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Arnold Ruge 18430600 Brief an Michail Bakunin

Arnold Ruge: Brief an Michail Bakunin

[erschienen in: Ein Briefwechsel von 1843 Briefe von Karl Marx, Arnold Ruge, Michail Alexandrowitsch Bakunin und Ludwig Feuerbach Zusammengestellt und redigiert von Arnold Ruge. Deutsch-Französische Jahrbücher. Lfg.1/2. 1844, S. 31-34, Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Erste Abteilung. Werke – Artikel - Entwürfe, Band 2. Berlin 1982, S. 482-485]

Dresden, im Juni 1843.

Erst jetzt erhalt ich Ihren Brief; aber sein Inhalt veraltet nicht so schnell. Sie haben Recht. Wir Deutsche sind wirklich noch so weit zurück, dass wir nur erst wieder eine menschliche Literatur hervorbringen müssen, um die Welt theoretisch zu gewinnen, damit sie nachher Gedanken hat, nach denen sie handelt. Vielleicht können wir in Frankreich, vielleicht sogar mit den Franzosen eine gemeinsame Publikation unternehmen. Ich will mit unsern Freunden darüber korrespondieren. Übrigens haben Sie sich's mit Unrecht so sehr zu Herzen genommen, dass ich in Berlin verstimmt war.

Alle andern sind desto selbstzufriedener; und ein einziger Wunsch, den sich der erste Berliner, der König, erfüllt, wiegt eine Welt voll Verstimmung auf. Glauben Sie nicht, dass ich diese umfangreichen Wünsche verkenne. Das Christentum z. B. ist doch so zu sagen Alles. Nun ist es wiederhergestellt, der Staat ist christlich, ein wahres Kloster, der König ist sehr christlich und die königlichen Beamten sind am allerchristlichsten. Ich geb’ es zu, diese Leute sind nur fromm, weil sie an Einer Knechtschaft nicht genug haben. Sie müssen zu dem irdischen Hofdienst noch einen himmlischen hinzufügen; die Knechtschaft soll nicht nur ihr Amt, sie soll auch ihr Gewissen sein.

Und wenn die nordamerikanischen Wilden sich selbst ihre Sünden ausprügeln, so hoff ich werden auch wohl die Völker noch einmal dieselbe Prozedur an diesen Hunden des Himmels exekutieren. Aber für den Augenblick, wer sollte nicht finden, dass es gut steht im Reiche Gottes? und ich hätte gewiss an der allgemeinen Herrlichkeit den heitersten Anteil genommen, wenn ich nicht bedacht hätte, dass eine enttäuschte Verstimmung allemal besser ist, als eine enttäuschte Selbstzufriedenheit. Sie werden sagen, ich hätte den Eulenspiegel, der schon über den kommenden Berg verstimmt war, mit Nutzen gelesen; die Berliner haben ihn auch gelesen, sie lesen ihn immer, wenn sie ihre Geschichte lesen, aber ohne Nutzen: und so bleiben sie denn dabei dass ihre Eulenspiegeleien gute Witze wären. Selbst ihr Christentum interessiert sie nur als ein guter Witz, als eine geniale Wendung. Es ist pikant, sich zu allen Verrücktheiten des Aberglaubens zu bekennen und dabei einen heilen Rock zu tragen; es ist pikant jetzt sich reden zu hören im Stil des heiligen römischen Reichs mit „Gruß und Handschlag zuvor”, oder in dieser unheiligen Zeit mit dem Datum von irgend einem heiligen Tage zu unterzeichnen, und da es nicht möglich ist, auch aus den heiligen Örtern, etwa von St. Johann im Lateran und vom Vatikan zu datieren, so ist es wenigstens pikant, die Bulle zur Wiederherstellung der barmherzigen Schwestern oder zur Stiftung der Kapelle des heiligen Adelbert aus dem Schloss des unheiligen Friedrich zu erlassen.

Doch ich will nicht noch einmal die Gefahr laufen, unter Palmen zu wohnen, auch in der Phantasie nicht. Lebewohl, Berlin. Ich lobe mir Dresden. Hier ist Alles erreicht, hier wird Alles genossen, was Preußen mit der ganzen Anstrengung seines offiziellen Witzes nicht wiedergewinnen kann. Die Stände, die Innungen, die alten Gesetze, die Geistlichkeit neben der Weltlichkeit, der katholische Prälat in der Kammer der Reichsräte, die kurzen Hosen und schwarzen Strümpfe auch der lutherischen Geistlichen, die Ehescheidungen mit geistlichem Zuspruch und die Macht des Konsistoriums bei solchen Gelegenheiten, die Sonntagsfeier und 16 Groschen bis 5 Reichstaler Strafe für jeden Sabbatschänder, der grobe Arbeit verrichtet, ein Verein gegen die Tierquälerei aber keiner gegen die Schornsteinfegerei, keiner gegen die Verwahrlosung der Menschen – doch nein, um nicht ungerecht zu sein, so muss man sich erinnern, dass ein ehrlicher Christ, der Ernst mit dem Humanismus machte und die Kinderquälerei der Armen durch ein sehr ingeniöses Mittel teilweise abschaffte, nicht an seiner Unfähigkeit, sondern an der Vortrefflichkeit des bereits Bestehenden gescheitert ist. Sachsen trägt alle Herrlichkeit der Vorzeit verjüngt in seinem Schoße; man studiert es lange nicht genug, dieses Eldorado der alten Juristerei und Theologie, dieses heilige römische Reich en miniature, dessen verschiedene Kreisdirektionen und Amtshauptmannschaften sich bald unabhängig von einander erklären werden und dessen Universität Leipzig längst unabhängig war von dem eitlen Lauf der geistigen Bildung in dem wüsten, weiten Deutschland, geschweige denn in Europa. Aber ich sage ja nicht, dass die sächsische Nation keine Fortschritte macht. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Die Juden sind schlechte Christen, sie nehmen daher keinen Teil an den Freiheiten des übrigen sächsischen Volkes, sie haben keine Ehrenrechte und dürfen dies und das nicht tun, was getaufte Menschen dürfen. Nun war vor diesem die Brühlsche Terrasse der Brühlsche Garten.

Er hatte bei der Brücke, wo jetzt die Treppe ist, eine schroffe Mauerwand, und war von der andern Seite geschlossen. Eine Schildwache ließ an vielen Tagen Niemanden hinein, an allen aber keine Juden und keine Hunde. Eines Tages kam eine Generalsfrau mit einem Hunde auf dem Arm und wurde von der Schildwache wegen des Hundes zurückgewiesen. Entrüstet beschwerte sich die Frau bei ihrem Manne, dem General, und es erschien ein Parolebefehl, welcher die Instruktion der Schildwachen gegen die Hunde aufhob. Die Hunde gingen nun von Zeit zu Zeit in den Brühlschen Garten; aber die Juden? – nein, die Juden noch nicht. Nun beschwerten sich die Juden und verlangten den Hunden gleichgestellt zu sein. Der General war in der größten Verlegenheit. Sollte er seinen Befehl zurückziehen, dessen revolutionäre Konsequenz er nicht geahndet hatte? Seine Frau bestand auf dem Rechte ihres Hundes und auch der Hunde ihrer Freundinnen. Die Sache war schon zur Sitte geworden und die Juden, das sah der General vor Augen, würden furchtbar schreien, wenn man ihnen das Privilegium der Hunde, welches sie doch im ganzen Mittelalter genossen, jetzt im 19ten Jahrhundert nicht zugestände. Der General entschloss sich also, auf seine Verantwortung auch die Juden in den Brühlschen Garten zu lassen, wenn er nicht wegen Anwesenheit des Hofes geschlossen war. Die Indignation war groß, aber der alte Krieger bot ihr Trotz. Nun kamen die Russen. Der Generalgouverneur Repnin fand 1813 gar keinen Hof vor. Er dachte auch wohl, es käme vielleicht keiner wieder, und machte aus dem Brühlschen Garten die Brühlsche Terrasse mit der großen Treppe und dem freien Zugange, den sie jetzt hat. Dies empörte das Herz aller Normalsachsen; und wären die Russen nicht so viel populärer gewesen, als die Preußen, es wäre eine Empörung ausgebrochen. So aber ließ das Volk sich hinreißen, ja es schoß sogar die herrschaftlichen Fasanen im großen Garten tot und ließ sich's gefallen, dass die Russen auch diesen Spaziergang, der früher den Fasanen reserviert war, den Menschen eröffneten. Einer aber, der normalste von allen Sachsen, ein kurfürstlicher Geheimer Rat, der noch lebt, hat den Russen ihre unpassende, alles zerstörende Neuerungssucht nie vergessen. Er erkennt weder die Brühlsche Terrasse noch den großen Garten an. Er geht nie „die russische Treppe” hinauf oder hinab, er kommt immer durch das legitime Pförtchen des ehemaligen „Brühlschen Gartens”, bringt nie einen Hund oder einen Juden mit und geht in der „Fasanerie” nie anders als auf dem Mittelwege, der auch in der alten guten Zeit dem Publikum zu Fuß, außer der Brutzeit der Fasanen, offen stand.

Gewiss ist der konservative Christ vernünftig, und wären alle Deutsche Normalsachsen Oder gäb’ es keine Russen, die von Zeit zu Zeit kommen, um ihnen ihre Spaziergänge zu eröffnen oder gab’ es keine Franzosen, die ihnen bei Jena die Zöpfe abschnitten, oder endlich gäb’ es keine Preußen und keine Neuerungssucht in den Köpfen ihrer christlichen und heidnischen Könige; – man lebte nirgends ruhiger als in Dresden. So aber sind für unser sächsisches Vaterland bei aller Herrlichkeit von Innen immer noch große Erschütterungen von Außen zu fürchten. –

Die Welt ist vollkommen überall,

Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.

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