Karl Marx: Die hiesige Landtagsabgeordnetenwahl [„Rheinische Zeitung" Nr. 68 vom 9. März 1843. Nach Marx Engels Werke, Band 40, Berlin 1985 {bzw. Ergänzungsband. Erster Teil, Berlin 1968}, S. 426-430] *Köln, 9. März. Die „Rhein- und Mosel-Zeitung", welche so bescheiden ist, weder „die am meisten gelesene Zeitung der Rheinprovinz" noch eine „Trägerin des politischen Gedankens" zu sein, bemerkt in Bezug auf die Abgeordnetenwahl der Stadt Köln1 u.a.: „Wir sind gern bereit, die Herren Merkens2 und Camphausen3 für sehr ehrenwerte4 Männer zu halten" („und ehrenwerte Männer sind sie alle", heißt es in der Tragödie) „und selbst" (man bedenke wohl!) „selbst5 der ,Rhein[ischen] Zeitung' Beifall zu schenken" (höchst wertvolles Geschenk!), „wenn sie dieselben triumphierend den Gegnern der Rechte unserer Provinz entgegenstellt, aber um so schärfer und entschiedener müssen wir die Gründe6 tadeln, durch die man auf die Wahl jener Herren einen Einfluss zu nehmen gesucht hat, nicht als ob diese Gründe keine Berücksichtigung verdienten, sondern weil sie keine so ausschließliche, nur7 eine sekundäre verdienten." Es wurde nämlich an verschiedene Wähler der Stadt Köln folgendes lithographierte Schreiben verteilt: „Was die Stadt Köln auf dem bevorstehenden Landtage zunächst und am wichtigsten zu vertreten hat, sind unbestreitbar ihre Handels- und industriellen Zustände, und deshalb wird die Wahl auf Männer fallen müssen, die, neben ehrenhafter Gesinnung und unabhängiger, bürgerlicher Stellung unter uns, mit dem Gange dieser Verhältnisse nach allen Richtungen genau bekannt und befähigt sind, sie von dem richtigen Standpunkt aufzufassen, zu beleuchten und zu entwickeln." Folgt die Hinweisung auf die obengenannten, gewiss sehr ehrenwerten Männer. – Sodann heißt es zum Schluss: „Unsere Stadt nimmt schon heute in der merkantilischen Welt einen mächtigen Sitz ein; es steht ihr aber eine noch weit größere Verbreitung ihres Handels und Gewerbes bevor, und die Entwicklungszeit ist nicht ferne. – Segel- und Dampfschifffahrt, Schleppschiffahrt und Eisenbahn werden unserer Stadt die Zeit der alten Hansen zurückführen – nur muss ihr wahres Interesse mit Verstand und Umsicht auf dem bevorstehenden Landtage vertreten werden. Köln, am 24. Febr. Mehrere Wähler." Dieses Schreiben veranlasst die höchst spirituelle „Rhein- und Mosel-Zeitung" zu folgender Kapuzinade: „Wenn irgendwo die materiellen Lokalinteressen dergestalt vorherrschen, dass geistige und allgemeine Bedürfnisse nicht einmal leise durchschimmern, darf es da wundernehmen, wenn von denjenigen, die die Zügel der Regierung in Händen haben, auch nur auf die ersteren Rücksicht genommen, die zweiten aber allein nach ihrem Gutbefinden angeordnet werden? O, du große Stadt Köln, du heilige Stadt Köln, du witzige Stadt Köln, wie weit ist es mit den geistigen Zuständen und historischen Erinnerungen mancher deiner Kinder gekommen! Mit der Verwirklichung von Wünschen und Hoffnungen, die dich höchstens zu einem großen Klüngel(-Beutel) machen können, wähnen sie die Zeit der alten Hansen zurückzuführen!!!" Die „Rhein- und Mosel-Zeitung" tadelt nicht die Wahl der Abgeordneten, sie tadelt die Gründe, welche auf die Wahl „Einfluss genommen" haben sollen. Und welches waren diese Gründe? Die „Rhein- und Mosel-Zeitung" zitiert ein Umlaufschreiben an verschiedene Wähler, worin die „Handels- und industriellen Zustände" als die wichtigsten Gegenstände der Vertretung Kölns auf dem bevorstehenden Landtage bezeichnet werden. Woher weiß die „Rhein- und Mosel-Zeitung", dass dieses Umlaufschreiben, das übrigens, wie die „Rhein- und Mosel-Zeitung" selbst gesteht, nur an „verschiedene" Wähler gelangte, solchen Effekt auf die Gemüter der Wähler hervorbrachte, dass es vorzugsweise und ausschließlich die Wahl der Herren Merkens und Camphausen entschied? Weil in einem Umlaufschreiben aus ganz besonderen Gründen die Wahl dieser Herren empfohlen wird, und weil diese Herren wirklich gewählt wurden, folgt daher irgendwie, dass die Wahl dieser Herren eine Konsequenz jener Empfehlung und ihrer besonderen Motivierung ist? Die „Rhein- und Mosel-Ztg." schenkt der „Rh[einischen] Z[eitung]" Beifall, wenn sie die Herren Camphausen und Merkens „triumphierend den Gegnern der Rechte unserer Provinz entgegenstellt". Was bewegt sie zu diesem „Beifallschenken"? Offenbar der Charakter der Gewählten. Sollte dieser Charakter zu Köln weniger bekannt gewesen sein als zu Koblenz? Unter den am Landtag zu vertretenden Interessen nennt die „Rhein- und Mosel-Zeitung" nur die „freiere Gemeindeverfassung" und die „Erweiterung der ständischen Rechte". Glaubt sie, man wisse zu Köln nicht, dass Herr Merkens sich an verschiedenen Landtagen durch seinen Kampf für die „freie Gemeindeverfassung" ausgezeichnet, dass er sogar an einem Landtag im Gegensatz fast zur ganzen Versammlung die freie Gemeindeverfassung männlich und unverdrossen verteidigt hat? Was aber „die Erweiterung der ständischen Interessen" betrifft, so ist es zu Köln sehr wohl bekannt, dass Herr Merkens vorzugsweise gegen die Schmälerung dieser Interessen durch die Autonomie protestiert hat, dass er indessen ebenso entschieden das ständische Interesse in seine Schranken zurückwies, wo es dem allgemeinen Interesse, dem allgemeinen Recht und der Vernunft opponierte, wie in den Debatten über das Holzdiebstahls- und Jagdgesetz, Wenn also der allgemeine Beruf des Herrn Merkens zum Landtagsabgeordneten durch seine ganze parlamentarische Laufbahn außer allen Zweifel gesetzt ist, wenn die seltene, universale Bildung, die hohe Intelligenz und der ernste, ehrenwerte Charakter des Herrn Camphausen allgemein bekannt und anerkannt sind, woher weiß die „Rhein- und Mosel-Zeitung", dass die Wahl jener Herren nicht diesen in die Augen fallenden Gründen, sondern vielmehr dem zitierten Umlaufschreiben ihr Leben verdankt? Nein! nein! wird uns das ehrenwerte Blatt antworten, das behaupte ich nicht, beileibe nicht! Mein zarter spiritualistischer Sinn nimmt nur Ärgernis an den Urhebern jenes Umlaufschreibens, an jenen Materialisten, welche, statt der geistigen und wahrhaften Volksinteressen, auch noch ganz andere und viel niedrigere Motive hervorgezogen, welche durch unpassende Gründe auf die Wahl jener Herren einen Einfluss zu nehmen gesucht haben, auf jene „Kinder Kölns", mit deren „geistigen Zuständen und historischen Erinnerungen" es so weit herab gekommen ist! Wenn die „Rhein- und Mosel-Zeitung" nur mit den Urhebern jenes anonymen Schreibens zu tun hat, warum erhebt sie so großes Geschrei? Warum sagt sie: „Wenn irgendwo die materiellen Lokalinteressen dergestalt vorherrschen, dass geistige und allgemeine Bedürfnisse nicht einmal leise durchschimmern, darf da es wundernehmen, wenn von denjenigen, die die Zügel der Regierung in Händen haben, auch nur auf die erstem Rücksicht genommen, die zweiten aber allein nach ihrem Gutbefinden angeordnet werden!"8 Herrschen denn die materiellen Lokalinteressen ausschließlich in Köln vor, weil sie ausschließlich in einem anonymen Umlaufschreiben vorherrschen! Ebenso wenig, wie die juristischen Interessen ausschließlich in Köln vorherrschen, weil sie in einem anderen, ebenfalls verschiedenen Wählern zugegangenen Umlaufschreiben ausschließlich geltend gemacht sind! Gibt es nicht in jeder Stadt wie in jeder Familie geistlose Kinder? Wäre es billig, von diesen Kindern auf den Charakter der Stadt oder der Familie zu schließen? Allein bei Licht besehen ist das Umlaufschreiben wirklich nicht so verwerflich, wie das ehrenwerte Koblenzer Blatt uns glauben machen will. Es wird sogar durch den Beruf der Landstände, wie er einmal gesetzlich bestimmt ist, vollständig gerechtfertigt. Der gesetzliche Beruf der Stände besteht teils darin, das allgemeine Interesse der Provinz, teils darin, ihr besonderes Standesinteresse geltend zu machen. Dass die Herren Camphausen und Merkens würdige Vertreter der rheinischen Provinzialinteressen seien, das ist eine allgemeine Überzeugung, die von den Urhebern des Umlaufschreibens weder befestigt noch auch nur erwähnt zu werden brauchte. Es handelte sich also, da der allgemeine Beruf dieser Herren zu Landtagsabgeordneten über alle Diskussionen erhoben war, nur mehr um die besonderen Erfordernisse eines kölnischen Deputierten, es handelte sich darum, welches Stadtinteresse Köln auf dem „bevorstehenden Landtage" „zunächst und am wichtigsten" zu vertreten habe! Wird man leugnen wollen, dass dies die „Handels- und industriellen Zustände" sind! Aber auch das einfache Leugnen wird nicht hinreichen, man wird den Beweis führen müssen. Besonderen Anstoß nimmt die „Rhein- und Mosel-Zeitung" an dem Passus: „Segel- und Dampfschiffahrt, Schleppschiffahrt und Eisenbahn werden unserer Stadt die Zeit der alten Hansen9 zurückführen." O, Jammer über die arme Stadt Köln! Wie sie getäuscht wird! Wie sie sich selbst täuscht! „Mit der Verwirklichung von Wünschen und Hoffnungen", jammert die „Rhein-und Mosel-Zeitung", „die dich höchstens zu einem großen Klüngel(-Beutel) machen können, wähnen sie die Zeit der alten Hansen zurückzuführen!" Arme „Rhein- und Mosel-Zeitung"! Sie versteht nicht, dass unter der „Zeit der alten Hansen" nur die Zeit des alten Handelsflors gemeint sein will, dass wirklich „alle geistige und allgemeine Bedürfnisse" zu Grabe geläutet, dass die „geistigen Zustände" vollständig verrückt, dass alle „historische Erinnerungen" rein ausgelöscht sein müssten, wenn Köln die politische, soziale und intellektuelle Zeit der Hansastädte, die Zeit des Mittelalters zurückzuführen wünschte! Müsste die Regierung die „geistigen und allgemeinen Bedürfnisse" nicht ausschließlich zu ihrer Privatdomäne schlagen, wenn eine Stadt sich aller vernünftigen und gesunden Anschauung der Gegenwart so völlig entfremdet hätte, um nur mehr in dem Traum der Vergangenheit zu leben! Wäre es nicht sogar die Pflicht der Regierung, die Pflicht ihrer Selbsterhaltung, die Zügel da straff anzuziehen, wo man in vollem Ernst dahin strebte, die ganze Gegenwart und die Zukunft in die Luft zu sprengen, um gewesene und verweste Zustände zurückzuführen! Wir wollen unsern Lesern reinen Wein einschenken. Es fand in Köln – und das zeugt am lautesten für seine politische Regsamkeit – ein ernster Wahlkampf statt, ein Kampf zwischen den Männern der Gegenwart und den Männern der Vergangenheit. Die Männer der Vergangenheit, die Männer, welche die „Zeit der alten Hansastädte" mit Haut und Haar restauriert sehen möchten, sind trotz aller Machinationen völlig aus dem Feld geschlagen worden. Und nun kommen diese phantastischen Materialisten, denen jedes Dampfschiff und jede Eisenbahn ihre krasse Geistlosigkeit ad oculos demonstrieren sollte, und sprechen heuchlerisch von „geistigen Zuständen" und „historischer Erinnerung" und weinen an den Gewässern Babylons über „die große Stadt Köln, die heilige Stadt Köln, die witzige Stadt Köln" – und hoffentlich sollen ihre Tränen so bald nicht versiegen! 1 Am 2. März 1843 hatte in Köln die Wahl der zwei Abgeordneten (Camphausen und Merkens) und ihrer vier Stellvertreter (Schenk, Mühlens, Dumond und Essing) für den 7. rheinischen Landtag stattgefunden. 2 Hervorhebung von Marx 3 Hervorhebung von Marx 4 Hervorhebung von Marx 5 Hervorhebung von Marx 6 Hervorhebung von Marx 7 Hervorhebung von Marx 8 Hervorhebungen von Marx 9 Hervorhebungen von Marx |