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ISB und russische Parteispaltung

Auf Grund des Briefes von Bebel, von dem das Lenin-Institut eine Abschrift besitzt, schlug das Internationale Sozialistische Büro die Einberufung einer Konferenz beider Fraktionen der SDAPR unter dem Vorsitz eines Mitgliedes des Büros vor. Lenin antwortete zustimmend unter der Bedingung, dass die Konferenz nur den „Charakter einer vorläufigen Beratung" haben wird. Im Oktober 1905 wurden schon praktische Schritte zur Verwirklichung dieser Konferenz unternommen, aber die stürmischen Ereignisse in Russland, die eine massenhafte Rückkehr von Emigranten zur Folge hatten, und auch der beginnende Prozess der tatsächlichen Vereinigung der beiden Fraktionen machten die Einmischung des Internationalen Sozialistischen Büros überflüssig. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 8, Anm. 6]

Diesen Brief schrieb Lenin als Antwort auf den Vorschlag des Sekretariats des Internationalen Sozialistischen Büro (II. Internationale), in dem Parteikonflikt in der SDAPR zu vermitteln und die Spaltung auf dem Wege einer durch das Büro zu erfolgenden Einberufung einer Beratung von Vertretern beider Fraktionen zu beseitigen. Wie aus dem Briefe Lenins zu ersehen ist, wurde ein ähnlicher Vorschlag schon früher, vor dem dritten Parteitage, von August Bebel gemacht. Der Vorschlag des Internationalen Sozialistischen Büros war eine Unterstützung des Vorschlages Bebels, wobei der Unterschied zwischen diesen beiden Vorschlägen darin bestand, dass nach Bebels Vorschlag der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie, jetzt aber das ISB der Vermittler zwischen Bolschewiki und Menschewiki sein sollte. Im Wesen war das das Gleiche, denn beide, der deutsche Parteivorstand und das ISB, nahmen in dieser Frage die gleiche Haltung ein, und zwar eine Haltung zugunsten der Menschewiki. Lenin nahm daher zu diesen Vermittlungsversuchen eine ablehnende Haltung ein. Es waren doch nur Versuche, die Mehrheit der Minderheit unterzuordnen. Kautsky stellte sich in den organisatorischen Fragen vollständig auf die Seite der Menschewiki und auch in sehr wichtigen taktischen Fragen der bürgerlich-demokratischen Revolution vertrat er oft einen antibolschewistischen Standpunkt und erklärte, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bolschewiki und Menschewiki seien ganz unwesentlich. In der Hauptfrage der Revolution von 1905, in der Bauernfrage, empfahl Kautsky den Sozialdemokraten, „neutral“ zu bleiben. Dies rief eine besondere Antwort Lenins hervor, und zwar den Artikel „Proletariat und Bauernschaft“, in welchem Lenin die Haltung Kautskys aus seiner Unkenntnis der russischen Verhältnisse erklärte. Welche Stellung Kautsky überhaupt zu den Differenzen zwischen Bolschewiki und Menschewiki in den taktischen Fragen einnahm, kann man aus dem bereits Angeführten sowie aus seinem Artikel „Die Spaltung in der russischen Sozialdemokratie“ ersehen, aus welchem noch die folgende Äußerung Kautskys über die Resolutionen des dritten Parteitages der russischen Sozialdemokratie angeführt sei: „Die Resolutionen lassen die sachlichen Gegensätze innerhalb der russischen Sozialdemokratie weit größer erscheinen, als sie wirklich sind“. Diese Resolutionen seien, so weit sie das Verhältnis zur „Iskra“ behandeln, „vorübergehende Erscheinungen“. Wie wenig Kautsky in dieser Frage „unparteiisch“ war, zeigt Lenin auch in dem vorliegenden Briefe an das ISB. Solche Richter konnten nicht anders als abgelehnt werden. Das tat denn auch Lenin in seinem Briefe. Aber als der Sekretär des ISB Huysmans mitteilte, dass nur eine „moralische Einflussnahme“ auf die Fraktionen der SDAPR in der Richtung ihrer Vereinigung geplant sei, beeilte sich Lenin samt dem ZK, dem Vorschläge des ISB auf Einberufung einer Beratung zuzustimmen. Die Beratung kam übrigens nicht zustande, da sie durch die im Juli 1905 begonnenen direkten Besprechungen der Bolschewiki und der Menschewiki über die Vereinigung überflüssig wurde.

Bald nach dem dritten Parteitage wandte sich Lenin an das ISB mit einer Erklärung, in welcher er unter Berufung auf den abgehaltenen Parteitag schrieb: „Entsprechend dem neuen Parteistatut … ernennt das ZK den Vertreter der Partei beim ISB. Wir bitten Sie, sich an den Genossen Uljanow zu wenden.“ Im Zusammenhang mit dieser Erklärung wandte sich das ISB auch mit einer Anfrage an Plechanow. Der von Lenin zitierte Brief Plechanows war dessen Antwort auf diese Anfrage.

Mit dem Artikel Plechanows meint Lenin denjenigen, der in Nr. 52 der „Iskra“ mit der Überschrift „Was soll man nicht tun?“ erschien, in welchem Plechanow die Menschewiki unterstützte und u. a. schrieb, man solle, wenn man gegen den Revisionismus kämpft, nicht immer gegen die Revisionisten kämpfen. Damit, dass Plechanow die Unterstützung Lenins ablehnte, vollzog er seinen Übertritt zu den Opportunisten.

Mit dem anderen Briefe Plechanows meint Lenin den Brief, den Plechanow nach der Genfer Konferenz der Menschewiki an die Redaktion der „Iskra“ schrieb. Der Brief lautete: „Genossen, die Beschlüsse der Konferenz, die den Zentralinstanzen unserer Partei den Todesstoß versetzten, zwingen mich, die Funktion als Redakteur des Zentralorgans und als (vom 2. rechtmäßigen Parteitag gewähltes) Mitglied des Parteirates niederzulegen. P. S. Ich benütze diese Gelegenheit, um durch die Presse jenen Teil der Partei, der die Beschlüsse des ,dritten“ Parteitages für verbindlich anerkennt, zu fragen, ob sie wünschen, dass ich auch weiterhin diese jetzt – leider! – zerrissene Partei im Internationalen Sozialistischen Büro vertrete. Ich kann dort als Vertreter der Russischen Sozialdemokratischen Partei nur in dem Falle verbleiben, wenn dies beide Fraktionen wünschen.“ [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 3, Anm. 144]

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