Alexandra Kollontai: Lenins Ankunft in Petrograd [Alexandra Kollontais Erinnerungen an Lenins Rückkehr aus der Emigration nach Petrograd und seine Reden vom 3. und 4. April sind in verschiedenen Fassungen veröffentlicht: in dem Sammelband „W. I. Lenin. Erinnerungen. 1900–1922", russ. (herausgegeben 1963), in dem Sammelband „Iljitsch. Erinnerungen Petrograder Bürger", russ. (herausgegeben 1970), in der „Literaturnaja Gaseta" vom 21. April 1962 und in der „Prawda" vom 8. April 1963. Der vorliegenden Publikation liegt der Text zugrunde, der in dem Sammelband „W. I. Lenin" veröffentlicht wurde. Einige Ergänzungen zum Text wurden anhand von Manuskripten aus dem Zyklus der Erinnerungen an Lenin – „Lenins Thesen" und „Der 4. April 1917" – vorgenommen, die im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt werden. Nach „Ich habe viele Leben gelebt“. Berlin 1980, S. 322-331] Am 3. April hießen wir Lenin auf der Bahnstation Beloostrow willkommen. Fast die gesamte Petrograder Organisation war anwesend. Er und Nadeschda Konstantinowna waren so dicht umringt – man überhäufte sie sogleich mit Fragen –, dass Belenin und ich kaum zu ihm durchkamen. Das Petersburger Komitee hatte mich beauftragt, Lenin mit einer kurzen Rede zu begrüßen und ihm Blumen zu überreichen. Belenin und Lenin fielen sich in die Arme. Ich drückte ihm die Hand, doch Belenin gab mir einen Schubs. „Wenn schon keine Rede, dann geben Sie Iljitsch wenigstens einen Begrüßungskuss." Nadeschda Konstantinowna meinte besorgt: „Geplagt haben sie Iljitsch unterwegs, auf jeder Station Reden, überall in Finnland Begrüßungsansprachen. Auch die Finnen haben ihn begrüßt. Mit uns ist Rovio gefahren, er hat sehr gut übersetzt. Geben Sie Iljitsch doch wenigstens ein Glas Tee, sehen Sie nur, wie abgespannt er ist." Wir gingen zum Wagen. Ich setzte mich mit Lenin in ein Abteil. Nadeschda Konstantinowna und Ines Armand gingen ins Nachbarabteil. Im Gang drängten sich erneut die Petrograder Genossen, sie wollten mit Iljitsch sprechen. Dieser zog den Mantel aus und setzte die Mütze ab, und als habe er damit auch seine Müdigkeit abgeworfen, stellte er Fragen, hörte sich aufmerksam an, was die Genossen erzählten; nur wenn Kamenew sie durch Zwischenrufe und Zusätze unterbrach, runzelte er die Stirn. Für den 4. April war eine Versammlung der bolschewistischen Fraktion des Petrograder Sowjets anberaumt. Da ich dem Büro der Fraktion angehörte, fuhr ich schon am Morgen zum Taurischen Palais. Damals wohnte ich in der Wohnung von Tatjana Schtschepkina-Kupernik in der Kirotschnaja und ging gewöhnlich zu Fuß ins Taurische Palais; wenn ich Glück hatte, nahm ich auch eine Droschke. An diesem Morgen gelang das nicht, und eigentlich war ich ganz froh, dass ich so zu Fuß gehen konnte. Die Sonne schien, überall roch es nach Frühling, und ich war voller Schwung und Kampfesstimmung. Ich stand noch ganz unter dem Eindruck der Ankunft Lenins, seiner Reden und der Tatsache, mit welcher Freude ihn die Menge der Arbeiter und Soldaten am Finnländischen Bahnhof und dann vor dem ehemaligen Haus der Krzesinska1, wo das bolschewistische Militärzentrum einquartiert war, begrüßt und mit Herz und Sinn verstanden hatte. Die von Lenin geäußerten Gedanken waren mir sowohl aus seinen an mich gerichteten Briefen als auch aus seinen Artikeln bekannt. Doch das Bewusstsein, dass er selbst hier war, in diesem neuen, chaotischen Russland, wo alles durcheinanderging, gab einem das Gefühl der Sicherheit und der Stabilität. Erfreulich war auch, dass unter den Bolschewiki selbst, unter jenen, die noch schwankten, Ordnung geschafft würde … Inzwischen war ich am Petrograder Sowjet angelangt. Ich eilte zur Galerie hinauf, wo gewöhnlich das Büro unserer Fraktion der dem Sowjet angehörenden Bolschewiki zusammenkam. Es war nur natürlich, dass die Fraktion in gehobener, erregter Stimmung war. Lenins Thesen wurden leidenschaftlich erörtert. Für viele waren diese Gedanken Lenins neu, kamen sie unerwartet. Diejenigen, die wussten, dass ich während des imperialistischen Krieges im Ausland in ständigem Kontakt mit Wladimir Iljitsch gestanden hatte, umringten mich und brachten ihre Fragen und Bedenken vor. Ich hatte einen solchen Ansturm von Seiten der eigenen Leute nicht erwartet und gab eilig Erklärungen und Antworten auf die mir zugerufenen Fragen. In Gedanken fragte ich mich, ob es denn um den Transport von Literatur und Briefen Lenins nach Russland in diesen Jahren wirklich so schlecht bestellt gewesen war. Hatten wir „Verbindungsleute" in Skandinavien die russischen Genossen tatsächlich so wenig mit den wertvollen, aus der Feder Lenins stammenden Materialien beliefert? Weshalb waren seine neuen und grandiosen Gedanken von der Überleitung der bürgerlichen Revolution in eine sozialistische und seine zur Beendigung des Krieges führende Politik noch nicht allen vertraut? Doch ich hatte keine Zeit, mir darüber weiter Gedanken zu machen, es galt zu handeln. Die Sitzung des Fraktionsbüros eröffnete Paderin. Die Fraktion wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass Lenin beabsichtigte, am gleichen Tag auf einer gemeinsamen Sitzung aller dem Sowjet angehörenden sozialistischen Gruppen zu sprechen. Einige hielten eine Rede Lenins vor den Deputierten des Sowjets für verfrüht. Sie meinten, zuvor müsse man sich erst einmal selbst Klarheit über Lenins Thesen verschaffen. Jemand berief sich darauf, dass Kamenew der gleichen Auffassung sei. Das Fraktionsbüro verlangte jedoch stürmisch, dass Lenin unverzüglich, das heißt noch am gleichen Tag, sprechen sollte. Dadurch wurde die Taktik der Partei endgültig festgelegt und denjenigen Unterstützung zuteil, die gegen wankelmütige Genossen auftraten …2 Im Laufe des Tages gingen wir dann in den runden Saal, wo bereits die gemeinsame Sitzung der sozialdemokratischen Fraktionen des Petrograder Sowjets zusammengetreten war. Auf meinem Weg durch die Wandelgänge fiel mir auf, dass es unter den Deputierten außergewöhnlich lebhaft zuging. Sie standen in Gruppen zusammen und führten hitzige Gespräche. An mein Ohr drangen Gesprächsfetzen: „Ich habe es gestern selbst gehört: Die Sowjets sollen die Macht übernehmen und Frieden schließen." In einer Gruppe von Menschewiki behauptete Martow3, kein vernünftiges Mitglied des Sowjets werde je die „blanquistischen" Vorschläge Lenins unterstützen: „Das russische Volk macht sich nichts aus Utopien." Eine Gruppe von Soldaten versperrte mir den Weg. „Guten Tag, Genossin Kollontai. Es stimmt also, dass Lenin heute sprechen wird? Vielleicht kommt er aber doch nicht?" Als sie vernahmen, dass Lenin bereits im Taurischen Palais war, reagierten sie freudig darauf: „Das ist ja prima!" Auf dem Weg in den Saal erinnerten sie sich der gestrigen Worte Lenins; diese Soldaten standen bereits auf unserer Seite … In dem halbrunden Saal des Taurischen Palais, in dem die Plenarsitzungen des Petrograder Sowjets stattfanden, waren die Plätze für die Deputierten dicht besetzt. Man spürte Neugier und die Hoffnung, Lenin werde etwas Neues sagen, was alles sogleich ins rechte Lot bringen, vor allem aber dem blutigen Krieg ein Ende bereiten würde, für den das Volk kein Verständnis hatte und den es hasste … Lenin betrat die Tribüne ganz unauffällig und setzte sich nicht an den Präsidiumstisch, sondern auf einen Stuhl im Hintergrund. „Lenin!" ging ein Raunen durch den Saal. Als Wladimir Iljitsch und die ihn begleitenden Bolschewiki auf der Tribüne erschienen, hatte ich sofort das Gefühl, dass im Saal eine feindselige Atmosphäre herrschte. Man spürte das herablassende Misstrauen der kleinbürgerlichen Deputierten, Sozialdemokraten, mit dem sie sich anschickten, die „Utopien" Lenins zu vernehmen. Unser linker Sektor, in dem die Bolschewiki saßen, empfing Wladimir Iljitsch mit Beifall. Doch der bolschewistische Sektor in der linken Saalecke war damals noch sehr schmal, er breitete sich erst nach dem 4. April stark aus, und zwar so sehr, dass er allmählich alle Verräter des werktätigen Volkes, die Sozialpaktierer von den Deputiertenbänken des Sowjets verdrängte. Und das nicht nur in Petrograd, sondern nach und nach auch im gesamten riesigen Russland. Zum Vorsitzenden der Sitzung wurde wie stets in jenen Tagen der Menschewik Tschcheïdse gewählt. Er erteilte Lenin das Wort. Lenin ging nicht zum Rednerpult, sondern trat gemächlich bis an den Rand der Bühne, als wollte er den Deputierten möglichst nahe sein, als wollte er sich mit ihnen unterhalten, so, wie er es immer in den Versammlungen der politischen Emigranten in Genf oder Paris getan hatte. Die aufmerksamen und erwartungsvollen Augen der Deputierten auf den Bänken, wo die Soldaten und Arbeiter in Gruppen zusammensaßen, waren unverwandt auf Lenin gerichtet. Lenin begann, mit gleichmäßiger, ruhiger Stimme zu sprechen, frappierend einfach und verständlich. Viele sagten später zu mir: „Wie bringt es Lenin nur fertig, das zu sagen, was ich schon längst bei mir selbst denke, nur dass ich nicht die Worte gefunden habe, es auszudrücken." Lenin sprach von großen und wichtigen Dingen – von der Umleitung der gesamten Politik der noch jungen Revolution auf neue Gleise. Das russische werktätige Volk, der Arbeiter, der Bauer, der Soldat und der Matrose, könne über die Macht der Sowjets ein neues und glückliches Land für sich und seine Kinder aufbauen. Es könne, wenn es sich nicht nach den Ausländern richtet, wenn es nicht zulässt, dass die russischen Kaufleute und Industriellen die Macht an sich reißen, selbst, aus eigener Kraft, mit seinem gesunden Menschenverstand, gestützt auf die Lehre von Marx, den Sozialismus aufbauen. Zuvor müsse jedoch dem blutigen Gemetzel ein Ende gesetzt werden, in dem Millionen von russischen Menschen zum Ruhme der Entente umkommen. Der Saal hörte Lenin schweigend zu, mit verhaltenem Atem, wie verzaubert. Stürmischer, jubelnder Beifall unterbrach Lenins Rede, als er sagte, dass nur das Volk, nur die Macht der Sowjets den Krieg zu beenden vermag. Er sprach weiter. Seine Stimme klang ein klein wenig heftiger und angriffslustiger. Lenin erläuterte den Gedanken, dass für die Bolschewiki ein Zusammengehen mit den Verrätern an den Interessen der Arbeiterklasse, mit Versöhnlern nicht in Frage komme, dass nur auf dem konsequenten Weg der Machtergreifung durch die Sowjets der Krieg ein Ende finden, Russland vor Anarchie und wirtschaftlicher Zerrüttung gerettet und die Werktätigen von der Ausbeutung durch Kapitalisten und Gutsbesitzer befreit würden. Und wieder brach im Saal ein Beifallssturm los … Die Aprilthesen, die das Fundament für die gesamte weitere Politik der Partei legten und die Taktik bei der Weiterführung der Revolution und der Eroberung der Macht durch die Arbeiter und Bauern festlegten, machten die wahre Bedeutung und Bestimmung der Sowjets deutlich. Für viele waren die Thesen eine Offenbarung. Für andere waren sie etwas, was nicht mit einem Mal zu begreifen, zu verarbeiten war. Für die dritten, die Feinde der Revolution, waren die Thesen eine äußerst gefährliche politische Plattform. Es war deutlich zu erkennen, wie rasch mit fortschreitender Entwicklung der logischen Kette der großartigen Thesen Lenins die Stimmung der Anwesenden wechselte. Der Ausdruck auf den Gesichtern änderte sich. Bei den Führern der Menschewiki wurde er zunächst verwirrt, dann gewannen Furcht und Bosheit die Oberhand. Die Gesichter der einfachen Deputierten dagegen, der Soldaten und Arbeiter, hellten sich immer mehr auf, als hätten sie einen neuen Weg entdeckt. Dieser riesige, lichtüberflutete Saal der Sowjets war die nichtssagenden Reden der Menschewiki und Sozialrevolutionäre gewohnt. Heute nun sprach ein Führer des Volkes, ein Genius der Menschheit, der die Ziele und Wege der Revolution kannte und festlegte, der das Volk zur Befreiung von Kriegen und von der Macht des Kapitals führte. Am schlimmsten war für die Paktierer, für die Verfechter von Halbheiten jene Klarheit und Logik, mit der Lenin seine genialen Thesen darlegte. Wladimir Iljitsch sprach ganz und gar nicht so wie der Winkeladvokat Kerenski oder der honigsüße Zeretelli, diese notorischen Schwätzer. Lenin hielt keine Rede, er führte ein sachliches, ernsthaftes politisches Gespräch mit den Deputierten des Sowjets, und es schien, als spräche er mit jedem einzelnen, so einleuchtend und klar waren seine Thesen. Er sprach einfach und für jeden Arbeiter, für jeden Soldaten verständlich. Als Lenin seine Rede beendet hatte, spendete ihm schon fast der ganze Saal stürmischen Beifall. Gegen Lenins Thesen wandten sich J. P. Meschkowski-Goldenberg und W. S. Woitinski. Meschkowski mühte sich, „nachzuweisen", dass die Thesen Lenins eine enorme Gefahr für die Revolution bildeten: Lenin wolle die Einheit der revolutionären Kräfte zunichte machen und in Russland das Banner des Bürgerkrieges aufpflanzen (!?). Nach Meschkowski und Woitinski folgten weitere Opponenten, und zwar nicht nur Menschewiki und Mitglieder der Zwischengruppe (K. K. Jurenew), sondern auch ein paar Mitglieder der bolschewistischen Fraktion im Sowjet. Ich war empört und ärgerte mich über mich selbst, dass das Fraktionsbüro die Fraktion nicht angehalten hatte, für die Solidarität mit der Position Lenins zu stimmen und damit für die Thesen einzutreten. Im Sowjet war bekannt, dass ich ein aktives Mitglied des Büros der bolschewistischen Fraktion war. Daher entschloss ich mich, selbst das Wort zu ergreifen. Es ging darum, zu zeigen, dass wir mit den Thesen Wladimir Iljitschs solidarisch waren, und diesen Hasenfüßen eine Abfuhr zu erteilen. Ich war so empört, dass ich nicht einmal aufgeregt war wie sonst, wenn ich sprach, obwohl ich böse Blicke bemerkte und missbilligende Rufe hörte, die mir galten. In einer der ersten Reihen saß Nadeschda Konstantinowna und neben ihr Ines Armand. Sie lächelten mir beide zu, um mir Mut zu machen. Wladimir Iljitsch saß auf der Tribüne, und als ich mit meiner Rede fertig war, setzte ich mich in seine Nähe. Lenin hörte den gegen ihn auftretenden Rednern mit der ihm eigenen Ruhe zu. Er schien die Deputierten zu studieren, betrachtete sie eingehend. Es war, als interessiere ihn die Zusammensetzung des Sowjets mehr als das, was die Redner sagten. Im Saal herrschte außergewöhnlich erregte Stimmung, ja Verwirrung, möchte ich sagen, und Wladimir Iljitsch konnte das nicht verborgen bleiben. Er musste spüren, dass seine Thesen den bislang unerschütterlichen menschewistischen Autoritäten einen Stoß versetzt und viele zum Nachdenken veranlasst hatten. Und das war es doch, was Lenin angestrebt hatte. Wladimir Iljitsch rief ein paarmal Genossen von der bolschewistischen Fraktion zu sich und erkundigte sich interessiert bei ihnen nach verschiedenen Leuten und der Stimmung. Den Rednern hörte er nicht weiter zu. Als jedoch Tschcheïdse (der bei der Versammlung den Vorsitz führte) Zeretelli das Wort erteilte, wandte sich Lenin zu ihm hin und schickte sich an, die Rede Zeretellis aufmerksam zu verfolgen. Als nun Zeretelli aber begann, die Initiativgruppe der Sozialdemokraten, die diese Beratung einberufen hatte, mit Lob zu überschütten, und vorschlug, unverzüglich ein Zentrum für die Einberufung eines sozialdemokratischen Parteitages aller Fraktionen zu bilden, musste Wladimir Iljitsch ironisch lächeln und sagte, sich zu mir umdrehend: „Wie diese Versöhnler doch herunterkommen. Der Mann ist schließlich nicht dumm, aber was er da für einen bürgerlichen Stuss zusammen redet" Vor den Wahlen zu einem Organ für die Vorbereitung eines Vereinigungsparteitages wurde im Namen des Zentralkomitees der Bolschewiki die Erklärung abgegeben, dass die Bolschewiki die Wahl eines solchen Organs für unzweckmäßig hielten und die Fraktion der Bolschewiki sich nicht an der Abstimmung über die Einberufung eines Vereinigungsparteitages beteiligen würde. Diese Erklärung stiftete Verwirrung unter den Mitgliedern des Sowjets, obwohl sich ein solcher Beschluss logisch aus der Rede Lenins ergab. Doch die Weigerung, an der Abstimmung teilzunehmen – das waren schon nicht mehr nur Worte, das war Tat. Die Bolschewiki schickten sich an, die Revolution auf neuem Wege voranzubringen. Und die Erklärung, nicht für eine Vereinigung mit den „Vaterlandsverteidigern" zu stimmen, war der erste reale Schritt, der auf den berühmten und klaren Thesen Lenins beruhte. Die Mitglieder des Petrograder Sowjets flüsterten erregt miteinander und achteten kaum noch auf den weiteren Verlauf der Versammlung. Tschcheïdse musste wiederholt zur Ordnung rufen … Die Sitzung vom 4. April verließen wir Mitglieder des Fraktionsbüros des Sowjets mit dem Gefühl, einen moralischen Sieg davongetragen zu haben. Meine Rede, in der ich für Lenins Thesen eingetreten war, brachte mir nicht nur den besonderen Hass unserer Gegner im Petrograder Sowjet, sondern auch die Feindseligkeit der Provisorischen Regierung ein. Seit diesem Tag zogen die bürgerlichen Zeitungen gegen mich zu Felde, schrieben sie nicht nur gehässige Artikel über mich, sondern auch ironische Feuilletons; die Korrespondenten nannten mich eine „Walküre der Revolution". Lenins Thesen wirkten wie ein Donnerschlag. Sie trugen Verwirrung in die Reihen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki und versetzten die kapitalistischen Minister, die so gern glauben wollten, die Revolution läge bereits hinter ihnen, in Angst und Schrecken. Die Arbeitermassen und die Soldaten verstanden die Gedanken Lenins und griffen sie auf; sie schritten von nun an unter der straffen Führung unserer Partei auf dem Weg zur Revolution voran … Für mich aber begann eine Zeit intensiver Agitation für den Frieden, für die Macht der Sowjets, für die Verbrüderung an der Front, für die Befreiung der Frau und die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung. 1 Bei seiner Ankunft in Petrograd am 3. (16.) April hielt Lenin auf dem Platz vor dem Finnländischen Bahnhof von einem Panzerauto aus eine Rede, in der er die russischen Arbeiter und Soldaten zu ihrem Sieg über den Zarismus beglückwünschte und sie zum Kampf für die sozialistische Revolution aufrief. In der Nacht zum 4. April sprach Lenin im Palais der Krzesinska auf einer Versammlung vor Parteifunktionären über die neuen Aufgaben der Partei der Bolschewiki und begrüßte vom Balkon des Palais mehrmals die auf dem Platz versammelten Arbeiter, Soldaten und Matrosen. 2 Alexandra Kollontai erwähnt in ihren Erinnerungen nicht das Referat „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution", das Lenin am Morgen des 4. April vor den Mitgliedern des Zentralkomitees und des Petersburger Komitees sowie den bolschewistischen Delegierten der Gesamtrussischen Beratung der Sowjets der Arbeiter und Soldatendeputierten gehalten hat. Sie geht indessen ausführlich auf ein zweites Referat ein, das Lenin ebenfalls am 4. April zu den Aprilthesen auf einer gemeinsamen Sitzung von Bolschewiki und Menschewiki sowie Teilnehmern der Gesamtrussischen Beratung der Sowjets gehalten hat. 3Tatsächlich war Martow damals noch in der Schweiz [WK] |
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