Karl Marx: Die „Rhein- und Mosel-Zeitung" als Großinquisitor [„Rheinische Zeitung" Nr. 71 vom 12. März 1843. Nach Marx Engels Werke, Band 40, Berlin 1985 {bzw. Ergänzungsband. Erster Teil, Berlin 1968}, S. 431-433] *Köln, 11. März. Vor einigen Tagen publizierte die „Rhein- und Mosel-Zeitung" eine religiöse Bannbulle gegen die fromme „Kölnische Zeitung", heute steht die „Triersche Zeitung" vor dem Inquisitionsgericht zu Koblenz und – mit Recht. Die „Triersche Zeitung" sagt nämlich bei Gelegenheit Friedrichs v. Sallet u.a.: „Vor uns liegt sein Werk, das,Laien-Evangelium', das uns die heiligen, ewigen Wahrheiten des Evangeliums unverfälscht offenbart." „Er" (Sallet) „bestrebte sich, Mensch in dem hohen Sinne zu sein, wie Jesus das Vorbild gegeben, und offenbarte als wahrer Streiter des Herrn ewige Wahrheit." „Wer das lieset", sagt die „Rhein- und Mosel-Zeitung", „und weiter nichts von dem Hochgepriesenen weiß, sollte der nicht glauben, Herr v. Sallet müsse doch ein gläubiger Christ gewesen sein und in seinem ,Laien-Evangelium' des Herren Wort mit Flammeneifer gepredigt haben! Was aber ist in Wahrheit der Inhalt dieses Evangeliums! Jene falsche und verderbliche Lehre, die ein Strauß, ein Feuerbach, ein Bruno Bauer, und wie sie alle heißen mögen, die Apostel des modernen Heidentums, in Hörsälen und in Schriften dem engeren Kreise der Gelehrten vortragen usw." Als authentische Belege ihrer Behauptung zitiert die „Rhein- und Mosel-Zeitung" „eine Stelle aus diesem ,Laien-Evangelium', und zwar diejenige, worin die Parallele zwischen dem Verräter Judas und dem evangelischen Christus, d.h. dem Christus, wie er in der Bibel dargestellt ist, gezogen wird". Die angeführten Belege beweisen schlagend, in welchen bewussten Gegensatz Sallet sich zu dem historischen Christentum gestellt hatte. Eine verkehrte Humanität wird vielleicht durch die rücksichtslose Polemik der „Rhein- und Mosel-Zeitung" gegen den kaum Verstorbenen verletzt werden, allein ist die Apologie der „Trierschen Zeitung" nicht viel inhumaner, nicht ungleich verletzender? Ehre ich den Toten, wenn ich seine geistige Persönlichkeit verfälsche? Sallet bestrebte sich allerdings, Wahrheit zu offenbaren, aber keineswegs die Wahrheit des Evangeliums. Sallet bestrebte sich allerdings, ein wahrer Mensch zu sein, aber keineswegs ein Streiter für die kirchliche Wahrheit. Sallet glaubte vielmehr, die vernünftige Wahrheit nur im Gegensatz gegen die heilige Wahrheit, glaubte den sittlichen Menschen nur im Gegensatz gegen den christlichen Menschen geltend machen zu können – und darum schrieb er sein „Laien-Evangelium". Und wie? Sein Apologet in der „Trierschen Zeitung" ehrte den Mann, wenn er sein ganzes Streben geradezu auf den Kopf stellt? Würdet ihr den Luther ehren, wenn ihr sagtet, er sei ein guter Katholik gewesen, und den Papst Ganganelli, wenn ihr ihn einen Jesuiten-Maecenas nenntet? Welche Heuchelei! Welche Schwachheit! Sallet war ein Republikaner; bist du sein Freund, wenn du seinen Royalismus prunkend ausposaunst? Sallet liebte vor allem die Wahrheit, und ihr glaubt, ihm nicht besser huldigen zu können als durch die Unwahrheit? Oder kämpfen in euch Christentum und Freundschaft! Gut! So gesteht es ein, so sagt: Sallet war ein guter Mensch usw. -, aber ein schlechter Christ! Beklagt das, wenn ihr wollt, beklagt es öffentlich, nur gebt seine Werke nicht für leuchtende Testimonia seines Christentums aus. Verdammt ihr das Streben eures Freundes, so verdammt es sans-gêne wie die „Rhein- und Mosel-Zeitung", aber nicht auf einem heuchlerischen Umweg, nicht dadurch, dass ihr das an ihm lobt, was er nicht war, also eben das an ihm verwerft, was er wirklich war. Wenn wir auch zugestehen, dass das „Laien-Evangelium" selbst Anlass zu einer solchen Auffassung geben mochte, dass Sallet hier noch keineswegs mit sich selbst im Klaren ist, dass er selbst den wahren Sinn des Evangeliums zu lehren glaubt, dass es ein leichtes ist, dem Zitat der „Rhein- und Mosel-Zeitung" ganz christlich klingende, widersprechende Zitate entgegenzustellen, so behält die „Rhein- und Mosel-Zeitung" immer darin recht, dass er an die Stelle des historischen ein selbstgemachtes Christentum stellt. Schließlich noch ein Wort über die von der „Rhein- und Mosel-Zeitung" zitierten Stellen! Sie leiden an einem Grundmangel, an der Unpoesie, und überhaupt, welch ein verkehrter Einfall, theologische Kontroversen poetisch behandeln zu wollen! Ist es je einem Komponisten eingefallen, die Dogmatik in Musik zu setzen? Abgesehen von dieser Ketzerei gegen die Kunst, was ist der Inhalt der zitierten Stelle? Sallet findet es mit der Göttlichkeit Christi unvereinbar, dass Christus die verräterische Absicht Judae kennt, ohne dass er ihn zu bessern oder die Freveltat zu vereiteln sucht. Sallet ruft daher (so zitiert die „Rhein- und Mosel-Zeitung") aus: „Weh' dem Verblendeten! wer es auch sei, Der solche Züge von dem Herrn erdacht, Und, ihm dies bisschen Menschenkennerei Zu retten, ihn zum Zerrbild uns gemacht."1 Sallets Urteil zeugt dafür, dass er weder Theologe noch Philosoph war. Als Theologen konnte ihn der Widerspruch mit menschlicher Vernunft und Sittlichkeit nicht beunruhigen, denn der Theologe misst das Evangelium nicht an menschlicher Vernunft und Sittlichkeit, sondern umgekehrt die menschliche Vernunft und Sittlichkeit an dem Evangelium. Als Philosoph dagegen würde er solche Widersprüche in der Natur des religiösen Denkens begründet gefunden, den Widerspruch daher als notwendiges Produkt der christlichen Anschauung begriffen und keineswegs als eine Verfälschung derselben verdammt haben. Die „Rhein- und Mosel-Zeitung" möge in ihrem Glaubenswerke rüstig fortfahren und das Sanbenito2 sämtlichen rheinischen Zeitungen umwerfen. Wir werden sehen, ob die Halben, die Lauen, die weder kalt noch warm sind, ob sie sich besser vertragen werden mit dem Terrorismus des Glaubens als mit dem Terrorismus der Vernunft. 1 Friedrich von Sallet, „Laien-Evangelium", Leipzig 1842, S.442. 2 Sanbenito (vom lat. succus benedictus) – das Armesünderhemd, das die von der spanischen Inquisition zum Flammentod Verurteilten tragen mussten. |