Arnold Ruge: Brief an Karl Marx in Kreuznach Paris, 11. August 1843 [Nach Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA). Dritte Abteilung. Briefwechsel, Band 1. Berlin 1975, S. 409 f.] Paris den 11ten August 43. Lieber Freund, Fröbel wird Ihnen geschrieben haben, wie es uns in Köln ergangen ist. Seitdem hab' ich nun Brüssel gesehen und nun auch seit dem 9ten Paris. So kurz die Visite in beiden Orten ist, so sah' ich doch im Allgemeinen viel mehr, als ich vorher wissen konnte. Brüssel ist vielmehr vom deutschen Leben abgesperrt als Paris. Hier sind alle Zeitungen und alle Bücher ungerechnet die 85.000 Menschen aus unsrer liebenswürdigen Heimat, in Brüssel dagegen fehlt es an allen Ecken. Die deutschen Gelehrten dort sind zu arm, um sich Alles zu verschaffen und das deutsche Publikum nicht groß genug, um dort eine deutsche Buchhandlung wie hier zu beschäftigen. Dagegen ist Brüssel viel freier in Hinsicht der Presse. Die Septembergesetze, die Kautionen und alles dergleichen, was hier jetzt furchtbar drückt fehlen in Brüssel. Die sekundäre Brüsseler Presse ist formell ganz frei; aber die Bildung ist dort so zurück, dass ganz Belgien kein einziges liberales, geschweige denn demokratisches Blatt hat. Es würde, sagte man mir, keine Leser finden. Die Deutschen wünschten sich dort sehr eine Sortimentbuchhandlung, der Verlag deutscher Bücher in Brüssel dagegen scheint große Schwierigkeiten zu haben, obgleich durch die Ostender Eisenbahn der Seeweg sehr nahe liegt. Die Universitätsprofessoren sind zum Teil Demokraten. Nun geht eben der Krausianer Ahrens fort. Man hat ihn nach Leyden berufen. Dies wollten die demokratischen Juristen und Mediziner benutzen, um einen neuen Sauerteig in die Geschichte zu bringen. Sie hatten daher den Plan gehabt, Ahrens gleich zur Annahme in Leyden zu bewegen und mir dann diese Professur, die 4–5000 Francs trägt, anzubieten. Aber Ahrens will bis Ostern bleiben und einen Krausianer (den Leonhardi in Heidelberg) an seine Stelle bringen. Gegen mich hat er sich mit „Entsetzen" ausgesprochen. Er hat die freiere Partei förmlich verraten, und diese war für den Augenblick bei dem Direktorium völlig diskreditiert. (Das Direktorium sind die ersten Subskribenten, durch deren Beiträge die „freie Brüsseler Universität" gegründet ist.) Die freien Demokraten heißen Maynz, Ahrens (ein anderer Ahrens, nicht der Philosoph), Altmeyer, Breyer. Die 3 ersten sind Juristen, der letztere Mediziner. Sie können denken, dass diese sehr erfreut waren, mir mündlich Ihre Absichten, Niederlagen und Hoffnungen mitzuteilen; und ich meinerseits habe das Alles mit großem Interesse angehört und ihnen so viel ich vermochte über uns Deutsche und den Verlauf der geistigen Bewegung der letzten Zeit, den sie nur unvollkommen verstanden, Aufschluss gegeben. Zuletzt riet ich ihnen, wenn sie durchdringen sollten, nicht mich, sondern Feuerbach in Vorschlag zu bringen und gab ihnen die nötigen Notizen über ihn. Ich werde Feuerbach noch heute darüber schreiben. Hier in Paris nun habe ich mich sehr bald von der völligen Unmöglichkeit überzeugt, dass ich und Sie als reine Geschäftsleute sollten behandelt und konzessioniert werden; darüber und ebenso über die unübersteiglichen Schwierigkeiten auch für einen dritten Fremden sind hier alle Politiker und Geschäftsleute, die ich gesprochen habe, vollkommen einverstanden. Das tut aber nichts: wenn wir nur Geld haben, so wird es uns sehr leicht werden, vornehmlich „Bücher", so viel wie wir wollen, zu drucken. Im Ganzen ist meine bisherige Erfahrung eine erfreuliche und bleibt sie in dieser Richtung, so behalten wir mutatis mutandis mit unserer ursprünglichen Ansicht der Sache Recht. Die Elliot denk' ich heute zu besuchen, Leroux ist hier, Proudhon in Besançon. Proudhon hat ein neues dickes Buch ein förmliches System ediert: Création de l'ordre dans l'humanité, ou Prinzipes d'organisation politique. Das Systematische und Kategorische ist sehr schwach: dagegen ist er sogar gegen die Religion radikal. Er beginnt mit ihrer Negation, und die bisherige Philosophie nennt er Sophistik, der er die Science entgegensetzt. Ich bin noch nicht weit gekommen mit Lesen: sehe aber wohl, dass seine Praxis besser ist, als seine Logik und sein Aberglaube an eine absolute Systematik. Hess ist mit mir zurückgereist und wohnt über mir in dem Hôtel de la Gironde rue quinze vingt Rivoli. Hess ist etwas schwerfällig und ohne Formsinn: sonst hat er praktischen Verstand. Ein großer Autor wird er schwerlich werden: doch muss man es ja wünschen, denn il faut faire peur. Lesen Sie die Beilage, die, etwas von Hess korrumpiert und dadurch allerdings verbessert, in der Kölnischen Zeitung von ihm abgedruckt war. Das Bluntschlische Buch hat Ihnen Froebel wohl geschickt. Hier habe ich den alten Cabet gesehen, einen schlauen und sehr verständigen Advokaten, einen Menschen, der sich keine Illusionen macht und über alles Mögliche mit vielem Takt urteilt. Er hörte eifrig meine Mitteilungen über Deutschland und unsere papierne Entwicklung, er sprach die einfachen Gedanken des Humanismus in allen Sphären, des jetzt erst entdeckten Humanismus mit der entschiedensten Übereinstimmung aus; was der Deutsche mühselig erwirbt, dem Franzosen kommt es über Nacht. Der Mann hat mich sehr interessiert und auch er seinerseits ertrug mich und mein schlechtes Französisch mit großer Ausdauer. Politiker von Profession hab' ich noch nicht gesehen. Die Bastillen werden eifrig betrieben; doch scheint mir das eine große Dummheit zu sein, um so mehr, als niemand daran glaubt, dass die ganze kolossale Arbeit wirklich fertig werden wird. Das Gewühle in dem Kalk- und Lehmboden vor dem Tor, wo wir einpassierten, macht einen widerwärtigen Eindruck. Grüßen Sie Ihre Frau freundlich von mir. Nächstens schreib' ich mehr. Übrigens scheint es hier nicht teurer zu leben zu sein, als in Brüssel. Ein Bremer Kaufmann hat sich hier ein Haus und Garten für 16.000 Francs in der Vorstadt gekauft und das Haus sagte er mir enthielte 14 Zimmer. In Brüssel kostet eine Wohnung jährlich 1000 Frs. Miete. Leben Sie wohl! Ihr Arnold Ruge. |