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Karl Marx 18440811 Brief an Ludwig Feuerbach

Karl Marx: Brief an Ludwig Feuerbach

in Bruckberg

[Nach Marx Engels Werke, Band 27, Berlin 1963, S. 425-428]

Paris, d. 11. August [1844]

rue Vaneau 38

Hochverehrter Herr!

Da ich grade Gelegenheit finde, bin ich so frei, Ihnen einen Aufsatz von mir zuzuschicken, worin einige Elemente meiner kritischen Rechtsphilosophie – die ich schon einmal beendet, dann aber wieder einer neuen Bearbeitung unterworfen habe, um allgemein verständlich zu sein – angedeutet sind. Ich lege diesem Aufsatz keinen besonderen Wert bei, aber es freut mich, eine Gelegenheit zu finden, Ihnen die ausgezeichnete Hochachtung und – erlauben Sie mir das Wort – Liebe, die ich für Sie besitze, versichern zu können. Ihre „Philosophie der Zukunft" wie das „Wesen des Glaubens" sind jedenfalls trotz ihres beschränkten Umfangs von mehr Gewicht, als die ganze jetzige deutsche Literatur zusammengeworfen.

Sie haben – ich weiß nicht, ob absichtlich – in diesen Schriften dem Sozialismus eine philosophische Grundlage gegeben, und die Kommunisten haben diese Arbeiten auch sogleich in dieser Weise verstanden. Die Einheit der Menschen mit den Menschen, die auf dem realen Unterschied der Menschen begründet ist, der Begriff der Menschengattung aus dem Himmel der Abstraktion auf die wirkliche Erde herabgezogen, was ist er anders als der Begriff der Gesellschaft!

Es werden 2 Übersetzungen, eine in englischer und eine in französischer Sprache, von Ihrem „Wesen des Christentums" vorbereitet und sind fast schon zum Druck parat. Die erste wird in Manchester (Engels hat sie überwacht), die 2te in Paris1 (der Franzose Dr. Guerrier und der deutsche Kommunist Ewerbeck. haben sie mit Hilfe eines französischen Stilkünstlers übertragen) erscheinen.2

In diesem Moment werden die Franzosen sofort über das Buch herfallen, denn beide Parteien – Pfaffen und Voltairiens und Materialisten sehen sich nach fremder Hilfe um. Es ist eine merkwürdige Erscheinung, wie, im Gegensatz zum 18ten Jahrhundert, die Religiosität in den Mittelstand und die höhere Klasse, die Irreligiosität dagegen – aber die Irreligiosität des sich als Menschen empfindenden Menschen – in das französische Proletariat herabgestiegen ist. Sie müssten einer der Versammlungen der französischen ouvriers3 beigewohnt haben, um an die jungfräuliche Frische, an den Adel, der unter diesen abgearbeiteten Menschen hervorbricht, glauben zu können. Der englische Proletarier macht auch Riesenfortschritte, aber es fehlt ihm der Kulturcharakter der Franzosen. Ich darf aber nicht vergessen, die theoretischen Verdienste der deutschen Handwerker in der Schweiz, London und Paris hervorzuheben. Nur ist der deutsche Handwerker noch zu viel Handwerker.

Jedenfalls aber bereitet die Geschichte unter diesen „Barbaren" unserer zivilisierten Gesellschaft das praktische Element zur Emanzipation des Menschen vor.

Der Gegensatz des französischen Charakters gegen uns Deutsche ist mir nie so scharf und schlagend gegenübergetreten, als in einer fourieristischen Schrift, die mit folgenden Sätzen beginnt: „l'homme est tout entier dans ses passions". „Avez-vous jamais rencontré un homme qui pensât pour penser, qui se ressouvint pour se ressouvenir, qui imaginât pour imaginer? qui voulait pour vouloir? cela vous est-il jamais arrivé à vous même? … non, évidemment non!"4

Das Hauptmobil der Natur wie der Gesellschaft ist daher die magische, die leidenschaftliche, die nicht reflektierende attraction und „tout être, homme, plante, animal ou globe a reçcu une somme des forces en rapport avec sa mission dans l'ordre universel"5.

Daraus folgt: „les attractions sont proportionnelles aux destineés"6.7

Sehn alle diese Sätze nicht aus, als wenn der Franzose absichtlich seine passion dem actus purus8 des deutschen Denkens entgegengesetzt hätte? Man denkt nicht, um zu denken etc.

Wie schwer es den Deutschen hält, aus der entgegengesetzten Einseitigkeit herauszukommen, davon hat mein vieljähriger – jetzt aber mir mehr entfremdeter – Freund Bruno Bauer in seiner kritischen Berliner „Literatur-Zeitung" einen neuen Beweis gegeben. Ich weiß nicht, ob Sie dieselbe gelesen haben. Es ist darin viel stillschweigende Polemik gegen Sie.

Der Charakter dieser „Literatur-Zeitung" lässt sich darauf reduzieren: Die „Kritik" wird in ein transzendentes Wesen verwandelt. Jene Berliner halten sich nicht für Menschen, die kritisieren, sondern für Kritiker, die nebenbei das Unglück haben, Menschen zu sein. Sie erkennen daher nur ein wirkliches Bedürfnis an, das Bedürfnis der theoretischen Kritik. Leuten wie Proudhon wird daher vorgeworfen, dass sie ihren Ausgangspunkt von einem „praktischen"' „Bedürfnis" nehmen. Diese Kritik verläuft sich daher in einen traurigen und vornehm tuenden Spiritualismus. Das Bewusstsein oder Selbstbewusstsein wird als die einzige menschliche Qualität betrachtet. Die Liebe z.B. wird geleugnet, weil in ihr die Geliebte nur „Gegenstand" sei. A bas9 mit dem Gegenstand! Diese Kritik hält sich daher für das einzige aktive Element der Geschichte. Ihr gegenüber steht die ganze Menschheit als Masse, als träge Masse, die nur durch den Gegensatz zum Geist Wert hat. Als höchstes Verbrechen wird es daher betrachtet, wenn der Kritiker Gemüt oder Leidenschaft hat, er muss ein ironischer eiskalter σοφός10 sein.

Bauer erklärt daher wörtlich:

Der Kritiker nehme weder an den Leiden, noch an den Freuden der Gesellschaft teil; er kenne weder Freundschaft und Liebe, noch Hass und Missgunst; er throne in der Einsamkeit, wo nur manchmal das Gelächter der olympischen Götter über die Verkehrtheit der Welt von seinen Lippen schallt".11

Der Ton der Bauerschen „Literatur-Zeitung" ist daher ein Ton der leidenschaftslosen Verachtung, und er macht sich diese um so leichter, als er die von Ihnen und der Zeit überhaupt gelieferten Resultate andern an den Kopf wirft. Er deckt nur Widersprüche auf, und von diesem Geschäft befriedigt, zieht er mit einem verächtlichen „Hm" ab. Er erklärt, die Kritik gebe nichts, dazu ist sie viel zu spirituell. Ja, er spricht geradezu die Hoffnung aus: „die Zeit sei nicht mehr fern, wo die ganze verfallende Menschheit sich der Kritik" – und die Kritik ist er und Co. – „gegenüber scharen werde; sie würden diese Masse dann in verschiedene Gruppen sondieren und ihnen allen das testimonium paupertatis12 austeilen".

Es scheint: Bauer hat aus Rivalität gegen Christus gekämpft. Ich werde eine kleine Broschüre gegen diese Verirrung der Kritik erscheinen lassen.

Es wäre mir vom höchsten Wert, wenn Sie mir vorher Ihre Meinung mitteilen wollten, wie überhaupt ein baldiges Lebenszeichen von Ihnen mich beglücken würde. Die hiesigen deutschen Handwerker, d.h. der kommunistische Teil derselben, mehre Hunderte, haben diesen Sommer durch zweimal die Woche Vorlesungen über Ihr „Wesen des Christenthums" von ihren geheimen Vorstehern13 gehört und sich merkwürdig empfänglich gezeigt. Der kleine Auszug aus dem Brief einer deutschen Dame im Feuilleton von Nr. 64 des „Vorwärts" ist von einem Brief meiner Frau, die in Trier zum Besuch ihrer Mutter ist, ohne Wissen des Autors abgedruckt.14 Mit den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen

Ihr Karl Marx

1 Die englische Übersetzung wurde offenbar nicht herausgegeben. Die französische Übersetzung erschien in dem 1850 in Paris veröffentlichten Buch „Qu'est ce que la religion d'après la nouvelle philosophie allemande" von August Hermann Ewerbeck.

2 Dieser Absatz steht in der Handschrift in eckigen Klammern

3 Arbeiter

4 „der Mensch offenbart sich in seinen Leidenschaften". „Sind Sie jemals einem Menschen begegnet, der dachte, um zu denken, der sich erinnerte, um sich zu erinnern, der sich etwas vorstellte, um sich etwas vorzustellen, der wollte um zu wollen? Ist Ihnen das jemals, selbst passiert? … Nein, offenbar nicht!"

5 Anziehungskraft und „jedes Wesen, der Mensch, die Pflanze, das Tier oder der Himmelskörper als Ganzes, hat eine Summe an Kräften entsprechend seiner Mission in der Weltordnung empfangen".

6 „die Anziehungskräfte sind proportional den Schichsalsbestimmungen"

7 Die Zitate sind der 1840 in Paris in 2. Auflage herausgegebenen Schrift „Exposition de la science sociale, constituée par C. Fourier" von É. de Pompery, p. 13 u. 29, entnommen.

8 der Leidenschaft der reinen Tätigkeit.

9 Nieder

10 Weiser

11 Marx führt zwei dem Inhalt nach zitierte Stellen aus Korrespondenzen an, die 1844 in den Heften V und VI der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" veröffentlicht wurden.

12 Armutszeugnis

13 des Bundes der Gerechten

14 Diese Aufzeichnung ist ein Ausschnitt aus einem Briefe von Jenny Marx an Karl Marx.

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