Alexandra Kollontai 19500000 Die Frauen im Jahre 1917

Alexandra Kollontai: Die Frauen im Jahre 1917

[Zum ersten Mal veröffentlicht nach den im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrten Manuskripten aus dem Zyklus der Erinnerungen Alexandra Kollontais an das Jahr 1917 „Als Delegierte zur Beratung der Zimmerwalder Linken" und „Nach dem 4. April". Einiges ist dem Buch „Aus meinem Leben und meiner Arbeit" sowie dem Artikel „Die Frauen im Jahre 1917" entnommen, der in der Zeitschrift „Rabotniza" (Die Arbeiterin), Nr. 31, November 1937, S. 12/13, veröffentlicht wurde. Nach „Ich habe viele Leben gelebt“. Berlin 1980, S. 348-353]

Eine große Sorge bedrückt mich: Meine geliebte Arbeit unter den Frauen kommt zu kurz, steht hintenan. Ich muss mich um alles mögliche andere kümmern, so dass für die Arbeiterinnen und Soldatenfrauen kaum Zeit und Kraft bleibt.

Kurz nach Lenins Rückkehr ging ich einmal mit ihm und Nadeschda Konstantinowna zu Fuß von der Kirotschnaja zum Taurischen Palais. Ich erzählte ihm von meiner Arbeit unter den Soldatenfrauen. Sie würden zu Unrecht für „Vaterlandsverteidigerinnen" gehalten, wenn auch die liberalen „Vaterlandsverteidigerinnen" mit aller Macht versuchten, sie zu organisieren, einen eigenen Verband der Soldatenfrauen zu gründen und sie ins Schlepptau zu nehmen. Wir aber sähen tatenlos zu. Ich allein gäbe mich mit ihnen ab, sie selbst holten mich, damit ich zu ihnen spräche. Sie jammerten über die Teuerung. „Man soll uns unsere Männer aus den Schützengräben wiedergeben, wozu brauchen wir den Krieg?" Es gebe eine Menge Soldatenmütter, noch mehr Soldatenfrauen mit Kindern, da reiche die Lebensmittelzuteilung hinten und vorn nicht. Aber wie arbeiten gehen, wenn man nicht weiß, wohin mit den Kindern?

Lenin zeigte Interesse.

Selbstverständlich können und müssen wir die Soldatenfrauen gewinnen", gab er mir recht.

Nur muss man bei ihnen auf besondere Weise vorgehen, mit einer besonderen Zielsetzung", fügte ich hinzu.

Und wie?"

Da beklagte ich mich bitterlich, dass die Partei auf diesem Gebiet nichts unternehme. Man müsse in der Partei eine Kommission oder ein Büro für die Arbeit unter den Frauen bilden und das Problem der Preissteigerungen zur Sprache bringen.

Nadeschda Konstantinowna wandte ein, die Arbeit unter den Soldatenfrauen fließe in die allgemeine Parteiarbeit ein, so dass keine „besondere Organisation" vonnöten sei. Sie verwies auf den Misserfolg bei einem Versuch dieser Art während ihrer Emigration in Paris.

Was hat das mit einer ,besonderen Organisation' zu tun? Ich spreche von der Notwendigkeit, in der Partei ein verantwortliches Organ, ein Büro oder was immer Sie wollen mit dieser Arbeit zu betrauen, und meine damit keineswegs eine gesonderte Frauenorganisation."

Ich ereiferte mich, widersprach weniger Nadeschda Konstantinowna als vielmehr allen Genossen, die die Notwendigkeit einer solchen Arbeitsweise nicht begreifen wollten. Lenin, der meine Heftigkeit bemerkte, fragte mich:

Was schlagen Sie denn vor? Entwerfen Sie Pläne, holen Sie Genossinnen zusammen und besprechen Sie das, einstweilen aber arbeiten Sie mit den Soldatenfrauen ruhig ,auf eigene Faust', wie Sie es ausdrückten. Wenn sie auf Ihr Wort hören und dazu noch die ,Okopnaja Prawda' lesen, ist der erste Schritt bereits getan."

Gemeinsam mit den Arbeiterinnen Nikolajewa und Fjodorowa entwarf ich einen Arbeitsplan. (Dieser Plan enthielt ungefähr das gleiche Schema für die Organisierung der Arbeit unter den Frauen, wie es in der Folgezeit von der Partei angenommen wurde.) Wir holten uns Genossinnen zusammen, doch gar so einfach war die Angelegenheit nicht.

Nikolajewa und Fjodorowa waren natürlich für das Ganze. Ines Armand war nicht gegen, aber auch nicht für unser Projekt. Mir war es gleich – mochten sie ein neues ausarbeiten, wichtig war nicht die Abfassung, sondern der Inhalt. Lilina, Stal und Ines wurden ausgewählt, um eine Resolution für die geplante Frauenkonferenz1 auszuarbeiten. Am nächsten Morgen las mir Ines die von ihnen veränderte Fassung vor, wobei sie hinzufügte, dass sie damit nicht zufrieden gewesen, jedoch von den anderen überstimmt worden sei. Ich aber hörte zu und traute meinen Ohren kaum. Der Vorschlag war so abgefasst, dass er auf eine grundlose Missbilligung jedweder gesonderten Arbeit unter den Frauen hinauslief. Mein Vorschlag dagegen hatte ja gerade besagt, dass jede Parteiorganisation ein besonderes Büro für die Arbeit unter den Frauen haben und ein Mitglied der Parteiorganisation für diesen Bereich verantwortlich sein sollte.

Die Tätigkeit mit den Arbeiterinnen und den Soldatenfrauen ging indessen ihren Gang. Wenn ich auch bei meiner Initiative hinsichtlich der Organisation einen Misserfolg erlitten hatte, konnte ich doch auf diesem meinem Gebiet schon rein praktische Erfolge aufweisen. Und sei es nur der Streik der Arbeiterinnen in den Wäschereien, der erste Streik in der Republik gegen den menschewistischen Arbeitsminister Gwosdew …

Inmitten der großen Probleme und der angespannten Atmosphäre, die sich aus der verstärkten Offensive der Deutschen ergeben hatte, brachen in der bürgerlichen Republik Russland mit einem Mal Streiks aus. Es streikten die Wäscherinnen, die Bäcker, die kleinen Handelsangestellten.

Die Partei hat mich beauftragt, die Bewegung der Wäscherinnen in die Hand zu nehmen. Die Wäscherinnen, das heißt die Arbeiterinnen der privaten Waschanstalten, kämpfen standhaft; sie fordern höhere Tarife, die Normierung des Arbeitstages und die Munizipalisierung der Wäschereien. Obwohl es sich um eine „rückständige Schicht" des Proletariats handelt, wird organisiert und standhaft gekämpft. Die Führung liegt in den Händen einer prächtigen Genossin, der Bolschewikin Sacharowa. In allen Teilen der Stadt finden Kundgebungen statt, die erschreckenden Arbeitsbedingungen werden an den Tag gebracht. Geschwollene Beine, Rheumatismus, Invalidität in der Blüte der Jahre und ein jämmerlicher Hungerlohn.

Doch neben den Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und der Munizipalisierung der Wäschereien (diese Forderung missfällt dem Herrn Arbeitsminister Gwosdew ganz besonders) werden auf den Meetings der Wäscherinnen auch bolschewistische Resolutionen zum Krieg, zu den Sowjets und zu den verräterischen Paktierern angenommen.

Diese Kundgebungen der streikenden Arbeiterinnen aus den Wäschereien sind für mich eine richtige Erholung.

Wladimir Iljitsch rät mir: „Sehen Sie zu, dass Sie die kleinbürgerlichen Elemente von den Arbeiterinnen und den Proletarierfrauen absondern, und stützen Sie sich auf diese. Ihnen werden dann auch die übrigen folgen."

Ja, Lenin hat recht. Die Frauen, besonders die Fabrikarbeiterinnen, hassen das imperialistische Gemetzel. Es bilden sich zwei Lager heraus – auf der einen Seite die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, die für die „Vaterlandsverteidigung" eintreten und auf der Seite der bürgerlichen Provisorischen Regierung stehen, die dafür sind, den Krieg bis zum Sieg der Entente fortzusetzen, die Porträts von Kerenski kaufen und dessen Gemahlin Blumen schicken; auf der anderen Seite die breiten Massen der Arbeiterinnen und Soldatenfrauen, die für die Sowjets, für die Bolschewiki sind …

Ab Mai erschien die Zeitschrift „Rabotniza"2 wieder. Der Redaktion gehörten Samoilowa, A. I. Jelisarowa, Kudelli, Welitschkina (Bontsch-Brujewitsch), Lilina, Stal, Nikolajewa und ich an. Die Zeitschrift bildete ein natürliches Zentrum, um das sich die Kräfte der Arbeiterinnen gruppierten. Genossin Samoilowa war der Ansicht, dass wir auf diese Weise praktisch spezielle Arbeit unter den Frauen leisteten, da dies doch so notwendig war. In einem besonderen Apparat sahen viele eine „frauenrechtlerische Abweichung".

Damals im Mai brachten wir im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Teuerung auch einen Aufruf an die Arbeiterinnen heraus, den ich ausgearbeitet hatte.3

Uns kam der Gedanke, Arbeiterinnenkundgebungen und -demonstrationen im Zeichen des Internationalismus zu organisieren, mit denen wir gegen den Krieg protestieren wollten und an denen auch ausländische Genossinnen teilnehmen sollten. Diese Idee mussten wir verteidigen, denn viele hielten sie für unzeitgemäß. Das war Anfang Juni, als der offizielle „Patriotismus" seinen Höhepunkt erreicht hatte und Kerenski zur Offensive blies, als Kriegsversehrte den Newski-Prospekt entlangzogen und dabei ein Bild von Alexander Fjodorowitsch Kerenski wie eine Ikone mit sich führten. Am 11. Juni fand eine von der „Rabotniza" veranstaltete Kundgebung statt.4 Ihr Erfolg übertraf alle Erwartungen. Der Zirkus Ciniselli konnte die vielen Tausend Menschen nicht fassen, so dass zwei zusätzliche Meetings auf dem Platz und im Garten des Zirkus durchgeführt werden mussten.

Im Grunde war dies die praktische Verwirklichung des von uns vorgeschlagenen Arbeitsplanes.

Endlich hat der Gewerkschaftskongress5 eine Resolution zu meinem Referat über den Schutz und die Normierung der Frauenarbeit sowie die Fürsorge bei Mutterschaft angenommen. Als Grundlage hatte ich die Thesen aus dem Buch „Gesellschaft und Mutterschaft" genommen.

All das sind Marksteine für die künftige Arbeit der Partei unter den werktätigen Frauen – sie in die Politik einbeziehen, ihr Selbstbewusstsein stärken, aber auch an die Partei und in Zukunft an die Sowjetmacht die Fragen herantragen, die die spezifischen Belange der Frauen betreffen …

Wie sieht nun die Bilanz dieser Monate aus? Welche Perspektiven ergeben sich für die Revolution?

Die Differenzierung nimmt zu. Der Prozess, den wir bereits im Ausland vorausgesehen haben, zeichnet sich immer deutlicher ab. Die „Einheits"front der Revolution, wie wir sie in den Märztagen beobachten konnten, fällt zwangsläufig auseinander. Der Hass der Kadetten und sonstiger Konterrevolutionäre gegen die Bolschewiki wächst, doch zugleich fassen Lenins Thesen im Bewusstsein der Arbeiter, Soldaten und Matrosen immer fester Fuß. In ganz Russland finden unsere Aufgaben ein Echo. Unsere Stütze sind die Arbeiter, zum Teil auch die Soldaten. Die Matrosen sind voller Entschlossenheit, voller Kraft und drängen ungestüm zum Kampf. Aber sind sie Sozialisten? Werden sie und die Soldaten auch weiter mit uns gehen, über den Kampf für die Macht hinaus? Werden sie unsere Aufgaben, bei denen es um den Aufbau der neuen Gesellschaft geht, begreifen? Werden sie sich der Partei unterordnen?

Übrigens hat Lenin da völlig recht. Wichtig, ja das Wichtigste ist jetzt ein Ruck der gesamten werktätigen Masse. Jede Schicht, jede soziale Gruppe verfolgt ihre eigenen Ziele, aber all das führt zur gemeinsamen und vorrangigen Aufgabe – zur Übernahme der Macht durch das Volk. Es geht nicht nur um uns, um die Bolschewiki – wir sind die führende Kraft. Worauf es ankommt, ist, dass die Vertreter aller Arten von Arbeit, die organisch mit der Produktion in Stadt und Land verbunden sind, das heißt der Arbeiter und der in der Armee dienende Bauer, zu Herren des Landes werden. Darin liegt die Macht der bolschewistischen Linie. Wir sind nicht nur einfach eine Partei, wir bringen den Willen der Werktätigen zum Ausdruck. Unsere Linie ist eindeutig klassengebunden, unsere Taktik die Massenaktion. Wir sind die Sachwalter der revolutionären Lehre von Marx. Darin liegt unsere Stärke.

1 Es handelt sich um die Vorbereitung der I. Petrograder Arbeiterinnenkonferenz, die auf Initiative des Zentralkomitees der SDAPR(B) einberufen wurde. Die Konferenz sollte Ende Oktober 1917 stattfinden. Die Ereignisse der Oktoberrevolution bewirkten, dass sich der Termin etwas verschob. Sie fand vom 12. bis 15. (25.-28.) November statt. Auf der Konferenz wurden Fragen der Konstituierenden Versammlung, die Tätigkeit der städtischen Selbstverwaltung, die Aufgaben der Arbeiterinnen und die Lage in der Provinz erörtert.

2 „Rabotniza" (Die Arbeiterin) – legale Frauenzeitschrift, Organ des Zentralkomitees der SDAPR(B). Sie wurde in Petrograd mit finanziellen Mitteln, die Arbeiterinnen gesammelt hatten, von Februar bis Juni 1914 und von Mai 1917 bis Januar 1918 herausgegeben. Insgesamt erschienen 25 Nummern.

3 Gemeint ist das von Alexandra Kollontai verfasste Flugblatt „Teuerung und Krieg", das nach der Februarrevolution von der Zeitschrift „Rabotniza", dem Organ des Zentralkomitees der SDAPR(B), herausgegeben wurde.

4 Im Manuskript stand irrtümlicherweise das Datum „10. Juni". Die von der Redaktion des Organs des Zentralkomitees der SDAPR(B) „Rabotniza" organisierte Kundgebung fand am 11. (24.) Juni 1917 statt und stand im Zeichen des Protestes gegen Krieg und Teuerung. Namhafte Bolschewiki, wie A. Kollontai, P. Kudelli, K. Nikolajewa, K. Samoilowa, L. Stal und andere, sprachen dort vor 10 000 Zuhörern.

5 Gemeint ist die Gesamtrussische Konferenz der Gewerkschaften, die vom 21. bis 28. Juni (4.-11. Juli) 1917 stattfand. Es war die erste Konferenz, auf der die russischen Gewerkschaften legal auf Landesebene zusammenkamen. Alexandra Kollontai hielt ein Referat zum Schutz der Frauenarbeit und zur Einbeziehung der Arbeiterinnen in die Gewerkschaftsbewegung. Die Konferenz nahm die von ihr im Namen der Partei vorgeschlagenen Thesen und Resolutionen an.

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