Georg Jung: Brief an Karl Marx in Paris Köln, 31. Juli 1844 [Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Dritte Abteilung. Briefwechsel, Band 1. Berlin 1975, S. 436-438] Lieber Marx. Meine Antwort hat sich etwas verzögert durch den vor 6 Tagen erfolgten Tod meiner Schwester, der Frau Stein, sie starb nebst ihrem ältesten Söhnchen an einem sehr bösen Scharlach- und Nervenfieber. – Die beiden andern Kinder meines Schwagers waren auch dem Tode ganz nahe, sollen aber jetzt fast außer Gefahr sein. – Solch ein Sturmwind, der das Gebäude einer glücklichen, reichen und üppigen Familie plötzlich über den Haufen wirft, sollte billig den oder die Betroffenen so auf sich selbst zurückführen, eine solche Rekapitulierung des ganzen Lebens veranlassen, dass der Mensch ebenso gereinigt daraus hervorginge, wie die Luft nach einem Gewittersturme, allein hier kann man recht die verderbliche Wirkung der Religion sehen; – ist der Mensch an und für sich religiös, so versenkt er sich ganz in sein erträumtes Jenseits, und die Erde wird ihm fortan gleichgültig, ist er es nicht, und zwar aus Leichtsinn, so greift er plötzlich zu derselben, sie muss ihn trösten, und wirklich lullt er sich und seinen Schmerz mit den sanften Verheißungen des Wiedersehens etc. ein, und aller moralische Gewinn geht verloren. – Das 5, 6 und 7 Heft der Literaturzeitung lege ich unter Kreuzcouvert auf die Post. – Ihre Bemerkungen über Bauer sind gewiss richtig, nur scheint es mir, dass es gut wäre, wenn Sie dieses zu einer Kritik für irgend ein deutsches Blatt ausarbeiteten, und zwar hauptsächlich um Bauer aus seinem geheimnisvollen Hinterhalt hervorzulocken. – Bis jetzt hat er noch nirgends eine bestimmte Meinung über irgend etwas aufgestellt, die Aufgabe der Kritik, sagt er, ist, die Erscheinungen zu begreifen. Dies Geschäft macht er sich aber sehr leicht, er begreift nur die Widersprüche, deckt sie hohnlachend auf, und geht ab mit einem geheimnisvollen Hm! – Auf diese Weise ist es natürlich auch nicht so schwer, das Kunststück, dessen Bauer sich so sehr rühmt, nämlich unter Preußischer Zensur zu schreiben, fertig zu bringen. – Dies Geschäft der Gebrüder Bauer wird denn oft sehr kleinlich, wenn sie Erscheinungen wie das Gutachten der philosophischen Fakultät in Berlin über Nauwerck und ähnliche Dinge, aus denen die Widersprüche, jedermann sichtbar, wie Hörner herausragen, auf ihre Art kritisieren. – Wollten sie nun freilich auch die Auflösung der Widersprüche begreifen, so dürfte ihre gerühmte Kunst unter Zensur zu schreiben bald scheitern, und der Weg aus Deutschland den die Postillone weisen, auch für sie ein notwendiger Entwicklungsweg werden. Bauer ist so wahnsinnig aufs Kritisieren versessen, dass er mir neulich schrieb, man müsse nicht allein die Gesellschaft, die Privilegierten Eigentümer etc., sondern, woran noch niemand gedacht habe, auch die Proletarier kritisieren, als wenn nicht aus der Kritik derselben, d. h. aus dem Begreifen, ihres menschenunähnlichen und unwürdigen Zustandes, die Kritik der Reichen, des Eigenthums, der Gesellschaft überhaupt entstanden wäre. Schreiben Sie mir gleich was Sie für gut halten zu tun gegen Bauer, wenn Sie durchaus keine Zeit dran wenden mögen, wollen Hess und ich Ihre Briefe zu einem Zeitungsartikel zurichten. – Ich lege Ihnen noch eine Kritik der mystères de Paris aus Buhls Monatsschrift bei, die ich in vieler Beziehung für ausgezeichnet halte, einen merkwürdigen Kontrast bildet mit derselben die Kritik der B. Literaturzeitung, welche auch manches Gute enthält. – Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie mir über diese beiden Aufsätze Ihre Ansicht und einige Belehrung zukommen lassen wollten. – Es scheint mir Schmidt Unrecht zu haben wenn er E. Sue als bloßen Vertreter der alten unmenschlichen Moral und Sittlichkeit hinstellt, denn in die unteren Partien seines Gemäldes steigt er doch mit dem Maßstabe des Menschen hinab, hingegen kann man gewiss nicht mit der Literaturzeitung in Rudolph und besonders in dem verdammten Pfarrer von Bouqueval überall wahre Menschlichkeit finden. – Was die Literaturzeitung von der Einheit in Kunstwerken, als einer alten Fessel sagt, ist in dieser abstrakt hingeworfenen Weise gewiss Unsinn, dem unmenschlichen Zustande der Gesellschaft den Sue malt, muss er doch in Rudolph etc. die reine Menschheit entgegensetzen, und das wollte er auch, allein den bezeichnet Schmidt gewiss mit Recht als einen Flickschneider des Juste milieu. – Der Russe, den Sie mir diesen Winter schickten, war leider nur eine Stunde bei mir, er war müde und wollte weiter, sehr verwundert hat mich von ihm zu hören, dass Sie die hist. d. 10 ans von L. Blanc so streng verurteilen. – Von seinen religiösen Ansichten rede ich hier nicht, aber die Scheidung zwischen peuple und bourgeoisie, die er überall durchführt, scheint mir eben so vortrefflich dargestellt zu sein, als ich glaube, dass ihre Wirksamkeit auf das Französische Volk immens sein muss. – So lese ich eben den Aufstand der Arbeiter in Lyon, wie aus[gezeichnet] malt er die Not, den ganzen Zustand der Arbeiter, [... auf der] andern Seite die Republikaner, die nicht wissen, [was sie] anfangen sollen, erst auf sie schießen, dann sie g[...] wollen, und als Schluss die Kammer die in einer g[...] Debatte sich um 2 Worte in einer Addresse stre[...] nichts weiß, als dass man sich gegen die bestehende [Ordnung] auf frevelhafte Weise aufgelehnt habe. – Solche Gemäl[de] stellen besonders für das Volk die Sache klarer ause[...] als alle theoretische Lehre. – Auf unsern König ist geschossen worden, die Kölnische Zeitu[ng] freut sich darüber, dass es nicht aus politischen Motiven geschah, als wenn es nicht doppelt und zehnfach gemein wäre aus Privatinteresse auf einen König oder sonst jemand zu schießen. – So eben erhalte ich noch 8 Exemplare Ihrer Jahrb. durch den Buchhändler und werde sie sogleich verbreiten. Einliegend 800 francs für die konfiszierten 100 Exemplare, ist es so richtig? – Ich hoffe so viel Anspruch auf Ihre Freundschaft zu haben, dass Sie Ihre pekuniäre Lage mir stets, wenn's nötig ist, mitteilen werden. Wie gefiel Ihnen der Bergenroth? Ihr G. Jung Köln 31 Juli 1844 Monsieur K. Marx a Paris rue Vanneau, hôtel Vanneau 22. franco. |