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Arnold Ruge 18430300 Brief an Karl Marx

Arnold Ruge: Brief an Karl Marx

[erschienen in: Ein Briefwechsel von 1843 Briefe von Karl Marx, Arnold Ruge, Michail Alexandrowitsch Bakunin und Ludwig Feuerbach Zusammengestellt und redigiert von Arnold Ruge. Deutsch-Französische Jahrbücher. Lfg.1/2. 1844, S. 18-22, Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Erste Abteilung. Werke – Artikel - Entwürfe, Band 2. Berlin 1982, S. 472-474]

Berlin, im März 1843.

Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen. – Ist das nicht ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt unter einander liegen, indes das vergossene Lebensblut im Sande zerrinnt?" Hölderlin im Hyperion. – Dies das Motto meiner Stimmung und leider ist sie nicht neu; derselbe Gegenstand wirkt von Zeit zu Zeit ähnlich auf die Menschen. Ihr Brief ist eine Illusion. Ihr Mut entmutigt mich nur noch mehr.

Wir werden eine politische Revolution erleben? Wir, die Zeitgenossen dieser Deutschen? Mein Freund, Sie glauben was Sie wünschen. O, ich kenne das! Es ist sehr süß zu hoffen und sehr bitter, alle Täuschungen abzutun. Es gehört mehr Mut zur Verzweiflung, als zur Hoffnung. Aber es ist der Mut der Vernunft, und wir sind auf dem Punkte angekommen, wo wir uns nicht mehr täuschen dürfen. Was erleben wir in diesem Augenblick? Eine zweite Auflage der Karlsbader Beschlüsse, eine durch das Weglassen der versprochenen Pressefreiheit vermehrte und durch das Versprechen der Zensur verbesserte, – ein zweites Misslingen der politischen Freiheitsversuche, und diesmal ohne Leipzig und Bellealliance, ohne Anstrengungen, von denen auszuruhen wir Ursache hätten. Jetzt ruhen wir aus vom Ausruhen; und zur Ruhe bringt uns die einfache Wiederholung der alten despotischen Maxime, das Abschreiben ihrer Urkunden. Wir fallen aus einer Schmach in die andere. Ich habe vollkommen dasselbe Gefühl des Drucks und der Entwürdigung, wie zur Zeit der Napoleonischen Eroberung, wenn Russland der deutschen Presse eine strengere Zensur verordnet; und wenn Sie darin einen Trost finden, dass wir jetzt dieselbe Offenherzigkeit, wie damals genießen, so tröstet mich das durchaus nicht. Als Napoleon in Erfurt zu den deutschen Gratulanten, die ihn mit notre prince anredeten, sagte: je ne suis pas votre prince, je suis votre maitre; wurde er mit rauschendem Beifall aufgenommen. Und hätte ihm der russische Schnee nicht darauf geantwortet, die deutsche Entrüstung schliefe noch. Sagen Sie mir nicht, dieses unverschämte Wort sei blutig gerächt worden, reden Sie mir nicht ein, die zufällige Rache wäre notwendig erfolgt, alle Völker seien abgefallen von dem nackten und bloßen Despotismus, sobald er sich ganz enthüllt hätte. Ich will ein Volk sehen, das ohne alle andere Völker seine Schmach fühlt; ich nenne Revolution die Umkehr aller Herzen und die Erhebung aller Hände für die Ehre des freien Menschen, für den freien Staat, der keinem Herrn gehört, sondern das öffentliche Wesen selbst ist, das nur sich angehört. So weit bringen es die Deutschen nie. Sie sind längst historisch zu Grunde gegangen. Dass sie überall mit zu Felde gelegen, beweist nichts. Es wird den eroberten und beherrschten Völkern nicht erspart, sich zu schlagen, aber sie sind nur Gladiatoren, die sich für einen fremden Zweck schlagen und, wenn ihre Herren den Daumen niederdrücken, sich erwürgen. „Seht, wie das Volk sich für uns schlägt!"’ sagte 1813 der König von Preußen. Deutschland ist nicht der überlebende Erbe, sondern die anzutretende Erbschaft. Die Deutschen zählen nie nach kämpfenden Parteien, sondern nach der Seelenzahl, die dort zu verkaufen ist.

Sie sagen, die liberale Heuchelei ist entlarvt. Es ist wahr, es ist sogar noch mehr geschehen. Die Menschen fühlen sich verstimmt und beleidigt, man hört Freunde und Bekannte unter einander räsonnieren, überall redet man hier von dem Schicksal der Stuarts und wer sich fürchtet, unvorsichtige Worte zu sagen, der schüttelt wenigstens den Kopf, um anzuzeigen, dass eine gewisse Bewegung in ihm vorgeht. Aber alles redet und redet nur: ist auch nur Einer da, der seinem Unwillen zutraute, dass er allgemein sei? Ist ein Einziger so töricht, unsere Spießbürger und ihre unvergängliche Schafsgeduld zu verkennen? – Fünfzig Jahre nach der französischen Revolution und die Erneuerung aller Unverschämtheiten des alten Despotismus, das haben wir erlebt. Sagen Sie nicht, das neunzehnte Jahrhundert erträgt ihn nicht. Die Deutschen haben dies Problem gelöst. Sie ertragen ihn nicht nur, sie ertragen ihn mit Patriotismus, und wir, die wir darüber erröten, grade wir wissen, dass sie ihn verdienen. Wer hätte nicht gedacht, dieser schneidende Rückfall vom Reden ins Schweigen, vom Hoffen in die Hoffnungslosigkeit, von einem menschenähnlichen in einen völlig sklavischen Zustand würde alle Lebensgeister aufregen, jedem das Blut zum Herzen treiben und einen allgemeinen Schrei der Entrüstung hervorrufen! Der Deutsche hatte nichts, als die Geisterfreiheit, die der Mensch, der einem andern leibeigen ist, immer noch haben kann, und auch diese ist ihm nun entrissen; die deutschen Philosophen waren schon früher Diener der Menschen, sie redeten und schwiegen auf Befehl, Kant hat uns die Dokumente mitgeteilt; aber man duldete die Kühnheit, dass sie in abstracto den Menschen für frei erklärten. Jetzt ist auch diese Freiheit, die sogenannte wissenschaftliche oder die prinzipielle, die sich bescheidet, nicht realisiert zu werden, aufgehoben und es haben sich natürlich Leute genug gefunden, die Tassos Glauben predigen:

Glaubt nicht, dass mir

Der Freiheit wilder Trieb den Busen blähe.

Der Mensch ist nicht geboren frei zu sein.

Und für den Edlen ist kein schöner Glück,

Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen.

Wollten wir einwenden: und wenn er ihn nicht ehrt? so wiederholen sie: frei zu sein, ist er nicht geboren. Es handelt sich um seinen Begriff, nicht um sein Glück. Ja, Tasso hat recht, ein Mensch der einem Menschen dient, und den man einen Sklaven nennt, kann sich glücklich fühlen, er kann sich sogar adelig fühlen, die Geschichte und die Türkei beweisen es. Zugegeben also, dass nicht Mensch und freies Wesen, sondern Mensch und Diener ein Begriff ist, so ist die alte Welt gerechtfertigt.

Gegen das Faktum, dass die Menschen zum Dienen geboren und ein Besitztum ihrer angeborenen Herren seien, hatten die Deutschen 25 Jahre nach der Revolution nichts einzuwenden. Im deutschen Bunde sind die deutschen Fürsten zusammengetreten, um ihren Privatbesitz von Land und Leuten wieder herzustellen und die „Menschenrechte" wieder abzuschaffen. Das war antifranzösisch, man jauchzte ihnen zu. Nun kommt die Theorie dieses Faktums hinterher und warum sollte Deutschland sie nicht ohne Unwillen anhören! Warum sich nicht über sein Schicksal mit dem Gedanken trösten, es muss so sein, der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein?

Und so ist es, dies Geschlecht ist wirklich nicht geboren frei zu sein. Dreißig Jahre, politisch verödet und unter einem so entwürdigenden Druck, dass selbst die Gedanken und die Gefühle der Menschen von der geheimen Polizei der Zensur beaufsichtigt und geregelt wurden, haben Deutschland politisch nichtiger hinterlassen, als es je gewesen. Sie sagen, das Narrenschiff, welches ein Spiel von Wind und Wellen ist, wird seinem Schicksal nicht entgehen und dieses Schicksal ist die Revolution. Aber Sie setzen nicht hinzu, diese Revolution ist die Genesung der Narren, im Gegenteil, ihr Bild führt nur auf den Gedanken des Unterganges. Aber ich gebe Ihnen auch den Untergang nicht zu, der noch erst zu erwarten wäre. Physisch geht dies brauchbare Volk nicht unter, und geistig oder mit seiner Existenz als freies Volk ist es längst am Ende.

Wenn ich Deutschland nach seiner bisherigen und nach seiner gegenwärtigen Geschichte beurteile; so werden Sie mir nicht einwerfen seine ganze Geschichte sei verfälscht und seine ganze jetzige Öffentlichkeit stelle nicht den eigentlichen Zustand des Volkes dar. Lesen Sie die Zeitungen, welche Sie wollen, überzeugen Sie sich, dass man nicht aufhört – und Sie werden zugeben, dass die Zensur niemanden hindert aufzuhören, – die Freiheit und das Nationalglück zu loben, welches wir besitzen; und dann sagen Sie einem Engländer, einem Franzosen oder auch nur einem Holländer, dass dies nicht unsre Sache und unser Charakter wäre.

Der deutsche Geist, so weit er zum Vorschein kommt, ist niederträchtig, und ich trage kein Bedenken zu behaupten, wenn er nicht anders zum Vorschein kommt, so ist dies lediglich die Schuld seiner niederträchtigen Natur. Oder wollen Sie seine Privatexistenz, seine stillen Verdienste, seine ungedruckten Tischgespräche, seine Faust in der Tasche so hoch anschlagen, dass ihm die Schmach seiner gegenwärtigen Erscheinung durch die Ehre seiner Zukunft noch einmal abgewaschen werden könnte? O, diese deutsche Zukunft! Wo ist ihr Same gesät? Etwa in der schmachvollen Geschichte, die wir bisher durchlebt? Oder in der Verzweiflung derer, die von Freiheit und geschichtlichen Ehren einen Begriff haben? Oder gar in dem Hohn, den fremde Völker über uns ausschütten und grade dann aufs empfindlichste uns zu fühlen geben, wenn sie es am besten mit uns meinen? Denn den Grad politischer Fühllosigkeit und Verkommenheit, zu dem wir wirklich herabgesunken sind, können jene sich gar nicht vorstellen. Lesen Sie nur die Times über die Unterdrückung der Presse in Preußen. Lesen Sie, wie freie Männer reden, lesen Sie, wie viel Selbstgefühl sie uns noch Zutrauen, uns, die wir gar keins besitzen, und bedauern Sie Preußen, bedauern Sie Deutschland. Ich weiß, dass ich dazu gehöre; glauben Sie nicht, dass ich mich der allgemeinen Schmach entziehen will. Werfen Sie mir vor, dass ich es nicht besser mache, als die andern, fordern Sie mich auf, mit dem neuen Prinzip eine neue Zeit heraufzuführen und ein Schriftsteller zu sein, dem ein freies Jahrhundert folgt, sagen Sie mir jede Bitterkeit, ich bin darauf gefaßt. Unser Volk hat keine Zukunft, was liegt an unserm Ruf?

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