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Besuch Vanderveldes in Russland 1914

Der Besuch des Vorsitzenden des Internationalen Sozialistischen Büros Emile Vandervelde, der am 12. Juni (30. Mai) 1914 über Finnland nach Petersburg kam, trug „inoffiziellen" Charakter. Während seiner Anwesenheit in Petersburg besuchte Vandervelde das Taurische Palais (das Gebäude, in welchem die Duma tagte), wo er eine Zusammenkunft mit dem Präsidenten der Reichsduma, Rodsjanko, und mit einer Reihe von Abgeordneten sowie mit der Redaktion der „Trudowaja Prawda" und der „Nascha Rabotschaja Gaseta" hatte. Zu Ehren der Ankunft Vanderveldes veranstalteten beide sozialdemokratische Dumafraktionen ein Bankett, an welchem ein Teil der bolschewistischen Dumaabgeordneten und eine Reihe von Parteifunktionären, darunter Krestinski und Schljapnikow, sowie eine Reihe von Liquidatoren (Martow, Dan, Potressow) und die Mitglieder der menschewistischen Dumafraktion teilnahmen. Im Namen der Bolschewiki traten Petrowski und Schljapnikow mit Reden und Begrüßungsansprachen auf. Schljapnikow betonte in seiner in. französischer Sprache gehaltenen Rede, dass in der Masse der vorgeschrittenen Arbeiter die Einheit erzielt sei und dass die Mehrheit in der Arbeiterklasse und in ihren Organisationen auf der Seite der Bolschewiki stehe. Die Einheit der Sozialdemokratie könne nur auf der Grundlage vollständiger Unterordnung der menschewistischen Intellektuellen unter den Willen der Mehrheit der organisierten Marxisten verwirklicht werden. Im Namen der Liquidatoren sprachen Tschcheïdse und Dan.

Bei seinem Zusammenkommen mit den Bolschewiki führte Vandervelde keinerlei Unterredung über die in Brüssel bevorstehende Beratung aller russischen sozialdemokratischen Strömungen. Mit den Liquidatoren jedoch führte Vandervelde Unterhandlungen über die bevorstehende Beratung.

In einem Briefe an Axelrod vom 15. (2.) Juni teilte Martow diesem aus Petersburg über seine Besprechungen mit Vandervelde u. a. mit: „… in einem Privatgespräch mit mir (am meisten von allen sprach er überhaupt mit uns) sagte er: ,Sie erraten natürlich, dass meine Sympathien auf der Seite eurer Strömung sind, aber ich kann das nicht zum Ausdruck bringen.'"

An die Liquidatoren stellte Vandervelde auch die Frage, ob sie damit einverstanden seien, in der Frage der Vereinigung der russischen Sozialdemokratie nicht nur die Vermittlung des Internationalen Sozialistischen Büros, sondern auch einen Schiedsspruch über das Wesen der Streitfragen anzunehmen, mit der Verpflichtung, die durch diesen Schiedsspruch ausgearbeitete Grundlage anzunehmen. Die Liquidatoren antworteten mit einer bedingten Zustimmung und fragten Vandervelde, ob er darüber auch mit den Anhängern der „Prawda" gesprochen habe.

Da sagte er: „Wie ich bereits gesagt habe, sympathisiere ich mehr mit eurer Strömung, und darum habe ich mich entschlossen, an euch die direkte Frage zu stellen; ihnen fürchtete ich mich diese Frage vorzulegen, denn sie würden bemerken oder den Verdacht schöpfen, dass ich sie an die Wand drücken will. Das muss man sich für die offizielle Unterredung aufsparen."

Nach seiner Rückkehr nach Belgien veröffentlichte Vandervelde im Brüsseler Zentralorgan der belgischen Sozialistischen Partei, „Le Peuple", und im Zentralorgan der Sozialistischen Partei Frankreichs, in der „Humanité" vom 21. Juni, Tatsachenmaterial über die Stärke der verschiedenen sozialistischen Strömungen Russlands, das er während seines Aufenthalts in Petersburg gesammelt hatte, und erzählte über seine Eindrücke von der Arbeiterbewegung in Finnland und in Petersburg. [Band 17]

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