und Bergarbeitern konzentriert, darf die Sozialdemokratie nicht vergessen, dass mit der Ausdehnung der Bewegung sowohl die Heimarbeiter als auch die Heimindustriellen, sowohl die Landarbeiter als auch die Millionen der ruinierten und Hungers sterbenden Bauernschaft in die Reihen der von ihr organisierten Arbeiter einbezogen werden müssen.

Zweitens: Der russische Arbeiter wird und muss die Sache der Eroberung der politischen Freiheit auf seine starken Schultern nehmen. Wenn die Sozialdemokratie den Sturz des Absolutismus zu ihrer nächsten Aufgabe macht, muss sie als Vorkämpferin für die Demokratie eintreten und schon allein kraft dessen allen demokratischen Elementen der russischen Bevölkerung jedwede Unterstützung erweisen und sie als Verbündete für sich gewinnen.

Nur eine selbständige Arbeiterpartei kann im Kampfe gegen die Selbstherrschaft eine feste Schutzwehr sein, und nur im Bunde mit einer solchen Partei, durch die Unterstützung dieser Partei können sich alle übrigen Kämpfer für die politische Freiheit aktiv zeigen.

Drittens und letztens: „Als Bewegung und Richtung führt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands das Werk und die Traditionen der gesamten vorhergegangenen revolutionären Bewegung Russlands weiter: dadurch, dass sie sich die Eroberung der politischen Freiheit zur wichtigsten der nächsten Aufgaben der Partei als Ganzes stellt, geht die Sozialdemokratie dem Ziele entgegen, das schon die ruhmreichen Kämpfer der alten Partei ,Volkswille' klar aufgestellt haben“. Die Traditionen der ganzen vorausgegangenen revolutionären Bewegung verlangen, dass die Sozialdemokratie gegenwärtig alle ihre Kräfte auf die Organisierung der Partei, auf die Festigung der Disziplin in ihrem Innern und auf die Entwicklung der konspirativen Technik konzentriere. Wenn die Kämpfer der alten Partei „Volkswille“ in der russischen Geschichte eine gewaltige Rolle zu spielen vermochten, trotz dem geringen Umfang jener sozialen Schichten, die die wenigen Helden unterstützten, und trotzdem als Banner der Bewegung eine keineswegs revolutionäre Theorie diente, so wird die Sozialdemokratie, die sich auf den Klassenkampf des Proletariats stützt, unbesiegbar zu werden vermögen. „Das russische Proletariat wird das Joch der Selbstherrschaft wegfegen, um mit umso größerer Energie den Kampf gegen das Kapital und die Bourgeoisie bis zum völligen Siege des Sozialismus fortzusetzen.“

Wir laden alle sozialdemokratischen Gruppen und alle Arbeiterzirkel in Russland ein, das oben wiedergegebene „Credo“ und unsere Resolution zu besprechen und ihr Verhältnis zu der aufgeworfenen Frage bestimmt auszusprechen, um jedwelche Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen und die Organisierung und Stärkung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands zu beschleunigen.

Die Resolutionen der Gruppen und Zirkel können dem ausländischen „Verband Russischer Sozialdemokraten“ mitgeteilt werden, welcher gemäß Punkt 10 des Beschlusses des Kongresses der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vom Jahre 1898 ein Teil der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und ihr Vertreter im Ausland ist.

Im Herbst 1899.

1 Den „Protest von 17 Sozialdemokraten“ schrieb Lenin im Herbst 1899 in der Verbannung. Ihm schlossen sich die im Kreise Minussinsk befindlichen verschickten Sozialdemokraten an, darunter Krupskaja, G. M. Krschischanowski, P. N. Lepeschinski u. a. Hervorgerufen wurde der Protest durch das Erscheinen jenes Dokuments, das sich Credo“ (deutsch: Ich glaube; damit beginnt der lateinische Text des „Glaubensbekenntnisses“ der christlichen Kirche, und daher wird dieses Wort allgemein für Glaubensbekenntnisse genommen) nannte und das charakteristischste Dokument des damals in der russischen sozialdemokratischen Bewegung auftretenden Opportunismus war. Diese Richtung bekam später die Bezeichnung des Ökonomismus“.

2 französisch: Handwerker. D. Red.

3 primitivsten, unentwickelten. D. Red.

4 Lenin stimmte mit Axelrod in der Kritik der Ökonomisten sowie in der Notwendigkeit der Führung des politischen Kampfes überein, kritisierte aber zugleich Axelrod deshalb, weil er die praktischen Erfordernisse des Proletariats beiseite ließ und die Frage des Verhältnisses zum bürgerlichen Liberalismus vernachlässigte, was den Anschein erweckte, wie wenn er „die selbständige und entschiedenere Haltung vertuschen“ wolle, die das Proletariat im politischen Kampfe einnimmt. Hier warf eben die spätere Haltung des Menschewiken Axelrod gegenüber dem bürgerlichen Liberalismus schon ihre Schatten voraus.

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