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Wirtschaftsdebatte auf dem IX. Parteitag

Die Rede über den Wirtschaftsaufbau auf dem IX. Parteitag der KPR(B) wurde von Lenin während der Diskussion über das Referat Trotzkis und über die Korreferate Ossinskis und Rykows „Über die nächsten Aufgaben des Wirtschaftsaufbaus“ gehalten. In der Anm. 27 zum vorliegenden Band wurde bereits im Zusammenhang mit dem Leninschen „Bericht des ZK" auf dem gleichen Parteitag darauf hingewiesen, in welcher Situation dieser Parteitag zusammentrat, warum damals die Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus im Mittelpunkt standen, warum und wie die Eigentümlichkeiten der Politik des Kriegskommunismus in den Beschlüssen des Parteitages zum Ausdruck kamen. Dort wurde auch betont, dass den vom IX. Parteitag vorgezeichneten wirtschaftlichen Maßnahmen die Verwirklichung des vom Parteitag angenommenen allgemeinen Wirtschaftsplans zugrunde liegen musste.

Betrachtet man den Plan an sich, so geht er bereits weit über den Rahmen der Politik des Kriegskommunismus hinaus. Diesem Plan ist ein besonderer (und zwar der zweite) Abschnitt der Resolution des IX. Parteitages „Über die nächsten Aufgaben des Wirtschaftsaufbaus“ gewidmet, der mit folgenden allgemeinen Grundsätzen eingeleitet wird: „Die grundlegende Voraussetzung für die wirtschaftliche Wiedergeburt des Landes ist die beharrliche Durchführung eines für den nächsten Zeitabschnitt berechneten einheitlichen Wirtschaftsplans“. „Von diesem grundlegenden, für die nächste Zeit berechneten Wirtschaftsplan – heißt es in dem erwähnten Abschnitt der Resolution weiter – müssen alle zentralen Wirtschaftsstellen der Sowjetrepublik bei ihren Plänen und Berechnungen ausgehen.“

Der Plan selbst bestand aus zwei Teilen. Im ersten Teil, den das ZK – wie Lenin am Schluss des Tätigkeitsberichts des ZK auf dem IX. Parteitag erwähnt – „vollständig den Thesen des Genossen Gussew entnommen hat“, wurden „eine Reihe von konsequenten, einander bedingenden Hauptaufgaben vorgesehen“, und zwar: „a) in erster Linie – Hebung des Transportwesens, Zufuhr und Vorratbildung von Getreide, Brennstoffen und Rohstoffen; b) Bau von Maschinen für das Transportwesen, für die Gewinnung von Brennstoffen, Rohstoffen und Getreide; c) verstärkter Bau von Maschinen zur Herstellung von Massenbedarfsartikeln; d) Steigerung der Produktion von Massenbedarfsartikeln“.

Der zweite Teil des Plans stellte „an die Spitze der technischen Seite der Aufgabe“ die „großzügige Ausnutzung der elektrischen Kraft“ und zeichnete eine „ungefähre“ Reihenfolge der Entwicklung der Elektrifizierung des Landes vor:

1. Ausarbeitung eines Plans für die Elektrifizierung der Volkswirtschaft und Durchführung eines Minimalprogramms der Elektrifizierung (Festsetzung der wichtigsten Punkte, die mit elektrischer Energie versorgt werden müssen, und Ausnutzung der bestehenden Kraftwerke sowie eines Teils der bereits in Bau begriffenen Bezirkszentralen für diesen Zweck).

2. Bau der wichtigsten Bezirkskraftwerke der ersten Baufolge und der wichtigsten Stromleitungen sowie Erweiterung der Tätigkeit der elektrotechnischen Betriebe.

3. Errichtung von Bezirkskraftwerken der nächsten Baufolge, Erweiterung des Stromnetzes und Elektrifizierung der wichtigsten Produktionsprozesse.

4. Elektrifizierung der Industrie, des Transportwesens und der Landwirtschaft.

Das Leben änderte diesen Plan der „wirtschaftlichen Wiedergeburt des Landes“. Diese wirtschaftliche Wiedergeburt wurde auf der Grundlage der im Jahre 1921 angenommenen Neuen Ökonomische Politik durchgeführt. Dessen ungeachtet hat der vom IX. Parteitag angenommene Wirtschaftsplan eine gewaltige Rolle gespielt, da er der erste Versuch einer Planung des wirtschaftlichen Aufbaus war und den ersten schematischen Entwurf jenes „einheitlichen Wirtschaftsplans“ – des Plans zur Elektrifizierung des Landes – enthielt, der von der Staatlichen Kommission zur Elektrifizierung Russlands ausgearbeitet wurde und dem Lenin eine so ungeheure Bedeutung beimaß (siehe seinen „Bericht über die Tätigkeit des Rates der Volkskommissare auf dem VIII. Sowjetkongress“ und seinen Artikel „Über den einheitlichen Wirtschaftsplan“).

Gleichzeitig mit dem Plan der „wirtschaftlichen Wiedergeburt des Landes“ gingen auch einige außerordentlich wichtige Züge der vom IX. Parteitag mit der Erfüllung dieses Planes verknüpften Maßnahmen weit über den Rahmen des Kriegskommunismus hinaus. Ein besonderer Abschnitt (Abschnitt 5) der Resolution „Über die nächsten Aufgaben des Wirtschaftsaufbaus“ ist dem sozialistischen Wettbewerb gewidmet. Der Parteitag weist darauf hin, dass „der Wettbewerb zwischen Betrieben, Bezirken, Abteilungen, Werkstätten und einzelnen Arbeitern von den Gewerkschaften und den Wirtschaftsorganen sorgfältig organisiert und aufs Ernsteste studiert werden muss“. Momente, die über den Rahmen der Politik des Kriegskommunismus hinausgingen und später unter der NÖP weiterentwickelt wurden, sind auch im Beschluss des IX. Parteitages über den „sozialistischen Zentralismus“ bei der Organisierung von Industrie und Verwaltung (Abschnitte VI-–IX der Resolution „Über die nächsten Aufgaben des Wirtschaftsaufbaus“) sowie im Beschluss über die Heranziehung der Massen zur Leitung der Industrie (Abschnitt X) und im Abschnitt XI, „Die Industrie-Fachleute“, enthalten. So heißt es speziell im Beschluss des Parteitages über „den sozialistischen Zentralismus“, dass die für die Periode des Kriegskommunismus kennzeichnenden Hauptausschüsse eine Übergangsform der Industrie sind und dass ihr Hauptmangel darin besteht, dass die „mächtigen vertikalen Vereinigungen (d. h. die Verbände, die einzelne Industriezweige von unten bis oben umfassten) wirtschaftlich voneinander isoliert sind und nur die Spitzen durch den Obersten Volkswirtschaftsrat zusammengefasst werden“. „Die organisatorische Aufgabe“ – sagt der Parteitag im Zusammenhang damit – „besteht heute darin, den vertikalen Zentralismus der Hauptausschüsse zu erhalten und auszubauen und ihn mit der horizontalen Koordinierung der Betriebe nach Wirtschaftsgebieten zu verbinden, in denen Betriebe verschiedener Industriezweige und verschiedener wirtschaftlicher Bedeutung auf die gleichen lokalen Rohstoffquellen, auf die gleichen Transportmittel, die gleichen Arbeitskräfte usw. angewiesen sind.“ Wenn die zweite Tagung der Volkswirtschaftsräte gegen Ende des Jahres 1918, in einer Situation, wo das Territorium der Sowjetrepublik außerordentlich eingeschrumpft war, sich zur Abschaffung der Gebietswirtschaftsorgane entschloss, so fasste der IX. Parteitag folgenden Beschluss: „Für die großen, abgelegenen, in wirtschaftlicher Beziehung eigenartigen Gebiete hält der Parteitag für die nächste Zeit die Schaffung starker und kompetenter Gebietswirtschaftsorgane durch Organisierung von Vertretungen der betreffenden zentralen Wirtschaftsstellen für eine unbedingte Notwendigkeit“.

In das Organisations- und Verwaltungssystem der Industrie, das auf dem IX. Parteitag angenommen wurde, wird als unerlässlicher Bestandteil die Notwendigkeit eingeschlossen, „die Verwaltung der Industrie dem Prinzip der Individualleitung anzunähern, und zwar in den einzelnen Abteilungen und Werkstätten die vollständige und unbedingte Individualleitung einzuführen, in den Betriebsleitungen die Individualleitung und auf den mittleren und oberen Stufen des Verwaltungs- und Produktionsapparats eingeschränkte kollegiale Verwaltungsformen anzustreben“. Der Parteitag schildert ausführlich diesen Übergang und erklärt: „Die wirkliche Durchführung (von oben bis unten) des wiederholt verkündeten Prinzips der klaren Verantwortung einer bestimmten Person für eine bestimmte Arbeit ist jedenfalls eine notwendige Voraussetzung für die Besserung der Wirtschaftsorganisation und für das Wachstum der Industrie. Das kollegiale Prinzip, das bei der Beratung oder Beschlussfassung eine Rolle spielt, muss bei der Ausführung unbedingt der individuellen Bestimmung den Platz einräumen. Der Grad der Tauglichkeit jeder Organisation ist danach zu bemessen, wie streng in ihr die Verteilung der Pflichten, der Funktionen und der Verantwortung durchgeführt ist“. Dieser ganze IX. Abschnitt der Resolution wurde von dem IX. Parteitag in der Fassung angenommen, wie sie in den Thesen des Zentralkomitees vorlag. Das Leninsche Prinzip der Individualleitung, das von ihm bereits im Frühjahr 1918 in der Broschüre „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ als allgemeines Prinzip der Verwaltung der Industrie in der Übergangsepoche aufgestellt wurde und mit der proletarischen, der Sowjetdemokratie durchaus zu vereinigen ist und auch vereinigt wird, wurde somit auf dem IX. Parteitag der Organisation der Industrieverwaltung zugrunde gelegt. Der hartnäckige Widerstand, den die Opposition auf dem IX. Parteitag leistete, wurde trotz aller ihrer Bemühungen, den Parteitag für sich zu gewinnen, gebrochen. Die weiter oben erwähnten Referate Ossinskis und Rykows waren Korreferate der Opposition: Ossinskis Referat wurde im Namen der „Gruppe des Demokratischen Zentralismus" gehalten, Rykows Rede im Namen der oppositionellen Gruppe der Wirtschaftler, während Tomski im Namen der Opposition der Gewerkschafter sprach. Um diese drei Führer der oppositionellen Gruppen zu unterstützen, ergriffen auch andere Redner dieser Gruppen das Wort. Die Frage Kollegialität oder Individualleitung wurde zum wichtigsten Problem unter den anderen Fragen des Wirtschaftsaufbaus, die zu diesem Punkt der Tagesordnung gehörten. Ihr ist auch die vorliegende Rede Lenins „Über den Wirtschaftsaufbau“ fast ganz gewidmet. Lenin wiederholte bei der Kritik der Ansichten und Anträge der Opposition die Grundthesen, die er bereits in seinem „Bericht über die Tätigkeit des ZK“ dem Parteitag dargelegt hatte, er betonte, dass die Frage schon vor zwei Jahren durch die Verfügung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, das die „Thesen über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ annahm, prinzipiell entschieden war, er konstatierte, dass sich die Opposition „wie ein Krebs“ vorwärtsbewegt und uns „theoretisch zurückzerrt“ und ließ in seiner Rede an der kleinbürgerlichen Konzeption sämtlicher drei oppositionellen Gruppen keinen Stein auf dem andern. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 8]

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