Karl Marx: Brief an Arnold Ruge in Dresden
[Nach Marx Engels Werke, Band 27, Berlin 1963, S. 416-418] Köln, 13. März [1843] Lieber Freund! Sobald als es irgend möglich ist, werde ich direkt nach Leipzig segeln. Soeben habe ich Stucke gesprochen, dem die meisten Staatsherrn in Berlin stark imponiert zu haben scheinen. Der Dr. Stucke ist ein sehr gutmütiger Mann. Was nun unsern Plan angeht1, so will ich Ihnen vorläufig meine Überzeugung sagen. Als Paris erobert war, schlugen einige den Sohn Napoleons mit Regentschaft, andre den Bernadotte, andre endlich den Louis-Philippe zur Herrschaft vor. Talleyrand aber antwortete: Louis XVIII. oder Napoleon. Das ist ein Prinzip: alles andere ist Intrige. Und so möchte ich auch fast alles andere außer Straßburg (oder höchstens die Schweiz) kein Prinzip, sondern eine Intrige nennen. Bücher über 20 Bogen sind keine Schriften fürs Volk. Das Höchste, was man da wagen kann, sind Monatshefte. Würden nun gar die „Deutschen Jahrbücher" wieder gestattet, so brächten wir es zum allerhöchsten auf einen schwachen Abklatsch der selig Entschlafenen, und das genügt heutzutage nicht mehr. Dagegen „Deutsch-Französische Jahrbücher", das wäre ein Prinzip, ein Ereignis von Konsequenzen, ein Unternehmen, für das man sich enthusiasmieren kann. Versteht sich, ich spreche nur meine unmaßgebliche Meinung und füge mich im andern des Schicksals ewigen Mächten. Schließlich – und die Zeitungsgeschäfte nötigen mich zu schließen – will ich Ihnen noch meinen Privatplan mitteilen. Sobald wir den Kontrakt abgeschlossen hätten, würde ich nach Kreuznach reisen und heiraten, einen Monat oder länger aber dort bei der Mutter meiner Braut wohnen, da wir doch jedenfalls, ehe wir ans Werk gehen, einige Arbeiten fertig haben müssten. Um so mehr könnte ich, wenn's nötig, einige Wochen in Dresden bleiben, da alle die Vorgeschichten, Ausrufen u. dgl. geraume Zeit hinnehmen. Ich kann Ihnen ohne alle Romantik versichern, dass ich von Kopf bis zu Fuß und zwar allen Ernstes liebe. Ich bin schon über 7 Jahre verlobt, und meine Braut hat die härtesten, ihre Gesundheit fast untergrabenden Kämpfe für mich gekämpft, teils mit ihren pietistisch-aristokratischen Verwandten, denen „der Herr im Himmel" und der „Herr in Berlin" gleiche Kultusobjekte sind, teils mit meiner eigenen Familie, in der einige Pfaffen und andre Feinde von mir sich eingenistet haben. Ich und meine Braut haben daher mehr unnötige und angreifende Konflikte jahrelang durchgekämpft als manche andre, die dreimal älter sind und beständig von ihrer „Lebenserfahrung" (Lieblingswort unseres Juste-milieu) sprechen. Apropos, da ist uns eine anonyme Replik auf Prutz' Bericht gegen die neuen Tübinger „Jahrbücher" zugegangen.2 Ich habe an der Handschrift den Schwegler erkannt. Sie werden als überspannter Unruhestifter, Feuerbach als frivoler Spötter, Bauer als gänzlich unkritischer Kopf charakterisiert! Die Schwaben! Die Schwaben! Das wird schönes Gebräu werden! Über Ihre schöne, echt populäre Beschwerdeschrift haben wir einen oberflächlichen Aufsatz von Pfützner3 – dazu habe ich die Hälfte gestrichen – in Ermangelung einer bessern Kritik und eigener Zeit gebracht. Der P.P. geht nie genug auf die Sache ein, und die kleinen Kapriolen, die er schneidet, machen mehr ihn selbst zum Gegenstand des Lächelns, als dass er seinen Feind lächerlich machte. Ihr Marx Die Bücher an Fleischer hab' ich besorgt. Ihr Briefwechsel vorn4 ist interessant. Bauer über Ammon5 ist köstlich. Die „Leiden und Freuden des theologischen Bewusstseins"6 scheinen mir eine nicht eben gelungene Übersetzung aus dem Abschnitt der „Phänomenologie": „Das unglückliche Bewusstsein". Feuerbachs Aphorismen sind mir nur in dem Punkt nicht recht, dass er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündnis, wodurch die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann. Doch wird's wohl gehen wie im 16ten Jahrh., wo den Naturenthusiasten eine andere Reihe von Staatsenthusiasten entsprach. Am meisten hat mir die Kritik der guten „Literarischen Zeitung" gefallen.7 Bauers Selbstverteidigung8 haben Sie wohl schon gelesen. Nach meiner Ansicht hat er noch nie so gut geschrieben. Was die „Rh[einische] Z[eitung]" angeht, so würde ich unter keiner Bedingung bleiben, ich kann unmöglich unter preußischer Zensur schreiben oder in preußischer Luft leben. Soeben kommt der Vorsteher der hiesigen Israeliten zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag, und ich will's tun. So widerlich mir der israelitische Glaube ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt. Es gilt soviel Löcher in den christlichen Staat zu stoßen als möglich und das Vernünftige, soviel an uns, einzuschmuggeln. Das muss man wenigstens versuchen –, und die Erbitterung wächst mit jeder Petition, die mit Protest abgewiesen wird. 1 Es handelt sich um die bereits zu jener Zeit vorgesehene Herausgabe der „Deutsch-Französischen Jahrbücher". 2 Robert Prutz' Aufsatz „Die Jahrbücher der Gegenwart und die deutschen Jahrbücher" wurde in dem Beiblatt der „Rheinischen Zeitung" Nr.43 vom 12.Februar 1843 veröffentlicht. Prutz wies in ihm nach, dass die angekündigte Zeitschrift „Jahrbücher der Gegenwart" ihrem Geist und ihrer Richtung nach keineswegs als die Fortsetzung der Zeitschrift „Deutsche Jahrbücher" angesehen werden könnte. 3 Marx meint die von Arnold Ruge und Otto Wigand publizierte Broschüre „An die Hohe Zweite Kammer der Sächsischen Ständeversammlung. Beschwerde über die durch ein Hohes Ministerium des Innern angeordnete und am 3.Januar 1843 ausgeführte Unterdrückung der Zeitschrift .Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst'", Braunschweig 1843. Die Beschwerde war an den sächsischen Landtag gerichtet. Auf der Broschüre stand außer dem Namen Ruges noch der Name Otto Wigands, des Leipziger Buchhändlers, der Werke der radikalen Schriftsteller herausgab. Pfützners Besprechung der Broschüre Ruges und Wigands erschien in den Beiblättern 71 und 72/73 der „Rheinischen Zeitung" vom 12. und 14.März unter dem Titel „Über die Broschüre an die hohe zweite Kammer der sächsischen Ständeversammlung". 4 Marx spricht hier von den Eingaben und Korrespondenzen Arnold Ruges sowie von den Bescheiden der Behörden auf dieselben, die unter dem Titel „Aktenmäßige Darlegung der Zensurverhältnisse der Hallischen und Deutschen Jahrbücher in den Jahren 1839, 1841, 1842" im ersten Band der „Anekdota" veröffentlicht worden waren. 5 Gemeint ist die im zweiten Band der „Anekdota" veröffentlichte Besprechung von Bruno Bauer über Christoph Friedrich von Ammons Buch „Die Geschichte des Lebens Jesu mit steter Rücksicht auf die vorhandenen Quellen dargestellt", I.Band, Leipzig 1842. 6 Bruno Bauers Aufsatz „Leiden und Freuden des theologischen Bewusstseins" wurde im zweiten Band der „Anekdota" veröffentlicht. 7 Es handelt sich hier um Arnold Ruges im zweiten Band der „Anekdota" veröffentlichten kritischen Aufsatz „Das ,christlich-germanische' Justemilieu. Die Berliner .litterarische Zeitung'. 1842, Januar und Februar". 8 Mit Bauers Selbstverteidigung meint Marx Bruno Bauers Buch „Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit" (erschien 1842 in Zürich und Winterthur). |