Ludwig Feuerbach: Brief an Karl Marx in Kreuznach Bruckberg, 25. Oktober 1843 [Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Dritte Abteilung. Briefwechsel, Band 1. Berlin 1975, S. 419 f.] Bruckberg, 25 Okt. 43 Hochzuverehrender Herr! Sie haben mir die Notwendigkeit einer neuen Charakteristik Schellings und zwar Angesichts der Franzosen auf eine so geistreiche und eindringliche Weise vorgestellt, dass es mir herzlich leid tut, Ihnen erwidern zu müssen: Ich kann sie jetzt wenigstens nicht liefern. Sie schließen aus einer Anmerkung in der Vorrede zum Christent.: ich beschäftigte mich mit einer Schrift über Sch. Allein ich meinte die Schrift Kapps, den ich nur deswegen nicht nannte, weil ich nicht wusste, ob er sich selbst als Verfasser nennen würde. Seit dem April d. Js., da ich diese Vorrede geschrieben und ein plötzlicher Tod einen alten Bruder dahin gerafft hat, habe ich nicht den Schriftsteller, nicht den Philosophen, sondern den Stellvertreter des Verstorbenen, den Juristen – eine bisher mir ganz ungewohnte Rolle – spielen müssen. Eben war ich wieder zu mir selbst zurückgekehrt und im Begriffe, mich auf eine ernste schriftstellerische Arbeit vorzubereiten, als ich Ihr verehrtes Schreiben erhielt. Es machte auf mich einen solchen Eindruck, dass ich trotz meines Verlangens nach einer meinem innersten Berufe entsprechenden Tätigkeit Willens war, Ihrer Aufforderung zu folgen und den Philosophen der Eitelkeit ad coram zu nehmen. Wirklich nahm ich auch in diesem Willen die von Paulus edierten und glossierten Berliner Vorlesungen, die längst unangesehen auf meinem Lesetische lagen, zur Hand und brachte es über mich, dieses Non plus ultra absurder Theosophistik von Anfang bis zu Ende durchzugehen. Aber als ich nun die Feder ergriff, da scheiterte der gute Wille an dem Mangel innerer Nötigung und ich mag machen was ich will, was sich mir nicht aus innerster Notwendigkeit aufdrängt, das kann ich zu keinem Gegenstand schriftstellerischer Tätigkeit machen. Sch. zu charakterisieren d. h. zu entlarven, ist nach dem, was in neuster Zeit von Kapp und Andern geleistet wurde – nichts zu erwähnen von mir, der ich schon in der Rezension von Stahl seine letzte apokalyptische Posse ins gehörige Licht gesetzt habe – keine wissenschaftliche, sondern nur noch eine politische Notwendigkeit. Sie selbst sagen trefflich: die apokalyptische Posse ist die preußische Politik sub specie philosophiae, und nennen den theosophistischen Gaukler das 38ste Bundesmitglied und belegen dies mit einer höchst ergötzlichen Tatsache. Wir haben es hier also mit einem Philosophen zu tun, der uns statt der Macht der Philosophie die Macht der Polizei, statt der Macht der Wahrheit die Macht der Lüge und Täuschung vergegenwärtigt. Aber ein solches widerspruchsvolles, widerwärtiges Subjekt fordert zu seiner adäquaten Behandlung auch eine adäquate Geistesstimmung. Das überhaupt, was man für absolut richtig erkannt und als solches bereits direkt und indirekt erwiesen hat, das also, was einem gar kein Objekt mehr ist, sich zum Vorwurf zu machen, das ist eine große psychologische Schwierigkeit. Gleichwohl anerkenne ich mit Ihnen die äußere, politische Notwendigkeit einer nochmaligen energischen Charakteristik S.s, und werde sie auch nicht außer Acht lassen. Aber bis jetzt war sie mir nicht möglich. Ihre Aufforderung traf mich völlig unvorbereitet auf ein solches mauvais subject. Und bereits ist periculum in mora. Ich eile nun statt mit der Charakteristik, mit diesem leeren Briefe zu Ihnen. |