Der Gesichtspunkt der polnischen Zimmerwalder Linken wurde von ihnen in den „Thesen über den Imperialismus und die nationale Unterdrückung“ in der Zeitung „Gazeta Robotnicza“ („Arbeiterzeitung“) entwickelt und war im Wesentlichen der alte Gesichtspunkt Rosa Luxemburgs und ihrer Anhänger, gegen den Lenin schon vor dem Kriege aufgetreten war (siehe den Artikel „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“). Diese alte Stellung der polnischen und deutschen Linken mit Rosa Luxemburg an der Spitze wurde jetzt, unter den Bedingungen des imperialistischen Krieges, nur ein bisschen aufgefrischt [...]. Die Thesen der Gazeta Robotnicza [...] lassen sich in drei Hauptpunkte zusammenfassen: 1. Die Selbstbestimmung der Nationen ist unter dem Imperialismus undurchführbar, da der Imperialismus unvermeidlich die Unterdrückung der schwachen Nationen in der ganzen Welt verbreitet und verstärkt und da diese Unterdrückung nur auf dem Wege der Vernichtung des Imperialismus, d. h. durch die sozialistische Revolution beseitigt werden kann; 2. die Selbstbestimmung der Nationen wäre schädlich, da sie die vom Imperialismus schon beseitigten Grenzen der Staaten wiederherstellten und „neue Grenzpfähle“ errichten würde, was nur ein Hindernis für die Entfaltung des solidarischen Kampfes der Massen aller Nationen gegen den Imperialismus wäre; 3. die Selbstbestimmung ist nach dem sozialistischen Umsturz nicht notwendig, da ja der Sozialismus alle Grenzpfähle entferne. Darum könne es nur eine Losung geben, die gegen die nationale Unterdrückung gerichtet ist: den Sturz des Imperialismus. Von diesem Standpunkt ausgehend, hielten die polnischen Zimmerwalder Linken nur die Unterstützung der Befreiungsbewegung in den Kolonien für das Proletariat für möglich, da die Befreiung der Kolonien unmittelbar den Untergang des Imperialismus und den Sieg der sozialistischen Revolution in den imperialistischen Ländern herbeiführe. Diese Thesen der Zeitung „Gazeta Robotnicza“ wurden vom Genossen Radek verfasst und erschienen zugleich mit den Thesen Lenins in Nummer 2 des „Vorboten“. Die Gruppe Bucharin-Pjatakow hatte im November 1915 dem ZK der Partei von Bucharin verfasste Thesen „Über die Losung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen“ überreicht, die im Wesentlichen dieselben Ansichten wie die Thesen der polnischen Sozialdemokraten, nur mit anderen Worten und mit einigen Ergänzungen enthielten. Am Schluss ihrer Thesen erklärte die Gruppe Bucharin-Pjatakow: „Wir unterstützen in keinem Falle und unter keinen Umständen die Regierung einer Großmachtnation, die den Aufstand oder die Empörung einer unterdrückten Nation niederwirft; zugleich aber mobilisieren wir auch selbst nicht die Kräfte des Proletariats unter der Losung des ,Selbstbestimmungsrechtes der Nationen'. Unsere Aufgabe ist im gegebenen Falle die Mobilisierung der Kräfte des Proletariats beider Nationen (zugleich mit denen der anderen) unter der Losung des Klassenkampfes und des Bürgerkrieges für den Sozialismus und die Propaganda gegen die Mobilisierung der Kräfte unter der Losung des ,Selbstbestimmungsrechtes der Nationen'.“ Während die Gruppe Bucharin-Pjatakow diese Losung ablehnte, gab sie die Möglichkeit der Unterstützung von Volksaufständen gegen die nationale Unterdrückung in den Ländern, „die nicht kapitalistisch sind oder in denen der Kapitalismus erst im Entstehen begriffen ist“, z. B. in den Kolonien, zu, da hier noch nicht die Frage des Sozialismus und auch nicht die Frage der Mobilisierung der Kräfte des Proletariats, sondern jener der Bourgeoisie gestellt sei und da diese Aufstände dem Proletariat dieser Länder objektiv zu Hilfe kommen. Zu diesen Thesen machte der Verfasser die Bemerkung: „Übrigens sind doch alle äußersten Linken, die eine durchdachte Theorie haben, dagegen“ (d. h. gegen die Losung des Selbstbestimmungsrechtes). „Sind sie denn alle ,Verräter'?“ Lenin erbrachte in seinen Thesen und dann auch in einer Reihe seiner Artikel über die nationale Frage aus den Kriegsjahren eben den Beweis, dass diese „äußersten Linken“, die die Losung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes ablehnen, in der Tat Verrat am revolutionären Marxismus begehen und dass sich diese „äußersten Linken“ den rechten Opportunisten, den Sozialchauvinisten, nähern. Er wies nach, dass die richtige marxistische Auffassung des Imperialismus und der Aufgaben der sozialistischen Revolution, wie sie durch den Imperialismus und den imperialistischen Krieg auf de Tagesordnung gesetzt worden sind, und eben der Aufgaben des internationalen Vereinigung des Proletariats im Interesse dieser Revolution von der proletarischen Partei die Anerkennung und Vertretung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes erfordert. Auch nach dem Kriege – im Jahre 1917 auf der Aprilkonferenz der Partei und dann im Jahre 1919 auf dem 8. Parteitag – musste Lenin wiederum gegen den „äußersten linken“ Standpunkt von Bucharin und Pjatakow in der nationalen Frage ankämpfen. [...] [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 94] |
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