Glossar‎ > ‎

Konferenz von Genua

    Es handelt sich hier um die Genueser Konferenz, die, offiziell als „Weltwirtschaftskonferenz“ bezeichnet, auf Beschluss des Völkerbundsrates nach Genua (Italien) einberufen wurde, um das Problem des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Europas nach dem Krieg zu lösen. Die Konferenz tagte vom 10. April bis zum 19. Mai 1922, doch fanden in dieser Zeitspanne nur drei Vollversammlungen statt. Im Grunde genommen bestand der Zweck der Konferenz darin, Sowjetrussland unter Ausnutzung seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten ökonomisch zu unterjochen. Offiziell sollte die Konferenz zwei Fragen lösen, und zwar erstens die Frage des Wiederaufbaus Europas und zweitens die russische Frage. Tatsächlich war die russische Frage die Kernfrage der Konferenz, und sie lief im Grunde genommen auf die Frage des ausländischen Eigentums in Russland sowie die Anerkennung der Vorkriegs- und Kriegsschulden hinaus. An der Konferenz beteiligten sich 34, hauptsächlich europäische, Staaten, darunter Deutschland und die RSFSR. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika waren nicht vertreten. An der Spitze der Sowjetdelegation stand Tschitscherin, der Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten. Gleich zu Beginn der Konferenz legten die bürgerlichen Staaten der Sowjetregierung eine ganze Reihe von Forderungen vor, die darauf hinzielten, Sowjetrussland in eine Kolonie des westeuropäischen Kapitalismus zu verwandeln. Die Sowjetregierung sollte unter anderem die Vorkriegs- und Kriegsschulden anerkennen. Sie sollte auf eine Entschädigung für die Verluste und Opfer, die ihr aus der Blockade und der Intervention erwachsen waren, verzichten, die Ausländer aber für die infolge der Revolution entstandenen Verluste entschädigen. Außerdem sollte sich die Sowjetregierung damit einverstanden erklären, dass alle Streitfragen über das Eigentum der Ausländer vor einem besonderen Gerichtshof ausgetragen werden, in dem die Ausländer Stimmenmehrheit haben sollten. Die Sowjetregierung sollte ferner den Ausländern in Sowjetrussland besondere Privilegien einräumen und alle Organisationen auflösen, die die revolutionäre Bewegung in den anderen Ländern förderten.

Die Sowjetdelegation lehnte diese Forderungen kategorisch ab und stellte ihrerseits folgende Thesen auf: Die Sowjetregierung wird de jure, d. h. offiziell, anerkannt, und es werden offizielle diplomatische Beziehungen mit ihr aufgenommen. Die Ententestaaten verzichten vollständig auf die Kriegsschulden, dafür verzichtet Sowjetrussland seinerseits auf Entschädigung für die Verluste, die ihm durch Intervention und Blockade entstanden sind. Die Sowjetregierung erklärt sich damit einverstanden, die Vorkriegsschulden unter der Bedingung anzuerkennen, dass ihr die Zahlungen auf 30 Jahre gestundet werden und dass Sowjetrussland Kredite für seinen wirtschaftlichen Wiederaufbau erhält. Die Sowjetregierung lehnt es ab, das nationalisierte Eigentum der Ausländer zurückzuerstatten. Sie ist jedoch bereit, den früheren Eigentümern des nationalisierten Eigentums die Möglichkeit zu bieten, ihre technischen Kenntnisse und ihr Kapital bei dem ökonomischen Wiederaufbau Russlands und zu .ihrem eigenen Vorteil zu verwerten. Die Sowjetregierung erkennt in allen Fällen, wo früheres ausländisches Eigentum in Konzession gegeben wird, unabhängig davon, ob dies in Form der Verpachtung, einer gemischten Gesellschaft oder in anderen Formen der Beteiligung von ausländischem Kapital geschieht, das Vorzugsrecht der ehemaligen Eigentümer an.

Zuerst forderten die Alliierten die unbedingte Zurückgabe des in Sowjetrussland nationalisierten ausländischen Eigentums. Später erklärten sich England und Italien in einem Memorandum (das von Frankreich und Belgien nicht unterzeichnet wurde) bereit, auf die Rückgabe verzichten zu wollen, wenn der Wert des nationalisierten Eigentums vergütet wird. Die Sowjetdelegation war zu gewissen Zugeständnissen bereit, machte aber sie vom Verzicht der Entente auf die Kriegsschulden und von der Gewährung einer Anleihe abhängig. Eine Verständigung wurde nicht erzielt. Nachdem die Konferenz nahezu anderthalb Monate getagt hatte, wurde sie geschlossen, ohne dass die vor ihr stehenden Fragen gelöst worden wären. Es wurde der Beschluss gefasst, diese Fragen an eine Sachverständigenkonferenz in Den Haag zu überweisen; gleichzeitig verpflichteten sich die Alliierten, bis zum Abschluss dieser Konferenz keine Separatabkommen mit der Sowjetrepublik zu treffen. Das einzige greifbare Resultat der Genueser Konferenz war die Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages mit Deutschland. Diesem Vertrag zufolge wurde die Sowjetmacht von der deutschen Regierung anerkannt, ferner verzichteten beide Staaten auf ihre gegenseitigen Ansprüche hinsichtlich der Vorkriegsschulden sowie des Eigentums der Ausländer. Dieser Vertrag war ein bedeutender diplomatischer Sieg der Sowjetdelegation und rief unter den Ententeregierungen größte Unzufriedenheit hervor. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 9, Anm. 86]

Comments