Im „Politischen Bericht des ZK der KPR(B)“ an den XI. Parteitag zieht Lenin das Fazit des ersten Jahres der neuen ökonomischen Politik, weist auf die Lehren hin, die sich hieraus ergeben, und gibt eine ganze Reihe höchst wichtiger Richtlinien, die den „Kern der neuen ökonomischen Politik“ und ihre weiteren Aufgaben bestimmen. Die internationale Lage der Sowjetrepublik halte sich zu jenem Zeitpunkt bedeutend gebessert. Der Versuch der Entente, die Sowjetmacht durch Intervention und Blockade zu vernichten, war gescheitert. Die ökonomische Lage in den Ententeländern, insbesondere in England, Italien und Belgien, verschlechterte sich unter den Schlägen der schweren Nachkriegskrise, die die ganze kapitalistische Welt erfasst hatte, zusehends. Die Industriebourgeoisie dieser Länder war stark auf einen Handel mit Russland angewiesen. Am 16. März 1922 unterzeichnete England ein Handelsabkommen mit Sowjetrussland, was nach dem Ausspruch des englischen Ministerpräsidenten Lloyd George die Anerkennung der Sowjetregierung de facto bedeutete. Am 6. Mai wurde ein Handelsabkommen mit Deutschland getroffen, am 6. August ein Handelsvertrag mit Norwegen, am 12. August ein Vertrag mit Italien unterzeichnet. Diesen Handelsverträgen gingen eine Reihe von Friedensverträgen mit Estland, Litauen, Polen, der Türkei, Afghanistan usw. voraus. Der Weltkapitalismus war genötigt, den militärischen Kampf gegen die Sowjets für eine gewisse Zeit einzustellen und sich zum Abschluss von Friedensverträgen zu bequemen. Für eine Zeitlang war somit ein labiles Gleichgewicht hergestellt, und die Sowjetrepublik erhielt eine mehr oder minder anhaltende Atempause. Viel schwierigere und wichtigere Aufgaben waren auf dem Gebiet der inneren Politik zu lösen. Die ökonomische Lage des Landes war äußerst schwer (insbesondere in Verbindung mit der starken Missernte des Jahres 1921), obgleich sich der Beginn eines wirtschaftlichen Aufschwungs mit aller Bestimmtheit bemerkbar machte. In der Landwirtschaft machte sich dieser Aufschwung vor allem in der Zunahme der Saatfläche in allen jenen Bezirken geltend, die nicht unter der Missernte gelitten hatten. So betrug die Saatfläche in den zentralen landwirtschaftlichen und Industriegouvemements im Jahre 1920 9.927.000 Desjatinen, im Jahre 1921 9,613.000 Desjatinen und im Jahre 1922 10.761.000 Desjatinen. Auch die Produktion der Industrie zeigte eine beginnende Aufwärtsbewegung. Die Gesamtproduktion der Zensusindustrie betrug in Vorkriegsrubeln: 1920 818.000.000 Rubel, 1921 1.168.000.000 Rubel, 1922 1.524.000.000 Rubel. Ferner begann auch die Arbeitsproduktivität zu steigen: der Wert der Bruttoproduktion pro Arbeiter betrug 1920 669 Vorkriegsrubel, im Jahre 1921 dagegen schon 985 Vorkriegsrubel. Neu war auch, dass in der Industrie der privatkapitalistische Pächter auftauchte (so lieferte z. B. die verpachtete Kleinindustrie im Donezbecken in den Jahren 1921–1922 30–35 Millionen Pud Kohle, was unter den damaligen Verhältnissen eine bemerkenswerte Menge war). Es wurden 17 gemischte Gesellschaften unter Beteiligung von ausländischem Kapital ins Leben gerufen. Die Grundlagen der neuen ökonomischen Politik, die Wege der Umstellung der Arbeit der sowjetischen Wirtschaftsorganisationen zeichneten sich klar und deutlich genug ab und bestanden ihre erste Prüfung durch die Praxis. Die neue ökonomische Politik brachte offensichtlich einen Aufschwung der Produktivkräfte mit sich. Das gab Lenin die Möglichkeit, auf dem XI. Parteitag mit aller Entschiedenheit zu erklären, dass der Rückzug beendigt sei. Der XI. Parteitag legte dies in seinen Beschlüssen folgendermaßen fest: „Der Parteitag stellt fest, dass durch die Gesamtsumme der im letzten Jahr durchgeführten bzw. festgelegten Maßnahmen die von der Partei als notwendig anerkannten Zugeständnisse an den privatwirtschaftlichen Kapitalismus erschöpft sind, er erklärt in diesem Sinne den Rückzug für beendigt und hält die Umgruppierung der Parteikräfte zwecks völliger Sicherung der praktischen Durchführung der von der Partei beschlossenen Politik für die nächste Aufgabe.“ Im engsten Zusammenhang mit der Einstellung des Rückzuges kehrt Lenin in seinem Bericht an den XI. Parteitag wiederum zur Frage des „Kerns“ der neuen ökonomischen Politik zurück und legt ihre nächsten Aufgaben fest. Er betont mit besonderem Nachdruck, dass der Kern der neuen ökonomischen Politik in dem Bündnis der sozialistischen Ökonomie mit der bäuerlichen Ökonomie zwecks gemeinsamer Vorwärtsbewegung des Proletariats und der bäuerlichen Massen unter der Führung der Arbeiterklasse zum Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus und damit zur Entscheidung der zu suchen ist. Diese Frage „Wer – wen?“ wurde in Lenins Bericht unzertrennlich mit der Frage des Kerns der neuen ökonomischen Politik verknüpft und bildete die zentrale Frage. Lenin, der das von ihm in dieser Frage auf dem II. Kongress der Abteilungen für politische Aufklärung Gesagte weiterentwickelte, beleuchtete von diesem Standpunkt, d. h. vom Standpunkt des Klassenkampfes aus, sämtliche Fragen der Wirtschaftspolitik, darunter auch die Frage des Staatskapitalismus im proletarischen Staat, die Frage des „In-die-Lehre-Gehens“ bei den Kapitalisten, des „Wettbewerbs“ mit ihnen, ferner die Frage des Handels, der Umgruppierung der Kräfte, der Auslese der Menschen usw. In all dem sah Lenin Mittel und Methoden des Klassenkampfes, den das Proletariat für den Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus führt. Die neue ökonomische Politik ist somit keineswegs ein friedliches Nebeneinanderleben der Klassen, ist keineswegs eine Zeit, wo „die organische Periode des Hineinwachsens“ beginnt, wo die „Weiterentwicklung zum Sozialismus auf evolutionärem Wege vor sich geht“ (N. Bucharin). Der erbitterte Kampf auf Leben und Tod, der sich zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen Sozialismus und Kapitalismus abspielt, ist es, was den Inhalt der Klassenbeziehungen unter der neuen ökonomischen Politik bildet. In der damaligen Situation stand die Frage „Wer – wen?“ mit besonderer Schärfe auf dem Gebiet des Handels. Der Staat und die Genossenschaften hatten damals noch nicht gelernt, Handel zu treiben, und nahmen häufig zu den Diensten des Privatkapitals Zuflucht, das daher auf dem Markt eine große Rolle spielte und sich als Vermittler selbst zwischen staatlichen Wirtschaftsorganen betätigte. So verkaufte z. B. der Mostorg (Moskauer Handelsorganisation) im Frühjahr 1922 im Großhandel ein Drittel, ja sogar die Hälfte seiner Stoffbestände an Privatpersonen, auch die Textiltrusts verkauften in der Zeit von März bis Juli 1922 rund 50 Prozent der Webwaren an Privathändler. Die Handelsgeschäfte der staatlichen Großindustrie waren damals mit großen Verlusten verbunden. Angesichts des Mangels an Betriebskapital sowie des Fehlens eines ausreichgnden Netzes des genossenschaftlichen und staatlichen Handels war die staatliche Industrie häufig gezwungen, ihre Produktion zu Preisen zu verkaufen, die unter den Gestehungskosten lagen. So wurde z. B. ein Meter Kattun bei einem Selbstkostenpreis von 198.000 Papierrubeln am 25. März 1922 zu 150.000 Papierrubeln verkauft. Ein Pud Zucker wurde bei einem Selbstkostenpreis, der sich im November 1921 auf ungefähr 10 Pud Roggen belief, in der Zeit vom Januar bis September 1922 für eine Summe verkauft, die dem Wert von 7 Pud Roggen entsprach. Daher die besonders große Bedeutung des Marktes und des Handels in jener Situation, daher die Losung „Lernt Handel treiben“, die von Lenin noch Ende Herbst 1921 aufgestellt wurde und bei ihm unzertrennlich mit der Losung der wirtschaftlichen Kalkulation verknüpft ist. Im engen Zusammenhang mit dieser Aufgabe, um jeden Preis den Handel zu erlernen und die Kapitalisten auf wirtschaftlichem Gebiet zu schlagen, steht die von Lenin mit aller Schärfe aufgestellte, überaus wichtige Aufgabe der Auslese der Menschen und der Kontrolle der tatsächlichen Durchführung. Daneben stellt Lenin die Frage des Kulturniveaus der auszuwählenden Kader. Dem Problem des „Kulturniveaus“ misst Lenin in seinem Bericht auf dem XI. Parteitag außerordentliche Bedeutung bei. Er sieht darin eines der wichtigsten Glieder in der Kette, die von der Partei erfasst werden muss. „Die Hauptsache, die uns fehlt“ – schrieb Lenin vor dem XI. Parteitag an Genossen Molotow –, „ist die Kultur, die Fähigkeit des Verwaltens … Ökonomisch und politisch sichert uns die neue ökonomische Politik vollauf die Möglichkeit, das Fundament der sozialistischen Ökonomie zu errichten. Es handelt sich ,bloß' um die kulturellen Kräfte des Proletariats und seiner Vorhut“ (siehe Sämtliche Werke, Bd. XXVII). Diesen Gedanken entwickelt Lenin auf dem XI. Parteitag weiter. Verwalten lernen, die Sache beherrschen, die einem anvertraut wurde, und dabei mitunter vom Kapitalisten lernen, fähig sein, die Kapitalisten im Rahmen der staatlichen Regulierung zu halten und sie zu zwingen, für den sozialistischen Aufbau zu arbeiten – das sind die Forderungen, die Lenin an die Parteikader stellt, wobei er alle Äußerungen des „kommunistischen Eigendünkels“ erbarmungslos geißelt. [...] Lenin [weist] in seinem Bericht darauf hin, dass die politische Macht und die ökonomische Kraft in den Händen des proletarischen Staates für „den Übergang zum Kommunismus vollkommen ausreichend sind“. Doch führt der Weg zum Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus über eine außerordentliche Verschärfung des Klassenkampfes in der Periode der Diktatur des Proletariats. Lenin sagt offen, dass in den Sowjetrepubliken „der letzte entscheidende Kampf“ gegen diesen Kapitalismus im Innern des Landes bevorsteht, gegen den Kapitalismus, „der aus der kleinbäuerlichen Wirtschaft emporwächst“ und „von ihr genährt wird“. In dieser Erklärung Lenins wurde bereits damals die rechtsopportunistische Theorie vom Erlöschen des Klassenkampfes auf dem Wege der proletarischen Diktatur zum Sozialismus verurteilt. Die Partei, die im schonungslosen Kampf gegen den rechten und den „linken“ Opportunismus fest und entschieden die wahrhaft leninistische Politik verfolgte, führte das Land der Sowjets nach einem Jahrzehnt neuer ökonomischer Politik (1921–1931) an die letzte Etappe dieser Politik, an die Periode des Sozialismus heran. Die Arbeiterklasse hat unter der Führung der Leninschen Partei weltgeschichtliche Siege im Kampf gegen den Kapitalismus im Innern des Landes errungen. Das Proletariat der Sowjetunion erfüllte den ersten Frünfjahrplan in vier Jahren, erreichte entscheidende Erfolge bei der Industrialisierung des Landes und der sozialistischen Rekonstruktion der Landwirtschaft. Dadurch untergrub es die tiefsten Wurzeln des Kapitalismus und zertrümmerte die kapitalistischen Elemente. Nach der Vollendung des Fundaments der sozialistischen Ökonomie im ersten Planjahrfünft entfaltete die Arbeiterklasse der Sowjetunion in hartnäckigem Kampf gegen die Überreste des Klassenfeindes den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 9, Anm. 94] |
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