Das Erscheinen des machistischen Sammelbandes „Beiträge zur Philosophie des Marxismus" (St. Petersburg 1908) verschärfte den Kampf um philosophische Fragen. An dieser Aufsatzsammlung beteiligten sich: W. Basarow, J. Berman, A. Lunatscharski, P. Juschkewitsch, A. Bogdanow, I. Helphand und S. Suworow. Lenin schrieb an Gorki über diesen Sammelband (25. Februar 1908): „Nein, das ist kein Marxismus! Und unsere Empiriokritiker, unsere Empiriomonisten und Empiriosymboliker geraten in einen Sumpf. Dem Leser vorzumachen, dass der ,GIaube' an die Realität der Außenwelt ,Mystik' sei (Basarow), auf die scheußlichste Weise Materialismus und Kantianertum zu verwechseln (Basarow und Bogdanow), eine Abart von Agnostizismus (Empiriokritizismus) und Idealismus (Empiriomonismus) zu predigen, den Arbeitern einen ,religiösen Atheismus' und ,Anbetung' der höchsten menschlichen Potenzen zu lehren (Lunatscharski), die Engelssche Lehre von der Dialektik für Mystik zu erklären (Berman), aus der übelriechenden Quelle irgendwelcher französischen ,Positivisten' – Agnostiker oder Metaphysiker – hol' sie der Teufel! – zu schöpfen, mitsamt der, symbolischen Erkenntnistheorie' (Juschkewitsch)! Nein, das ist zu stark!" (Lenin, Briefe an Gorki, Wien 1924. Verlag für Literatur und Politik, S. 22–23.) Vertreter des Machismus war ein so einflussreicher Bolschewik, wie es damals A. Bogdanow war, Mitglied der Dreier-Redaktion des „Proletarij und nicht er allein, sondern auch noch zwei weitere prominente Schriftsteller – A. W. Lunatscharski und W. Basarow. Bei den Menschewiki traten Personen von viel geringerem Einfluss in der menschewistischen Fraktion als philosophische Revisionisten auf – Walentinow, Juschkewitsch, Semkowski. Indem Lenin den philosophischen Revisionismus bekämpfte, war er zugleich bestrebt, eine Scheidegrenze zwischen Machismus und Bolschewismus zu ziehen. „Wir müssen uns wegen der Philosophie so in den Haaren liegen, dass der ,Proletarij' und die Bolschewiki als Fraktion der Partei davon nicht berührt werden", schrieb Lenin an Gorki am 25. Februar 1908 (ebenda, S. 26). Trotzdem damals bereits Fraktionsdifferenzen in Erscheinung zu treten begannen (Boykottismus und Otsowismus), traten die Bolschewiki noch in Einheitsfront gegen die Menschewiki auf. Lenin betont dies in demselben Briefe an Gorki: „Diese Taktik führten und führen wir bisher ohne Meinungsverschiedenheiten durch (die einzige Meinungsverschiedenheit gab es in Bezug auf den Boykott der III. Duma, aber erstens hat sie sich bei uns nie auch nur bis zu einer Andeutung auf eine Spaltung verschärft; zweitens entsprach sie nicht der Meinungsverschiedenheit zwischen Materialisten und Machisten, denn der Machist Basarow z. B. war, ebenfalls wie ich, gegen den Boykott" (ebenda, S. 26). Trotz des Bestrebens, die philosophischen Meinungsverschiedenheiten von der bolschewistischen Fraktion zu trennen, entstand allmählich in der Redaktion des „Proletarij" eine Spaltungsatmosphäre. Lenin wollte die politische Spaltung der Fraktion verhüten, wandte sich aber zugleich gegen die Versuche, die Meinungsverschiedenheiten zu vertuschen, gegen Neutralität: „Neutralität kann und wird es in einer solchen Frage nicht geben", schreibt er (ebenda, S. 30). Den Einwand Gorkis, durch einen philosophischen Streit unter den Bolschewiki würden nur die Menschewiki gewinnen, widerlegt Lenin in seinem Brief vom 24. März 1908: „Sie irren sich, Sie irren sich gründlich, A. M.! Sie werden gewinnen, wenn die bolschewistische Fraktion von der Philosophie der drei Bolschewiki (A. Bogdanow, Basarow, A. Lunatscharski) nicht abrückt. Dann werden Sie endgültig gewinnen. Wenn hingegen der philosophische Zwist außerhalb der Fraktion seinen Verlauf nehmen wird, dann werden die Menschewiki sich endgültig auf die Politik beschränkt sehen, und das ist ihr Tod" (ebenda, S. 32). Die „Neue Zeit" (Nr. 20 vom 14. Februar 1908) brachte eine Übersetzung des Artikels von A. Bogdanow „Ernst Mach und die Revolution". Im Vorwort des Übersetzers hieß es, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen Plechanow und Bogdanow die Tendenz zeigten, sich zu Fraktionsdifferenzen zwischen Bolschewiki und Menschewiki zu verdichten. Lenin berichtete Gorki über diese Episode und meinte hierzu: „Durch diese Worte hat der dumme Verfasser oder Verfasserin dieses Vorworts uns zusammengeschlossen. Wir kamen sofort darin überein, dass gleich in der nächsten Nummer des ,Proletarij' eine Erklärung unserer Neutralität unbedingt erforderlich ist … Die Erklärung wurde verfasst, einstimmig bestätigt, morgen erscheint sie in Nr. 21 des ,Proletarij' und wird Ihnen zugesandt" (ebenda, S. 25). Die Redaktion des „Proletarij" als ideologische Vertreterin des Bolschewismus erklärte: „Dieser philosophische Streit ist kein Fraktionsstreit und darf nach Meinung der Redaktion keiner sein. Jeder Versuch, diese Meinungsverschiedenheiten als Fraktionsdifferenzen hinzustellen, ist grundfalsch. In der einen wie in der anderen Fraktion gibt es Anhänger beider philosophischen Richtungen" („Proletarij" Nr. 21 vom 26. Februar 1909). Die bolschewistische Zentrale fasste einen Beschluss, der auf eine Scheidung des philosophischen Streits von Fraktionsangelegenheiten und die Nichtzulassung der philosophischen Streitfragen in die Spalten des „Proletarij" hinauslief. Doch zwischen der bolschewistischen Fraktion und der Philosophie der drei bolschewistischen Machisten musste eine Scheidelinie gezogen werden. Der Kampf gegen den philosophischen Revisionismus entwickelte sich immer weiter. Am 16. April 1908 schrieb Lenin an Gorki: „Ich habe die denkbar allerformellste Kriegserklärung bereits zum Druck eingesandt. Diplomatie ist hier nicht mehr angebracht" (ebenda, S. 35). Diese Worte beziehen sich auf den Aufsatz „Marxismus und Revisionismus", der für das damals in Vorbereitung begriffene Sammelbuch „Karl Marx zum Gedächtnis" eingesandt wurde (eigentlich auf die Anmerkung zu diesem Aufsatz – siehe vorliegenden Band, S. 222). Somit waren in diesem Sammelband zwei miteinander unversöhnliche Auffassungen der marxistischen Philosophie vertreten: die Leninsche Auffassung – eine konsequent materialistische, und die Basarowsche – eine idealistisch-machistische. Im September 1908 beendete Lenin seine philosophische Arbeit gegen den Empiriokritizismus („Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie"), die im Frühjahr 1909 in Moskau erschien (siehe Sämtliche Werke, Bd. XIII). Zugleich
wurde die Spaltung in der Fraktion immer tiefer. Die Mehrzahl der
Machisten waren Anhänger des „Boykottismus", des „Otsowismus"
und des „Ultimatismus". Anfang 1909 brach der „Proletarij"
sein Schweigen in den philosophischen Streitfragen, indem er einen
Artikel von Kamenew
brachte, betitelt: „Nicht der gleiche Weg'' (Nr. 42 vom 25. Februar
[12. März] 1909). Im Juli 1909 kam es in einer Beratung der
erweiterten Redaktion zum endgültigen Bruch mit der Gruppe Bogdanow,
Lunatscharski
u.a. [Band 12] |
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