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Karl Marx 18430212 Randglossen zu den Anklagen des Ministerialreskripts

Karl Marx: Randglossen zu den Anklagen des Ministerialreskripts1

[Geschrieben am 12. Februar 1843. Nach der Handschrift. Nach Marx Engels Werke, Band 40, Berlin 1985 {bzw. Ergänzungsband. Erster Teil, Berlin 1968}, S. 420-425]

I

Dasselbe" (das Rheinische] Blatt) „verfolgte von seiner Entstehung an eine so verwerfliche Richtung" etc. „Unverkennbar", heißt es, „herrschte in der Zeitung fortgesetzt die Absicht vor, die Verfassung des Staats in ihrer Basis anzugreifen, Theorien zu entwickeln, welche auf Erschütterung des monarchischen Prinzips abzielen, das Verfahren der Regierung in der öffentlichen Meinung böswillig zu verdächtigen, einzelne Stände der Nation gegen die anderen aufzureizen, Missvergnügen mit den bestehenden gesetzlichen Zuständen zu erwecken und sehr feindselige Richtungen gegen befreundete Mächte zu begünstigen. Die Ansichten über angebliche Mängel der Verwaltung wurden, abgesehen davon, dass sie meist aus der Luft gegriffen waren und größtenteils der Gründlichkeit und Sachkenntnis entbehrten, nicht in ernstem, ruhigem und würdigem Tone, sondern unter gehässiger Anfeindung des Staates und seiner Verwaltungsformen und Organe entwickelt."

Eine Richtung wird offenbar nicht schon dadurch verwerflich, dass die Regierung sie für verwerflich erklärt. Auch das Kopernikanische Weltsystem wurde von der zeitweiligen höchsten Autorität nicht nur verwerflich gefunden, sondern wirklich verworfen. Ferner ist es überall rechtens, dass der Ankläger den Beweis führt. Endlich wird der „Rh[einischen] Z[eitung]" die „unverkennbare Absicht" der zur Last gelegten Freveltaten imputiert. Eine Absicht ist aber erst erkennbar, also noch mehr unverkennbar, sobald sie sich in Taten verwirklicht hat.

Geben wir aber selbst einen Augenblick zu (was wir indessen förmlich in Abrede stellen), sämtliche Anschuldigungen des Ministerialreskripts seien begründet, so wird sich nichtsdestoweniger ergeben, dass sie in ihrer jetzigen unbestimmten und vieldeutigen Fassung das Verbot jeder beliebigen Zeitung ebenso viel und ebenso wenig motivieren würden wie das Verbot der „Rheinischen Zeitung".

Zunächst soll in der „Rheinischen Zeitung" die „unverkennbare Absicht" vorgeherrscht haben, „die Verfassung des Staats in ihrer Basis anzugreifen". Bekanntlich herrscht aber unverkennbar eine große Meinungsverschiedenheit über die preußische Verfassung und ihre Basis vor. Einige leugnen, dass die Basis eine Verfassung, andere, dass die Verfassung eine Basis habe.

Eine andere Ansicht haben Stein, Hardenberg, Schön, eine andere Rochow, Arnim, Eichhorn. Hegel glaubte zu seinen Lebzeiten in seiner Rechtsphilosophie die Basis der preußischen Verfassung niedergelegt zu haben, und die Regierung und das deutsche Publikum glaubten es mit ihm. Die Regierung bewies dies unter anderem durch das offizielle Verbreiten seiner Schriften; das Publikum aber, indem es ihm vorwarf, preußischer Staatsphilosoph zu sein, wie im alten Leipziger Konversationslexikon zu lesen steht.2 Was damals Hegel glaubte, glaubt heutzutage Stahl. Hegel las im Jahre 1831 auf speziellen Befehl der Regierung Rechtsphilosophie.

Im Jahre 1830 erklärte die „Staats-Zeitung" Preußen für eine Monarchie, umgeben mit republikanischen Institutionen. Sie erklärt es heute für eine Monarchie, umgeben mit christlichen Institutionen.

Bei dieser großen Meinungsverschiedenheit über die preußische Verfassung und ihre Basis scheint es natürlich, dass auch die „Rh. Z." ihre Meinung hatte, die zwar von der zeitweiligen Regierungsansicht abweichen mag, die aber nichtsdestoweniger sowohl die preußische Geschichte als viele Elemente des gegenwärtigen Staatslebens als endlich hochgestellte Autoritäten für sich anzuführen hat.

Weit entfernt also, dass die „Rh. Z." beabsichtigt hätte, die preußische Verfassung in ihrer Basis anzugreifen, griff sie, ihrer Überzeugung nach, im Gegenteil nur die Abweichungen von dieser Basis an.

In Bezug auf das Verbot der „Rh. Z." bezeichnet ein offizieller Artikel in der „Allgemeinen Königsberger Zeitung" Preußen als den Staat der liberalen Souveränität. Es ist dies eine Definition, die sich nicht im preußischen Landrecht findet und die alle möglichen Deutungen zulässt.

Man kann unter „liberaler Souveränität" ein Doppeltes verstehen, entweder dass die Freiheit bloß persönliche Gesinnung des Königs sei, also seine persönliche Eigenschaft, oder dass die Freiheit der Geist der Souveränität sei, also auch in freien Institutionen und Gesetzen verwirklicht ist oder wenigstens verwirklicht werden soll. Im ersten Fall hat man den despotisme eclairé3 und stellt die Person des Fürsten dem Staatsganzen, als einem geistlosen und unfreien Stoffe, gegenüber. Im letzten Falle beschränkt man, und dies war die Ansicht der „Rh. Z.", den Fürsten nicht auf die Grenzen seiner Person, sondern betrachtet den ganzen Staat als seinen Körper, so dass die Institutionen die Organe sind, in denen er lebt und wirkt, so dass die Gesetze die Augen sind, mit denen er sieht.

Es soll ferner die Absicht der „Rh. Z." gewesen sein, „Theorien zu entwickeln, welche auf Erschütterung des monarchischen Prinzips abzielen".

Wiederum fragt es sich, was versteht man unter „monarchischem Prinzip"? Die „Rh. Z." z.B. behauptete, das Vorherrschen der Standesunterschiede, einseitige Bürokratie, Zensur etc. widersprächen dem monarchischen Prinzip, und sie hat ihre Behauptungen stets zu beweisen gesucht, sie hat sie nicht als bloße Einfälle hingestellt. Überhaupt aber hat die „Rh. Z." niemals mit besonderer Vorliebe eine besondre Staatsform behandelt. Ihr war es um ein sittliches und vernünftiges Gemeinwesen zu tun; sie betrachtete die Forderungen eines solchen Gemeinwesens als Forderungen, die unter jeder Staatsform verwirklicht werden müssten und verwirklicht werden könnten. Sie behandelte also das monarchische Prinzip nicht als ein apartes Prinzip, sie behandelte vielmehr die Monarchie als Verwirklichung des staatlichen Prinzips überhaupt. War dies ein Irrtum, so war es kein Irrtum der Geringschätzung, sondern der Überschätzung.

Die „Rh. Z." hat ferner nie gesucht, das Verfahren der Regierung in der öffentlichen Meinung böswillig zu verdächtigen. Sie hat vielmehr aus gutem Willen dem Volksgeist widerstrebende Maßregeln der Regierung selbst zu verdächtigen gesucht. Sie hat ferner nie die Regierung dem Volk abstrakt gegenübergestellt, sondern vielmehr die Staatsgebrechen ebenso sehr als Gebrechen des Volks wie der Regierung betrachtet.

Was die Gründlichkeit und Sachkenntnis wie den Ton der „Rh. Z." betrifft, so hat wenigstens keine einzige Zeitung in Deutschland mehr Gründlichkeit und Sachkenntnis entwickelt. Der Ton aber ist wahrhaft ernst, ruhig und würdig, wenn man ihn mit dem polternden Ton der servilen (konservativen)4 Journale vergleicht. Es ist der „Rh. Z." in dieser Hinsicht wohl nicht mit Unrecht der Vorwurf der Inpopularität, der zu wissenschaftlichen Form gemacht worden, was dem Vorwurf des Ministeriums direkt widerspricht.

Die „Rh. Z." hat ebenso wenig einzelne Stände der Nation gegen andere einzelne Stände, sie hat vielmehr jeden Stand gegen seinen eigenen Egoismus und Beschränktheit aufzureizen gesucht, sie hat überall die staatsbürgerliche Vernunft gegen die ständische Unvernunft und die menschliche Liebe gegen den ständischen Hass geltend gemacht. Sie hat hierin überdem, wenn sie gesündigt hat, nur eine Sünde begangen, die durch das Gesetz und die Sitte der Rheinprovinz sanktioniert ist.

Der Vorwurf, „Missvergnügen mit den bestehenden gesetzlichen Zuständen erregt" haben zu wollen, kann in dieser unbestimmten Fassung nicht einmal als Vorwurf betrachtet werden.

Auch die Regierung hat Missvergnügen mit den bestehenden gesetzlichen Zuständen, z.B. mit den altpreußischen Ehezuständen, zu erregen gesucht. Jede Gesetzreform und Revision, jeder Fortschritt beruht auf solchem Missvergnügen.

Da eine gesetzliche Entwicklung nicht möglich ist ohne Entwicklung der Gesetze, da eine Entwicklung der Gesetze unmöglich ist ohne eine Kritik der Gesetze, da jede Kritik der Gesetze den Kopf, also auch das Herz der Staatsbürger mit den bestehenden Gesetzen entzweit, da diese Entzweiung als Missvergnügen empfunden wird, so ist eine loyale Beteiligung der Presse an der Staatsentwicklung unmöglich, wenn sie nicht Missvergnügen mit den bestehenden gesetzlichen Zuständen erregen darf.

Der Vorwurf, dass die „Rh. Z." loyale Organe mit unwürdigem Spott verfolgt, der sich wohl auf die Zeitungspolemik beziehen soll, kann keinen Grund zu einem Verbot abgeben. Die „Rh. Z." wurde von allen Seiten denunziert, mit Kot beworfen, angegriffen. Es war ihre Pflicht, sich zu verteidigen. Überdem gibt es keine offizielle Presse.

Die „Rh. Z." hat auswärtige Mächte nicht beleidigt, sondern nur deren Beleidigungen gegen Deutschland gerügt. Sie hat hierin nur eine nationale Politik befolgt.5 Was die deutschen Bundesstaaten angeht, so hat sie hier nur die Ansicht der Majorität der Volksvertreter in diesen Staaten ausgesprochen.

In Bezug auf die Religion endlich hat sie nach dem Art. II des Zensuredikts von 1819 gehandelt, nämlich dem fanatischen Herüberziehen von Religionswahrheiten in die Politik und der daher entspringenden Verwirrung der Begriffe6 entgegengearbeitet.

II

Hätte die „Rh. Z."eine systematische Opposition gegen die Regierung bilden wollen, so hätte sie eine ganz entgegengesetzte Taktik beobachten müssen.

Sie hätte den Vorurteilen der Rheinprovinz geschmeichelt, statt ihnen entgegenzutreten. Sie hätte vor allem den religiösen Vorurteilen gehuldigt und in der Manier der Ultramontanen den Gegensatz der nord- und süddeutschen Bildung ausgebeutet, statt die norddeutsche Bildung in die Rheinprovinz einzuführen.

Sie hätte sich an französische und nicht an deutsche Theorien angelehnt.

Sie hätte der Staatsidee in ihrer Einheit den Provinzialgeist in seinen besonderen Schranken entgegengesetzt, also vor allem, wie Görres es tut7, die Provinziallandtage in Schutz genommen.

Sie hätte alles Gute auf Seite der Stände und alles Böse auf Seite der Regierung gesehen, wie es der gewöhnliche Liberalismus tut. Sie hätte nicht, was sie in Gegensatz zu vielen rheinischen8 Liberalen brachte, in ihrer Kritik der Rheinischen Stände die allgemeine Weisheit der Regierung gegen den Privategoismus der Stände hervorgehoben. Sie hätte endlich mit anderen Blättern Chorus gemacht und erweiterte Rechte der Ausschüsse begehrt, statt ein solches Begehren als staatswidrig darzustellen.

III

Endlich ist es eine seltsame Übertreibung, von der Böswilligkeit der ganzen Tendenz zu sprechen, da sonach

1. der Kampf für den Zollverein,

2. für Preußen in der russischen Kartellangelegenheit9,

3. für die preußische Hegemonie,

4. das beständige Hinweisen auf Preußen als den Staat des Fortschritts,

5. das Lob der preußischen volkstümlichen Einrichtungen, als Heer, Verwaltung etc.

ebenfalls bösartig wäre.

So hat auch die „Rh. Z." nicht einseitig die Bürokratie bekämpft. Sie hat sie vielmehr geltend gemacht:

1. gegen Bülow-Cummerow,

2. gegen die romantische Richtung.

Sie war vielmehr die einzige liberale Zeitung, welche auch ihre gute Seite, wie die gute Seite der alten preußischen Gesetzgebung anerkannte.

So hat die „Rh. Z." allein den Hauptgrundsatz des neuen Ehescheidungsgesetzes verteidigt, im Widerspruch fast zu allen anderen Blättern.

So hat sie endlich die Kabinettsordre über die Berichtigungen zuerst und fast allein als einen Fortschritt begrüßt.

Wir führen diese Beispiele nur an, um zu beweisen, dass die „Rh. Z." nicht systematische, abstrakte Opposition gemacht, sondern immer nur das ihrer Überzeugung nach Vernünftige geltend gemacht, mochte es nun von dieser oder jener Seite ausgehen.

1 Die „Randglossen zu den Anklagen des Ministerialreskripts" schrieb Marx im Zusammenhang mit der am 21. Januar 1843 erfolgten Verfügung über das Verbot der „Rheinischen Zeitung" mit dem 1. April d. J. durch die der Zensur verantwortlichen Minister. Der Inhalt der Randglossen ging in das umfangreiche Schreiben an Friedrich Wilhelm IV. und an den Minister des Innern, Graf von Arnim, ein, das die Aktionäre der „Rheinischen Zeitung" zum Verbot dieses Blattes entworfen hatten (siehe „Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850." Hrsg. von Joseph Hansen. 1 .Bd. Essen a.d. Ruhr 1919, S.447-460).

Über das Ministerialreskript vom 21. Januar 1843 siehe auch den Brief von Marx an Arnold Ruge vom 25. Januar 1843.

2 Wahrscheinlich meint Marx das „Neue eleganteste Conversations-Lexicon für Gebildete aus allen Ständen. Hrsg. … von O. L. B. Wölfl", Band 2, Leipzig 1835, wo es auf S. 255 heißt, dass Hegel, als er 1818 nach Berlin kam, „seine Philosophie – sozusagen – zur Landesphilosophie gemacht hatte".

3 aufgeklärten Despotismus

4 „(konservativen)" steht in der Handschrift über „servilen"

5 Dieser Satz wurde von Marx mit dem Verweis * eingefügt; er befindet sich am Ende der Seite

6 Die von Marx angeführten Worte „dem fanatischen Herüberziehen" bis „Verwirrung der Begriffe" stimmen fast wörtlich mit der Verordnung über die Zensur von Druckschriften vom 18. Oktober 1819 überein.

7 Joseph von Görres vertrat seine Auffassungen vor allem in den katholischen Münchener „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland" (1838-1916). Diese Zeitschrift war am 1. April 1838 im Zusammenhang mit den Kölner Wirren (Konflikt zwischen der preußischen Regierung und der katholischen Kirche in der Frage des Glaubensbekenntnisses der Kinder bei Ehen zwischen Katholiken und Protestanten) gegründet und in Preußen wegen ihrer antipreußischen Haltung am 7. August 1839 verboten worden.

8 Von Marx korrigiert aus: preußischen

9 russische Kartellangelegenheit – es handelt sich hier um die im März 1830 zwischen Preußen und Russland abgeschlossene Kartell-Konvention über die gegenseitige Auslieferung von flüchtigen Deserteuren, Militärpflichtigen, Verbrechern und Angeklagten.

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