Exekutivkomitee der Komintern: An die Werktätigen der ganzen Welt [Manifest, Richtlinien, Beschlüsse des Ersten Kongresses. Aufrufe und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum Zweiten Kongress. Hamburg 1920, S. 259-265] Die Proletarier der ganzen Welt feiern wiederum den ersten Mai, das Fest der Arbeit, das Fest des Kampfes, das Fest des Messens der kommunistischen Kräfte. Ein Jahr schweren Kampfes, ein Jahr schwerer Schlachten voll tiefer geschichtlicher Bedeutung liegt hinter uns. Wir haben im Lauf dieses Jahres nicht wenig einzelner schwerer Niederlagen erlitten. Die Sowjetrepublik Ungarn ist untergegangen, gefallen durch den Verrat der Sozialverräter und die Gewalt der Ententekapitalisten. Die Sowjetrepublik Bayern, die im Mai 1919 bestand, ist untergegangen, ertränkt im Blut der bayerischen Arbeiter. In Deutschland sind im Lauf des verflossenen Jahres Tausende und Abertausende unserer besten Brüder umgekommen, die das Banner des Kampfes für den Kommunismus erhoben. Sie haben durch die Hand der sozialdemokratischen Henker, die Hand in Hand mit den Generälen Wilhelms von Hohenzollern wirken, ihren Tod gefunden. Wie schwer unsere einzelnen Niederlagen auch waren, wie bitter der Verlust von Tausenden unserer Brüder uns traf, die kommunistische Bewegung ist während des verflossenen Jahres in der ganzen Welt gewachsen und erstarkt. In Ungarn herrscht der zügelloseste weiße Terror. Hunderte und Tausende ungarischer Proletarier kommen um durch die Hand der ungarischen Grundherren und Kapitalisten. Und doch reift sogar in Ungarn wieder eine neue proletarische Revolution heran. Die rosige träumerische Jugend, welche die erste Epoche des proletarischen Kampfes in Ungarn kennzeichnete, ist vorüber. Die ungarische Arbeiterklasse stählt sich im Kampf. Um teuren Preis hat sie die größte historische Erfahrung erworben, welche sie nun vor Irrtümern zurückhält, die zum Untergang der ersten Sowjetrepublik in Ungarn führten. Am 1. Mai gedenkt die Kommunistische Internationale vor allem derjenigen unserer Brüder, die in den ungarischen Folterkammern schmachten und deren Kugel oder Strang der ungarischen Henker harrt. Ermannt Euch, ungarische Proletarier, die Abrechnung für Eure Leiden ist nicht fern! Die Sowjetrepublik Ungarn ist untergegangen. Es lebe die Sowjetrepublik Ungarn! Die erste proletarische Revolution in Ungarn erlitt einen Zusammenbruch. Es lebe die zweite siegreiche proletarische Revolution in Ungarn! In Deutschland gibt es keine Stadt, deren Straßen im Lauf dieses Jahres nicht mit Arbeiterblut reichlich getränkt wären. Dank der Verräterei der gelben Sozialdemokraten kam die deutsche Revolution, auf Schritt und Tritt verraten und gekreuzigt, zu ihrem tiefsten Fall. Die Märzaktion der offenen Gegenrevolution ist jedoch zweifellos zum Wendepunkt geworden. Die offizielle deutsche Sozialdemokratie verausgabt die letzten unbedeutenden Brocken ihres Kredits. Die Arbeitermassen haben den Verrätern den Rücken gekehrt. Die deutsche Revolution beginnt in aufsteigender Linie vorwärts zu schreiten. Der Sieg der proletarischen Diktatur in Deutschland ist ganz unvermeidlich. In Frankreich, in England, in Italien hat die proletarische Bewegung während des verflossenen Jahres ungeheure Fortschritte gemacht. Die Bourgeoisie der Ententeländer, die ihre Rivalen besiegt hat, hoffte die Entwicklung der revolutionären Bewegung in „ihren“ Ländern auf lange Zeit aufzuhalten. Die Geschichte hat dieser Hoffnung grausam gespottet. Noch ist kein Jahr seit dem Abschluss des berüchtigten Versailler Friedens verflossen, und schon ist es einem Blinden klar, dass es den Machthabern des räuberischen Völkerbundes nicht gelungen ist, jene Flut von Unzufriedenheit zu dämmen, die alle Bollwerke stürzt und bald die Festen des Kapitalismus davon schwemmt. In England trägt die Streikbewegung den Charakter eines machtvollen Elements. Die vorgeschritteneren Gewerkschaften befreien sich aus der ideologischen Gefangenschaft des bürgerlichen Trade-Unionismus. In Frankreich überfluten die Kundgebungen der Arbeiter das ganze Land. Der Austritt der offiziellen sozialistischen Partei Frankreichs aus der Zweiten Internationale ist nur eine indirekte Widerspiegelung jener machtvollen revolutionären Gärung, die unter den französischen Proletariern in Stadt und Land zu beobachten ist. In Italien hat sich die Kommunistische Bewegung im Lauf dieses Jahres als breite Flut ergossen und ungeheure Fortschritte gemacht. Die Arbeiterklasse Italiens hat während dieses Jahres das italienische Dorf zu erwecken und der Vorhut der Arbeiter neue zahlreiche Schichten der Werktätigen zuzuführen vermocht. In Amerika hat die Bourgeoisie das Bajonett auf die Tagesordnung gestellt. Die Verfassungsgarantien sind in dieser berüchtigten „Demokratie“ für die Arbeiter abgeschafft. Die kommunistischen Arbeiter werden zu Tausenden und Abertausenden verhaftet. Zuchthausurteile werden in Hülle und Fülle gefällt. Durch diese Maßnahmen hofft die wutschnaubende amerikanische Bourgeoisie jene machtvolle revolutionäre Bewegung des Proletariats aufzuhalten, die in Amerika für die ganze Welt sichtbar wächst. Auf der Balkanhalbinsel ist die revolutionäre Bewegung während des letzten Jahres ungeheuer vorgeschritten. Die bulgarischen Kommunisten sind zur mächtigsten Partei im Lande geworden. Die bulgarischen werktätigen Bauern schließen sich mit jedem Tage immer enger an die Vorhut des bulgarischen Proletariats an. In Südslawien ist die kommunistische Bewegung erstarkt und wächst mit jedem Tage. Nach einiger Zeit wird die Balkanhalbinsel sicherlich zur Sowjethalbinsel. Über Japan flutet eine Woge von Arbeiterausständen. So manches Mal wurde die Bourgeoisie Japans während dieses Jahres durch die machtvolle Arbeiterbewegung erschreckt. In Italien, in Persien, in Korea, in China wächst eine Bewegung, die ihrem ganzen Äußeren nach einen revolutionären Charakter trägt und die niemand aufzuhalten vermag. In den skandinavischen Ländern hat sich die Lage der Bourgeoisie zweifellos verschlimmert. Zahlreiche Ministerkrisen, das Vorrücken der „sozialistischen“ Minister in den Vordergrund, lärmreiche Aufstände und Kundgebungen, die von den Arbeitern veranstaltet werden, zeugen davon, dass auch hier die Revolution heranreift. Sowjetrussland, diese erste sozialistische Republik in der Welt, hat während des verflossenen Jahres alle Feinde zerschmettert. Sowjetrussland steht unerschütterlich da wie ein Fels. Seine Rote Armee ist zu einer großen legendenhaften Armee geworden, mit Liebe gehegt von allen Werktätigen der ganzen Welt. Alle heimtückischen Versuche der Ententeregierungen und der gegenrevolutionären Kräfte Russlands sind an der revolutionären Energie der Proletarier und werktätigen Bauern Russlands zerschellt. Die Arbeiter Russlands haben ohne zu murren die größten Hungerqualen erduldet und ihre Arbeiterrepublik, ihre proletarische Macht behauptet. Sowjetrussland geht über zum friedlichen wirtschaftlichen Aufbau, und auf diesem Gebiet wird das Proletariat Russlands wiederum Wunder an Selbstaufopferung und Energie wirken. Die Arbeiter Englands, Frankreichs, Italiens und der anderen Länder haben im Lauf dieses Jahres den russischen Proletariern nicht wenig dadurch geholfen, dass sie in ihren Ländern eine machtvolle Bewegung gegen die Intervention der Bourgeoisie in die Angelegenheiten der Sowjetrepublik Russland organisierten. Das war Internationalismus nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern durch die Tat. Das war wirkliche brüderliche Hilfe den Proletariern eines Landes seitens der Proletarier anderer Länder. Die Sowjetrepublik Russland hat moralisch die gesamte bürgerliche Welt besiegt. Die Sowjetrepublik Russland zieht gleich einem starken Magnet die Herzen aller Werktätigen, die Herzen aller ehrlichen Leute der ganzen Welt an. Das siegreiche Arbeiter- und Bauernland, das eine sozialistische Ordnung errichtet und diese gegen die Überfälle der halben Welt verteidigt hat – dieses Land strahlt gleich einem Stern den Unterdrückten und Ausgebeuteten des ganzen Weltalls. Ja, die ganze Arbeiterklasse hat auf ihrem schwierigen dornenvollen Pfad im Lauf des verflossenen Jahres auch schwere Niederlagen gekannt. Den Weg überschauend, der während dieses Jahres zurückgelegt ist, sagt jeder klassenbewusste Arbeiter: welch ungeheuren Weg haben wir zurückgelegt! Welch ungeheure Erfolge haben wir erzielt – trotz alledem! Betrachtet unsere Feinde, beobachtet die Lage sogar in den Ententeländern, d. h. in den Ländern, wo die Bourgeoisie den Sieg über die deutschen Imperialisten errungen hat. In den Reihen der Bourgeoisie ist Zersetzung, Uneinigkeit, Marasmus, Tod. Die bürgerlichen Regierungen, die vier Jahre lang zusammen gegen Deutschland Krieg führten, sind schon im Lauf eines einzigen Jahres einander in die Haare geraten. Die Bourgeoisie verliert den Kopf, die Bourgeoisie wendet sich bald hierhin, bald dorthin; heute ist sie bestrebt, die Arbeiter durch kleine und jämmerliche Reformen zu bestechen, morgen aber stürzt sie mit aller Wucht ihrer Skorpionen und Belagerungszustände auf dieselben Arbeiter los. Die Bourgeoisie ist dem Untergang geweiht. Die Volksmassen werden nicht die Klasse an der Macht lassen, die sie zum imperialistischen Gemetzel von 1914-1918 geführt hat. 30 Millionen Tote und Krüppel, Dutzende ruinierter Länder, Millionen Hungernder, Milliarden neuer Kriegsschulden – alles das können die Volksmassen nicht vergessen. In vielen Ländern setzt die Bourgeoisie bereits ihren letzten Einsatz aufs Spiel: sie versucht zu herrschen, indem sie durch Herren, die sich „Sozialdemokraten" und „Sozialisten" nennen, die Ministerposten besetzt. Dieser Einsatz wird verspielt. Diese Politik reicht nur dazu aus, um den Sturz der Bourgeoisie auf die kürzeste Frist zu verzögern. Die gelbe Sozialdemokratie und die gelbe Zweite Internationale haben Bankrott gemacht. Die Zweite Internationale, auf welche die Bourgeoisie so große Hoffnungen setzte, ist zu einem Leichnam geworden. Alle ehrlichen Arbeiter flüchten aus den Reihen der Zweiten Internationale wie vor der Pest. Die kommunistische Verbrüderung der Arbeiter aller Länder wächst und erstarkt trotz aller Hindernisse, welche die internationale Bourgeoisie der Kommunistischen Internationale in den Weg legt. Kaum ein Jahr ist seit der Gründung der Kommunistischen Internationale vergangen, und diese ist bereits zu einer großen Macht geworden, die Millionen und Abermillionen vorgeschrittener Proletarier der ganzen Welt vereint. Die Kommunistische Internationale ruft die Proletarier aller Länder, die noch unter dem Joch der Bourgeoisie leben, auf, den ersten Mai als Tag der Mobilisierung zum Kampf zu feiern. An diesem Tage sollen die Arbeiter solcher Länder bis auf den letzten auf die Straße kommen. Und unsere Parolen an diesem Tage sind: Nieder mit dem Kapitalismus! Es lebe die Diktatur des Proletariats in der ganzen Welt! Es lebe die internationale Sowjetrepublik! Es lebe der Kommunismus! Es lebe die Dritte Internationale! Das künftige Jahr eröffnet ein neues, vielleicht das wichtigste Kapitel in der Geschichte unseres Kampfes um die Befreiung der ganzen Menschheit vom Joch des Kapitalismus. Bewaffnung der Arbeiter, Entwaffnung der Bourgeoisie! Daran erinnern wir am ersten Mai jeden Arbeiter, jeden Soldaten, jeden werktätigen Bauern. Möge denn die Maifeier 1920 zum Tag des Triumphes der Kommunistischen Internationale, zum Tag der Messung ihrer Kräfte, zum Tag einer Probemobilisierung werden. Mutig, ruhig und sicher schreiten wir den letzten entscheidenden Schlachten entgegen, die in einer ganzen Reihe von Ländern herannahen. Unser Sieg ist sicher. Das Proletariat wird die Bourgeoisie besiegen. Das Proletariat wird die Sowjetmacht in der ganzen Welt errichten. Es lebe der erste Mai! Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale |
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